Ausländer in Deutschland 4/2000, 16.Jg., 1. Dezember 2000

INTERVIEW

Heinz Seidel

Integration und Reintegration als Leidkultur


Heinz Seidel,
Leitender Verwaltungsdirektor bei der Bundesanstalt für Arbeit (BA), begann seine Karriere 1951 im Arbeitsamt Kiel. Ab 1963 war er in der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte tätig, zunächst fünf ein halb Jahre in Madrid und Lissabon. Ab 1968 übernahm er in Nürnberg die Fachaufsicht über alle Anwerbestellen. Seit 1988 leitet er Referat Ia5 der BA, das sogenannte Ausländerreferat. Zu seinen Aufgaben gehören die Entwicklung von Konzepten für die berufliche Integration und zum Abbau von Beschäftigungsproblemen der Ausländer in Deutschland; als Vorstandsmitglied Konzeptentwicklung beim Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer; im Bereich Reintegration: Mobilitätsberatung für potentielle Rückkehrer, Beteiligung an Reintegrationsprogrammen der Bundesministerien; Erteilung von Arbeitsgenehmigungen und zwischenstaatliche Arbeitsvermittlung; Verbindungen zu internationalen Organisationen wie EU-Kommission, OECD, Internationales Arbeitsamt (ILO) und anderen. Am 30.4.2001, nach genau 50 Jahren, ist Heinz Seidels letzter Arbeitstag bei der BA.

 


Türkische Broschüre "Wie geht man als Arbeiter nach Deutschland?" von 1963

AiD: Das Ausländerreferat der Bundesanstalt für Arbeit hat eine Fülle von Aufgaben im Bereich Zuwanderung, Integration und Reintegration. Brauchen wir eigentlich noch ein Einwanderungsgesetz?

Heinz Seidel: Aus meiner Sicht hätten wir dieses Einwanderungsgesetz schon spätestens 1973 haben müssen, bei der Verkündung des Anwerbestopps. Und zwar weniger um die Einwanderung selbst zu regeln - obwohl man auch da klare Bedingungen hätte setzen sollen, wer kann wie zuwandern, wer organisiert die Zuwanderung. Aber viel wichtiger wäre für mich die Regelung der Integration für Eingewanderte gewesen, also für die, die legal hier in der BRD zureisen und sich hier aufhalten können. Klare Bedingungen zu setzen: Wie geben wir ihnen die Chancen, sprachlich und beruflich sich einzugliedern. Und das haben wir im Grunde genommen seit 1973 bis heute versäumt.

Warum nennen Sie ausgerechnet das Jahr des Anwerbestopps?

1973 war für uns das Jahr eines absoluten Umbruchs. Wir haben zwischen 1956 und 1973 in einer äußerst aktiven Weise Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer betrieben. Rund ums Mittelmeer hatten wir ein Netz von Dienststellen: in Istanbul, Athen, Belgrad, in Verona und Rom, dann in Madrid, in Lissabon, und wir waren auch in Casablanca und Tunis vertreten. Das waren regelrechte Arbeitsämter, die im Bereich der Vermittlung auch wie Arbeitsämter funktionierten. Die haben äußerst erfolgreich gearbeitet: Wir haben dort die drängenden Angebote der deutschen Unternehmer aufgenommen und in diesen Jahren mehr als 2,5 Millionen Arbeitsvermittlungen nach Deutschland durchgeführt. Im November 1956 fingen wir in Italien an, und 1973 im November mit dem Anwerbestopp haben wir damit aufgehört.

Weil keine Arbeitskräfte mehr gebraucht wurden?

Begründet wurde der Anwerbestopp damals mit den Ölpressionen der OPEC Staaten. Aber im Grunde genommen ist er durch den Bundesarbeitsminister Ahrend als Signal benutzt worden, weil er sah, dass wir in überlasteten Siedlungsgebieten zu großen sozialen Problemen kommen.

Dieser Anwerbestopp hat das zuvor aktive Handeln der Bundesanstalt völlig umgedreht in ein dann leider passives Handeln. Übrigens hatten wir 1973 seitens der Bundesanstalt für Arbeit vorgeschlagen, die Dienststellen nicht vollständig aufzulösen, sondern Vertretungen, natürlich in kleinerem Umfang, dort zu belassen. Wir wollten sie dazu nutzen, Rückkehrern eine Chance zu geben, wieder in ihr Heimatland hineinzukommen. Das war also schon damals ein Vorschlag, eine moderne Mobilitätsberatung für Rückkehrer zu betreiben, wie wir sie heute verstehen. In diesen Ländern hätten wir zwar wenig Rechte bei der Arbeitsvermittlung gehabt, aber wir hätten entscheidende Hilfen und Beratung geben können, etwa soziale Rechte umzusetzen, wie sie die Arbeitskräfte in Deutschland erworben haben. Dieser Vorschlag der Bundesanstalt ist abgelehnt worden, weil das angeblich als ein Signal verstanden worden wäre, dass wir irgendwann wieder aktive Anwerbepolitik betreiben wollen. Was im Übrigen heute gerade geschieht, wo wieder von der Wirtschaft der Zugang neuer Arbeitskräfte gefordert wird.

Welche Folgen hatte der Anwerbestopp?

Vor allem ein riesiges politisches Missverständnis: Man sagte "Anwerbestopp", und viele glaubten, damit sei "Stopp mit den Ausländern in Deutschland" gemeint, also würden jetzt alle zurückkehren. Aber die Ausländer selbst haben das anders aufgefasst. Sie haben gesagt: "Wenn wir jetzt zurückkehren, dann haben wir keine Chancen mehr, irgendwann wiederzukommen. Also bleiben wir und holen auch die Familie hierher." Damit war der Versuch, keine weiteren Arbeitskräfte zu bekommen, genau ins Gegenteil verkehrt: Wir haben die Ehepartner und Kinder geholt, die dann hier reinwuchsen, also die potentiellen Arbeitskräfte der Zukunft. Damals haben wir entscheidend versäumt, die Leitlinien zu setzen für eine vernünftige sprachliche und berufliche Integration.

Wieso hat man nicht vorausgedacht?

Das hing schlicht und ergreifend damit zusammen, dass man sich in Deutschland politisch überhaupt nicht einig war, was nun mit den Zugewanderten geschehen soll. Wir haben uns zwischen 1973 und 1982/83 einen politischen Streit geleistet zu der Kernfrage: Integration oder administrative Steuerung der Rückkehr dieser Leute? Bayern, Schleswig-Holstein und einige andere Bundesländer waren die Protagonisten, die davon ausgingen, dass nach fünf Jahren Aufenthalt die Rückkehr der Ausländer notwendig wäre.

Dieser politische Streit ist letztlich erst durch die Erklärungen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn gelöst worden. 1982 hat er erstmalig die These verkündet: Die Ausländer, die legal gekommen sind, werden wir nicht administrativ zwangsweise zurückschicken können, also müssen wir sie integrieren.

Aber erst einmal wurde das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft verabschiedet.

Ja, entstanden ist es 1983, als eine Erfüllung der Regierungserklärung der damaligen Regierung. Wir haben finanzielle Angebote für freiwillige Rückkehrer gemacht: 10.000 DM, und es gab noch Zuschläge für Kinder, die mit zurückkehren sollten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB hat dazu eine umfangreiche Begleituntersuchung durchgeführt: Im Kern haben wir eher einen Mitnahmeeffekt finanziert; wir haben ohnehin zur Rückreise entschlossene Ausländer dazu animiert, nun zu gehen und dieses Geld mitzunehmen, um damit im Heimatland wieder Fuß zu fassen.

War das Gesetz denn ein politischer Schnellschuss?

Es war damals politisch attraktiv. Aber hätte man Rückkehr wirklich so massiv anreizen wollen durch Geld, dann wäre das so teuer gekommen, dass dieser Staat sich das gar nicht hätte leisten können. Von vornherein war klar, dass nur eine kleine Gruppe dafür in Frage kam, die statistisch gesehen auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt kaum eine Rolle spielte. Deswegen meine ich, das Gesetz ist eher aus einer politischen Verlegenheit heraus gemacht worden ist, um eben etwas zu tun.

Diese finanziellen Rückkehr-Anreize gab es nur ein Jahr lang. Hat man gemerkt, dass es sozusagen falsch läuft?

Man gab sich bis zum Schluss überzeugt, doch einiges in Gang gesetzt zu haben. Aber im Nachhinein betrachtet war das wohl eher der Versuch, politisch zu erklären, dass dieses Gesetz doch ein Erfolg gewesen sei. Das bezweifle ich aber nach wie vor. Wir haben zwar, wenn man so will, durchaus einige statistische Erfolge gehabt, in Anführungsstrichen. Wir haben aber auch sehr viel Leid mit diesem Gesetz verursacht. Ganze Familien sind geschlossen zurückgekehrt, ganz gleich ob nun die Kinder, die hier in Schule und Ausbildung waren, auch zurückkehren wollten. Oft ist sehr rigoros von der Familie durchgesetzt worden, "jetzt kehren wir zurück, weil wir das Geld haben wollen," und wir wissen von vielen Fällen, wo das zu schweren familiären Zerwürfnissen und Problemen geführt hat.

Was wurde denn aus der Erklärung, die legal Eingewanderten zu integrieren?

Damit hatten wir zwar ein Integrationsgebot, und es gibt seit dieser Zeit auch eine große Zahl von Bemühungen, Angebote zur Integration zu machen. Der Bundesarbeitsminister - man kann das in den Statistiken nachlesen - hat umfangreiche Maßnahmen zur Integration ergriffen. Auch der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer ist in dieser Zeit gestärkt worden. Aber es war kein politisches Konzept dahinter, nun wirklich wie in einem Baukastensystem Angebote zu machen, um sprachliche und berufliche Integration umfassend zu realisieren. Verbal ist das in Sonntagsreden von Politikern immer verkündet worden, ohne dass sie eine entscheidende Konzeptarbeit hätten umsetzen können. Das ist ein riesiger Fehler gewesen, von dem ich beinahe wieder vermute, dass er auch für die Zukunft wiederholt werden wird.

Derzeit soll wieder Zuwanderung im größeren Stil gestattet werden. Ein Einwanderungsgesetz ist in Arbeit. Macht man es jetzt besser als früher?

Das ist die große Frage, wir sind jetzt ja wieder in einem großen Umbruch. Nach dem Anwerbestopp 1973 haben wir eine sehr rigorose, restriktive Zuwanderungspolitik betrieben. Das drückt sich aus in der Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung: Nur wenn eine definierte Ausnahme gegeben ist, kann überhaupt eine Zulassung aus Drittstaaten erfolgen. Wir haben, weil das politischer Wille war, diese Verordnung bisher sehr restriktiv angewendet, und jetzt wird uns das ursprünglich politisch Gewollte zum Vorwurf gemacht, dass wir "unflexibel" auf Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarktes reagiert haben.

Jetzt also geht es darum, die neuen Forderungen umzusetzen. Die beziehen sich übrigens nicht nur auf IT-Fachkräfte, sondern das Handwerk will Handwerkskräfte, der Hotel- und Gaststättenverband will Hilfskräfte. Übrigens auch der Pflegebereich - obwohl wir zunehmend arbeitslose Krankenschwestern haben, und die Plätze in den Krankenpflege-Schulen durchaus nicht alle besetzt sind. Es wird gesagt, der gesamte Bereich der Fach- und Führungskräfte müsste geöffnet werden. Es gibt also einen bunten Strauß von Forderungen zur Öffnung des Arbeitsmarktes.

Auf der anderen Seite viel zu wenig daran gedacht, dass wir in Deutschland auch riesige Probleme mit der Anwesenheit von Ausländern haben. Bei ausländischen Jugendlichen, bei türkischen Jugendlichen zum Beispiel, geht der Anteil der zwischen 15 und 18-Jährigen an Ausbildung eher zurück, als dass er zunimmt. Insgesamt gesehen werden ausländische Jugendliche in Berufen ausgebildet, die nicht unbedingt Zukunftsperspektiven haben; da ist die Frage, ob wir denn überhaupt richtig ausbilden auf die Dauer. Es stellt sich doch auch die Frage, ob nicht Arbeitgeber, bevor sie jetzt die Hereinnahme neuer Ausländer verlangen, sich erst mal den Gruppen zuwenden sollen, die hier der Ausbildung und Weiterbildung bedürfen. Und davon haben wir eine ganze Menge.

Es heißt, das ginge nicht schnell genug.

Auch von Unternehmen muss man personalpolitische Überlegungen erwarten. Auch sie müssen genau wie andere planerisch tätig werden, um richtig zu reagieren. Zumal man bedenken muss, dass dabei ja durchaus auch Verluste eintreten. Denn damit ist zweifellos ein Braindrain verbunden - das wird auch von der EU-Kommission, der OECD gesehen: Attraktive Arbeitsbedingungen hier in Deutschland lösen den Zugang von hochqualifizierten Kräften aus, die auch im Heimatland zur Entwicklung gebraucht werden. Das muss dabei mit bedacht werden.

Aber was ich meine ist: Wir haben in Deutschland einen festen Block von fast 450.000 ausländischen Arbeitslosen, die Anteile von Langfrist-Arbeitslosigkeit nehmen zu. Über 80 % der arbeitslos gemeldeten ausländischen, insbesondere der türkischen Arbeitslosen haben keinen formellen Berufsabschluss, sind eher ungelernt. Von den Ausbildungsproblemen bei Jugendlichen habe ich schon gesprochen, und die Zahl jugendlicher Ausländer, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen, wird auch in den nächsten Jahren wesentlich steigen.

Der Zugang zum Arbeitsmarkt hat sich für Ausländer bei erheblicher Zunahme des Arbeitskräfteangebots in den letzten 15 Jahren wesentlich verschlechtert. Die Erwerbsbeteiligung der Ausländer und noch mehr der Anteil der Arbeitsplatzbesitzer sind schon fast dramatisch gesunken. Das drückt sich auch in der Zunahme der sogenannten stillen Reserve bei Ausländern aus, die vom IAB mit zwischen 800.000 und einer Million angenommen wird. Die ausländischen Beschäftigten sind vom Strukturwandel sehr viel stärker betroffen als die Deutschen. In der Produktion ist ihre Beschäftigung stark abgebaut worden. Im expandierenden Dienstleistungsbereich ist sie zwar auch bei den Ausländern deutlich gestiegen, allerdings muss man sagen, dass es dort Beschäftigungen gibt, die keine so großen Zukunftschancen haben. Man muss also sich schon genauer ansehen, welche Stellen im Dienstleistungsbereich durch Ausländer besetzt werden.

Diese und weitere Befunde haben wir veröffentlicht, sie sind alarmierend. Ich meine, bevor wir jetzt wirklich den Wünschen der Wirtschaft in breitem Umfang nachgeben, sollten wir erst mal unser Haus hier in Deutschland in Ordnung bringen und denen, die hier sind, reale Chancen geben.

Was halten Sie von der "Leitkultur"-Diskussion?

Das ist eine unsinnige Diskussion, die wir uns da leisten. Ich meine, dass wir gerade in den letzten Jahrzehnten eher von einer Leidkultur, mit "d", sprechen müssen. Denn für die, die Integrationsarbeit leisten wollten, war es eher oft ein Leid, ein ständiger Kampf um öffentliche Unterstützung und finanzielle Mittel, die notwendige Ausländerarbeit zu betreiben. Viele Politiker hätten durchaus früher aufwachen müssen.

Von dem ehemaligen Rückkehrhilfegesetz gilt heute noch § 7, der ausländischen Arbeitnehmern das Recht auf Beratung in Bezug auf eventuelle Rückkehr garantiert. Ist Hilfe zur Reintegration noch zeitgemäß?

Durchaus. Zunächst einmal haben wir innergemeinschaftlich eine klare Aufgabe, Wanderung in der Europäischen Gemeinschaft zu unterstützen. Auch bei einer globalen Arbeitswelt haben wir bei Zuwanderungen immer auch Rückwanderungen, und diese Rückwandernden bedürfen bestimmter Hilfen. Das heißt, gleich wie die ausländerpolitischen Entscheidungen der Zukunft sein werden: Wenn wir Zuwanderung gestatten, müssen wir auch denjenigen, die nach bestimmten Zeiten wieder rückwandern wollen in die Heimat, beraterische und auch finanzielle Hilfen anbieten, um eine Reintegration zu unterstützen. Ich sehe diese Beratung und Information weiterhin als ein ganz, ganz wichtiges Feld an.

Sie begleiten seit fast 40 Jahren die Prozesse der Zuwanderung und Rückwanderung. Werden denn Experten wie Sie heute nach ihren Erfahrungen gefragt?

Gefragt werde ich eigentlich nur: Wie war es denn früher? Das sind aber meistens historische Themen, die heute keinen Belang haben.

Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte: Marie-Luise Gries, isoplan

Informationen für Rückkehr-Interessierte finden Sie in der Datenbank M und I: www.isoplan.de/mi 

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