Ausländer in Deutschland 4/2003, 19.Jg., 31. Dezember 2003

BULGARIEN


Das heimliche Auswanderungs-
land

"Brain drain" aus Bulgarien


Bulgarin bei WM-Feier 2002 in Berlin

Auf der 10. Jubiläumsfeier des Gymnasialjahrgangs stellte sich heraus, dass ein Viertel der ehemaligen Mitschüler meines deutschsprachigen Gymnasiums in Sofia im Ausland lebt. Einige waren bis nach Japan und China gekommen, etliche fanden sich in Deutschland wieder. Das war 1995.

Seitdem sind nach Studium oder verschiedenen Gelegenheitsjobs einige zurückgekehrt und haben Firmen gegründet. Die meisten haben sich endgültig im Ausland niederlassen, haben dort geheiratet, Wohnungen gekauft, Stellen gefunden oder sich selbständig gemacht. Unsere zwei besten Mathematiker arbeiten im Silicon Valley. Praktisch, dass es die elektronische Post gibt: Vor jeder Heimreise kann man eine Rundmail an die Bekannten schicken und klären, wer sich zur selben Zeit dort aufhält.

Etwa 40.000 Bulgaren leben zurzeit in Deutschland: Ein Klacks im Vergleich zu anderen Minderheiten, aber eine Menge im Verhältnis zu den rund 8 Mio. Bulgaren insgesamt. Als ethnische Gruppe sind sie wenig präsent, ausgenommen vielleicht Fußballspieler wie Krassimir Balakov. Aber wer weiß schon, dass er tagtäglich das Werk einer Bulgarin aus dem Portemonnaie kramt? Der Adler auf den Euro-Münzen wurde von der Grafikerin Sneschana Russewa-Hoyer aus Berlin gestaltet.

Seit Ende der 80er Jahre ist die Bevölkerung des Balkanlandes um fast eine Million geschrumpft: teils wegen der Auswanderung, teils wegen der niedrigsten in ganz Europa Geburtenrate. Es ist ein Rekord an Bevölkerungsverlust in Friedenszeiten. Es fing mit den rund 300.000 ethnischen Türken an, die ihre Heimat verließen, weil die damalige kommunistische Regierung sie "zwangsbulgarisieren" wollte. Diese Auswanderungswelle wurde im Volksmund ironisch "der Große Ausflug" genannt, weil jene angeblich nur als Touristen die Türkei besuchen wollten. Von ihnen sind etwa ein Drittel nach der Wende zurückgekehrt. Eine weitere große Welle folgte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als die Bulgaren ihre Reisefreiheit wiedererlangten. Hatte die frühe Migration noch einen ethnischen und politischen Charakter, so wurde sie später zunehmend ökonomisch und sozial bedingt, schreibt das Nationale Statistikinstitut (NSI) in Sofia in einer Auswertung des bulgarischen Mikrozensus 2001. Die Wirtschaftsreformen, von der EU und dem IWF als erfolgreich gelobt, haben den Lebensstandard bisher nicht angehoben. Bulgarien hat das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen unter den EU-Beitrittskandidaten.

8 % der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 60 Jahren gibt im Mikrozensus an, an Auswanderung zu denken. Noch so viele beabsichtigen, für mehr als ein Jahr ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten oder zu studieren. Diese zweite Gruppe plant keine dauerhafte Auswanderung. Ob sie nicht dennoch auf Dauer bleibt, steht in den Sternen. Als Gründe für ihre Entscheidung nennen die potentiellen Auswanderer und Arbeitsmigranten den westlichen Wohlstand und die kurzfristige Lösung ihrer materiellen Probleme. Sehr verbreitet ist der Optimismus, dass sie dort ihre Ziele tatsächlich erreichen werden. Die Auswanderungswilligen sind am häufigsten unter den 20- bis 39jährigen anzutreffen.

Schon früh war es für Bulgaren selbstverständlich, Arbeit und Lebensglück fern der Heimat zu suchen. Im 18. oder 19. Jahrhundert waren ganze Dörfer und Kleinstädte den Großteil des Jahres nur von Frauen, Kindern und Greisen bewohnt. Die arbeitsfähigen Männer waren als Handwerker oder Gärtner in prosperierenderen Nachbarländern unterwegs. Anfang des 20. Jahrhunderts ging die Reise in den Übersee: Viele haben heute Großonkel und -tanten oder entfernte Cousins in den USA. Heute orientiert sich der größte Teil laut NSI nach Deutschland, dort wollen sich 23 % niederlassen, und 25 % suchen Arbeit auf Zeit. Der Rest wählt die USA, Griechenland, Großbritannien und Kanada. Die Bulgaren legen traditionell viel Wert auf eine gute Bildung, die auch eine oder zwei Fremdsprachen einschließt.

Alexander Margaritoff leitet mit Hawesko Europas größten Weinhandel. Der in Hamburg geborene Sohn bulgarischer Abstammung stieg 1981 in den Betrieb des Vaters ein. Während der Betrieb damals 10 Mio DM Umsatz machte, gelang Margaritoff eine Steigerung auf heute 270 Mio Euro. Neben dem in Tornesch bei Hamburg angesiedelten Versandhandel betreibt er unter dem Namen "Jacques' Wein Depot" 250 Filialen im Einzelhandel und versorgt als "Wein-Wolf" im Großhandel Fachhändler und Gastronomen. In allen drei Bereichen ist der Händler vor allem hochwertiger Weine Marktführer in Deutschland. Die Gruppe beschäftigt rund 550 Mitarbeiter. (esf)

Dieser "Brain drain" wirkt sich vor allem auf Wissenschaft und Forschung verheerend aus: An den Universitäten fehlt die mittlere Generation der Doktoranden, Assistenten, jüngeren Professoren. Das Auswandern der jungen Leute ist auch für die demografische Katastrophe verantwortlich. Andererseits entlastet es den Arbeitsmarkt, da infolge der Privatisierung oder Schließung der staatlichen Betriebe viele Arbeitsplätze abgebaut wurden. Gegenwärtig beträgt die offizielle Arbeitslosenquote 18 %. Für die Daheimgebliebenen und die Rückkehrer besonders aus der jüngeren Generation eröffneten sich, soweit sie qualifiziert und flexibel waren, die Chancen für steile Karrieren, als die alten Hierarchien nach der Wende aufgebrochen wurden.

Die wechselnden Regierungen gaben und geben sich wenig Mühe, das Migranten-Potential zu nutzen, um wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen oder das Image des Balkanlandes aufzupolieren. Einen Versuch, die Auslandsbulgaren für seine Politik einzuspannen, hatte der frühere Minister-Präsident Iwan Kostov gemacht. Er lud vor ein paar Jahren einige Auserwählte zu einem Oster-Treffen nach Sofia ein. Die Eingeladenen scharten sich stattdessen um den ehemaligen König im Exil Simeon Sachskoburggotski und verhalfen ihm und seiner Partei 2001 zu einem überwältigenden Wahlsieg. Zwei seiner Minister sind gerade mal Mitte 30 und hatten ihre Karriere in der Londoner City gemacht.


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

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Mit der ganzen Welt im Wettbewerb

Das Deutsch von Diana Tscherneva ist noch holprig, weil die Studentin an der Uni Magdeburg und dann im Praktikum bei Ford ausschließlich Englisch redet. Sie hat sich vor drei Jahren in einen der ersten englischsprachigen Studiengänge für das Fach Internationale Wirtschaftsbeziehungen eingeschrieben. In ihrer Heimat Bulgarien hat sie eine Eliteschule absolviert, wo die meisten Fächer auf Englisch unterrichtet wurden. Deutschland, so rieten ihr die Eltern, ist der wichtigste Wirtschaftspartner, und seine Bedeutung kann eigentlich nur wachsen, wenn Bulgarien in ein paar Jahren EU-Mitglied wird.

Zwar gibt es hier noch keine Studiengebühren, aber das Leben ist für jemanden, der von Balkan kommt, teuer genug. Die Eltern helfen den beiden Töchtern in Deutschland, außerdem bekommt Diana Tscherneva ein kleines Stipendium von der Uni wegen Bestnoten und jobbt dreimal die Woche. Ihre Freunde studieren in England, Polen oder in den USA. Mit ihnen telefoniert sie täglich. Außer Mutter und Vater vermisst sie in der Heimat niemanden. Wenn alle Freunde weg sind, entsteht für die Daheimgebliebenen eine Art Zugzwang. Die junge Frau glaubt dennoch, dass die hohe Auswanderung gute Seiten hat. Ein Teil der Leute wird mit neuen Denkweisen, Arbeitsmethoden und Fremdsprachen gerüstet zurückkommen, Firmen gründen oder für internationale Unternehmen und Organisationen arbeiten. Für sie war der Aufenthalt in Deutschland die erste Gelegenheit, über die eigene Identität nachzudenken.

Bis zum Master-Abschluß will sie mindestens ein Auslandssemester in den USA oder in einem weiteren europäischen Land einlegen. Das ist eine jener vielbeschworenen mehrsprachigen, mobilen Spezialisten, um die sich die globalisierte Wirtschaft angeblich reißt. Trotzdem weiß sie, dass ihr als Bulgarin nicht alle Wege offen sind. Der freien Wahl setzen Visabestimmungen und Arbeitserlaubnisse Grenzen. Die Ungewißheit aushalten zu können, das Gefühl, mit der ganzen Welt im Wettbewerb zu stehen - das härtet ab und spornt an. Der Ehrgeiz hat sie weder verbissen noch humorlos gemacht. Aber so wie viele gleichaltrige Bulgaren ist Diana Tscherneva überzeugt: Nur die Besten haben eine Chance.


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

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Keine Klischees

Ein Gespräch mit Diana Karasch

Diana Karasch, früher Redakteurin bei der auflagestärksten bulgarischen Tageszeitung "Trud", lebt seit 1999 in Berlin und arbeitet beim Deutsch-Bulgarischen Forum.

AiD: Wie fühlst du dich als Osteuropäerin in Berlin?

Als Ausländerin lebt man gut in Berlin. Allerdings fühle ich mich hier eher Südländerin als Osteuropäerin. Ich fühle mich mentalitätsmäßig eher mit den Griechen, Türken und Italienern verwandt. Die gemeinsame sozialistische Vergangenheit der ehemaligen Ostblockländer lässt mich vom Gefühl her nicht unbedingt als Osteuropäerin da stehen.

Es gibt große russische und polnische Kolonien, aber wie ist es als Vertreterin eines kleinen Landes?

Es gibt viele Bulgaren, die seit Jahrzehnten hier leben. Die haben sich aber nicht in einer Gemeinschaft oder Kolonie zusammengetan. Es gibt die Bulgaren, die früher im Osten gearbeitet haben und nach der Wende hier geblieben sind. Es gibt auch die bulgarischen Emigranten aus Westdeutschland. Man macht genauso wie unter den Deutschen den Unterschied zwischen Wessis und Ossis. So eine kleine Gemeinschaft ist nicht wie beispielsweise die türkische. Unter den Türken gibt es Leute, die ihr ganzes Leben lang kein Wort Deutsch gesprochen haben, trotzdem überleben sie ganz gut in Berlin. Man muss auch sagen, die meisten Bulgaren, die nach Deutschland kommen, können bereits ganz gut Deutsch.

Was vermisst du?

Man gewöhnt sich mit der Zeit daran, einfach damit auszukommen, was da ist. Ja, bulgarische Zeitungen vermisse ich sehr. Man kann nicht alle im Internet lesen. Ab und zu, wenn Bekannte aus Bulgarien kommen, bringen sie ein paar alte Ausgaben mit. Was noch? Die Gemütlichkeit, in dem Sinne, dass man sich trifft, manchmal nur einfach miteinander quatscht bei einem Gläschen Wein oder Kaffee… Einfach so stundenlang sitzen und nichts tun, über etwas reden oder nachdenken, was in Bulgarien ziemlich typisch ist. Das wird als Zeitverschwendung von den meisten Deutschen aufgefasst.

Die Wende bedeutete den Zusammenbruch des vorgeplanten Lebens für die Osteuropäer. Irgendwie können wir dann auch nicht mehr im Winter den Sommerurlaub oder die Karriere für die nächsten 10 Jahre planen. Ich dachte, das ist normal. Das Leben ist in Bulgarien viel intensiver, da passiert viel Unerwartetes, viel Neues, worauf man sich gleich auch einstellen muss.

Wie kommt das?

Die neuen Bundesländer - die hatten ja Westdeutschland. Die hatten jemanden, der den Weg vorzeigt, Ratschläge oder auch finanzielle Mittel gibt. So etwas gab es in Bulgarien und in den anderen osteuropäischen Ländern nicht. So wurden die Osteuropäer gezwungen, flexibel zu sein und selber irgendwie über die Runden zu kommen.

Was halten die Deutschen deiner Meinung nach von den Osteuropäern hier? Gibt es bestimmte Bilder?

Eher in Westdeutschland oder in Westberlin. Von den russischen oder osteuropäischen schönen, braven, familienfreundlichen Frauen… Die Deutschen aus den neuen Bundesländern, glaube ich, haben eher eine Ahnung, wie die Osteuropäer sind. Eigentlich bin ich froh, dass es kein Klischee über die Bulgaren gibt.


Das Gespräch führte Matilda Jordanova-Duda

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Bulgaren in Berlin

 

In der Reihe "Miteinander leben in Berlin", in der der Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration in bislang 40 Heften verschiedene Zuwanderergruppen und ihre Bindungen an Berlin in Geschichte und Gegenwart vorstellt, ist mit "Bulgaren in Berlin" im Oktober 2003 eine neue Publikation erschienen. Die Autorin, Violeta Jörn, eine seit 30 Jahren in Berlin lebenden Dolmetscherin und Übersetzerin für Bulgarisch, beschreibt die ganze Vielfalt des bulgarischen Berlin. Berlins Bulgaren haben eine lange Geschichte in der Stadt. Viele zog es einst als Studenten in die Stadt, manche blieben auf Zeit, andere ließen sich nieder. Einige machten sich hier einen Namen, den man eng mit Berliner Geschichte und Kultur assoziiert. Erwähnt seien Christo und seine Frau Jeanne Claude, die 1995 den Reichstag verhüllten, oder der Ende der 1920er-Jahre in Berlin lebende Schriftsteller Elias Canetti oder auch die Comedian Harmonists. Ebenfalls beschrieben werden viele weitere Einzelpersonen, die auch in der Medizin, der Wissenschaft oder den Medien eigene Akzente setzen sowie viele Initiativen. Das 93-seitige Heft kostet 2 Euro. 

Dort ebenfalls noch erhältlich sind die früher erschienenen Hefte "Russen in Berlin" "Polen in Berlin" und "Ungarn in Berlin". (esf)

Bezug:
Beauftragter des Senats für Integration und Migration, Potsdamer Straße 65, 10785 Berlin, 
Tel.: 030/9017-2357 oder -2381, 
Fax: 030/2625407, Integrationsbeauftragter@
auslb.verwalt-berlin.de

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