Ausländer in Deutschland 2/2002, 18.Jg., 30. Juni 2002

EUROPA

Tür auf, Tür zu

Die schwierige Harmonisierung europäischer Migrationspolitiken


Miteinander ohne "Harmonisierungs"-Problem - bei der Love Parade funktioniert's.

Europa wächst zusammen: Freizügigkeit erleichtert Wanderungsbewegungen von Land zu Land - für BürgerInnen der EU-Staaten, Norwegens, Islands und Liechtensteins [1]. In der Praxis der verschiedenen Länder gibt es gewisse Unterschiede [2]. Vergleichsweise meilenweit entfernt aber ist Europa von einer einheitlichen Politik und Gesetzgebung in Bezug auf MigrantInnen aus sogenannten Drittstaaten. Im Vertrag von Amsterdam wurde die europäische Harmonisierung dieses Politikbereichs zur vorrangigen Aufgabe erklärt - ein schwierigeres Vorhaben, zumal man sich bereits innerhalb der Einzelstaaten mit einem Konsens über Zuwanderung schwer tut. So unterschiedlich die Geschichte der europäischen Länder ist, so sind auch die Auffassungen über angemessene Regelungen im Umgang mit MigrantInnen. Und es ist kaum möglich, einer übergreifenden Logik auf die Spur zu kommen, die einer gemeinsamen Politik zugrunde gelegt werden könnte.

Die Wanderungen des vergangenen Jahrhunderts spielten sich überwiegend innerhalb Europas ab: von wirtschaftlichen Peripherien in die Zentren bzw. zwischen Ländern mit unterschiedlicher Nachfrage nach Arbeitskraft. Nach dem zweiten Weltkrieg, vor allem aber in den späten 50er und den 60erJahren überwog in der Mehrzahl der westeuropäischen Länder die Einwanderung, meist durch Anwerbung [3]. Auch der Anwerbestopp 1973/1974 setzte nur eine kurze Zäsur: Nach kurzem Rückgang der Zuwanderung in diesen Ländern setzte sie verstärkt wieder ein, ermöglicht durch Familienzusammenführungen, später dann aufgrund von Flüchtlingsbewegungen. Die südeuropäischen Länder Italien, Spanien, Portugal und Griechenland dagegen waren bis zum Anwerbestopp 1973/74 überwiegend Auswanderungsländer - erst danach sorgten Rückwanderungen für Phasen mit einem positiven Wanderungssaldo, in Portugal verstärkt durch Rückkehrer aus 1974 unabhängig gewordenen Überseegebieten, in Spanien aus Südamerika, in Griechenland durch ethnische Griechen aus Osteuropa. In den 90er Jahren kamen Hunderttausende oft irreguläre Wanderer aus Albanien, dem Maghreb und Westafrika in diese vier Länder. Insgesamt aber wanderten dort zwischen 1950 und 2000 2,3 Millionen mehr Menschen weg als zu.

Heutige Ausländerquoten sagen wenig aus über politische oder rechtliche Offenheit eines Landes gegenüber Zuwanderern. Noch weniger sind sie geeignet, den Anteil von Personen mit Migrationshintergrund zu beschreiben. So verzeichneten ehemalige Kolonialländer schon in der ersten, vor allem aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beträchtliche Zuwanderung aus ehemaligen Kolonien: ehemalige Siedler, Beamte und Soldaten, gefolgt von Menschen mit "fremdem" ethnischem Hintergrund kamen in die Mutterländer - als deren Staatsbürger. Spektakulär für Frankreich war das Jahr 1963, als etwa eine Million Algerienfranzosen repatriiert wurden. Bis 1972, so eine Schätzung, soll ein Viertel der BewohnerInnen der "Départements" nach Frankreich zugewandert sein. Bis heute können BewohnerInnen ehemaliger Kolonien "Wiedereinsetzung" der französischen Staatsbürgerschaft beantragen. Ähnliches gilt für die Niederlande: Von 1960 bis 1996 kamen im Durchschnitt 65.000 ZuwanderInnen pro Jahr aus den früheren niederländischen Gebieten, vor allem aus Indonesien und Surinam. Bis heute immigrieren jährlich 3-7.000 Personen von den Niederländischen Antillen. Die Surinamesen waren bis 1974 "automatisch" NiederländerInnen; inzwischen lebt eine größere Zahl von ihnen in den Niederlanden als im Herkunftsland.

Formal ähnlich privilegierte Voraussetzungen der Zuwanderung bzw. Staatszugehörigkeit gelten im übrigen auch für die nach Deutschland zuwandernden AussiedlerInnen; im Jahr 2000 lebten insgesamt etwa 3,2 Millionen in Deutschland.

Auch die heutigen Praktiken der Einbürgerung entscheiden wesentlich über die Ausländerquote. Restriktive Einbürgerung - nicht etwa "Weltoffenheit" - geht rechnerisch mit mehr "Ausländern" einher. Die der EU assoziierte Schweiz sowie Österreich und Deutschland setzen lange Aufenthaltsfristen voraus, wobei die Schweiz sich im europäischen Vergleich am längsten Zeit lässt: 12 Jahre Wohnaufenthalt [4] (plus Prüfung von Sprach- und Landeskenntnissen). In den Niederlanden und Frankreich ist heute Einbürgerung nach fünf Jahren möglich. Im EU-Durchschnitt stieg in den 90er Jahren die jährliche Einbürgerungsquote von 2,0 (1990) auf 5,0 % (2000). Deutschland (2,5%) gehört mit der Schweiz (2,0%) zu den Ländern am unteren Ende der Skala. Der EU-Durchschnitt im Jahr 2000 lag bei 5 %.

Die Ausländerquote wird des weiteren dadurch bestimmt, welche Staatsangehörigkeit die jeweils im Land geborenen Kinder ausländischer Eltern erhalten. In Irland sind sie ab Geburt rechtlich Einheimische, eingeschränkt bzw. teilweise gilt dies auch in den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien und Deutschland.

Die Kombination aus privilegierter Zuwanderung aus ehemaligen Kolonien und liberaler Einbürgerungspolitik lässt MigrantInnen aus der Ausländerstatistik quasi verschwinden. Heute sind circa 17 % der Bevölkerung in den Niederlanden entweder im Ausland geboren oder haben mindestens einen ausländischen Elternteil. Rechtlich "Ausländer" sind dagegen nur fünf Prozent der BewohnerInnen [5]. In der Schweiz dagegen zählt man knapp 20 % "Ausländer"; dabei ist fast ein Viertel von ihnen im Land geboren, und weitere 40 % leben seit mindestens 8 Jahren dort.

Zwar besteht nicht nur in Deutschland, sondern generell seit den 90-er Jahren eine Tendenz zum erleichterten Erwerb der Staatsangehörigkeit. Doch dahinter stehenden Einstellungen zur Einbürgerung sind meilenweit voneinander entfernt. In einigen Ländern sieht man Einbürgerung als Belohnung bzw. Feststellung einer bereits erfolgte Integration, in anderen als gute Voraussetzung und Anreiz, sich darum zu bemühen.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch im Bereich der illegalen bzw. irregulären Einwanderung. Die jüngeren Einwanderungsländer Italien, Spanien sowie (teilweise) Portugal und Griechenland haben in der Vergangenheit mehrfach irreguläre ZuwanderInnen legalisiert - unter anderem, weil sie deren billige Arbeitskraft nutzen können. Und auch Frankreich kennt solche Legalisierungen, wenngleich eher humanitär begründet. Politik kann weitaus wirkungsvoller agieren, wenn ihre Zielgruppe aus der Grauzone geholt wird. Zudem wird damit eine Reihe von Verstößen gegen das Ausländerrecht wegfallen. Jedenfalls sind Restriktionen oder Zurücksenden nicht die einzige oder zwangsläufige Reaktionsmöglichkeit. - Auffassungen, die die Länder keineswegs teilen. Am 15. November 2001 hat die EU-Kommission - eher abweisend - "sechs Bereiche bestimmt, in denen Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung der illegalen Einwanderung getroffen werden können, nämlich Visumpolitik, Infrastrukturen für Informationsaustausch, Zusammenarbeit und Koordinierung, Handhabung der Grenzkontrollen, polizeiliche Zusammenarbeit, Ausländerrecht und Strafrecht sowie Rückkehr- und Rückübernahmepolitik." Der Europäische Gipfel von Sevilla hat soeben bestätigt, wie verschieden die Auffassungen und Zielrichtungen sind.

Einfacher erschien in der Vergangenheit eine Harmonisierung der gesetzlichen Altersgrenzen für den Nachzug von Migrantenkindern aus Drittstaaten. Die obere Grenze könnte bei 18 Jahren liegen, da dies in der Mehrzahl der europäischen Länder geltendes Gesetz ist. Allerdings will Deutschland, wie im Entwurf des Zuwanderungsgesetzes vorgesehen, die Altersgrenze von 16 auf 12 Jahre senken, wenn die Jugendlichen später einreisen wollen als ihre Familie. Inzwischen ist auch aus den als insgesamt liberal geltenden Niederlanden zu vernehmen, man denke über eine Absenkung des Zuzugsalters nach. Wie schwierig die Harmonisierung in diesem Punkt ist, zeigt der seit zwei Jahren diskutierte Richtlinienentwurf der EU-Kommission zum Familiennachzug, der sich im übrigen auch auf weitere Familienmitglieder bezieht. Er weicht von einer zunächst vorgesehenen liberalen Altersgrenze für Kinder ab und lässt den Einzelstaaten Raum für individuelle, auch restriktivere Regelungen.

Gemeinsam ist den meisten europäischen Staaten der Bedarf an Zuwanderern in Bereichen, in denen der "einheimische" Arbeitskräfteangebot als unzureichend angesehen wird. Neben rein saisonbedingten Engpässen gibt es vielfach Bedarf an Fachkräften im Pflege- und Gesundheitsbereich bzw. - zumindest in Deutschland stärker in der öffentlichen Diskussion - an ExpertInnen der neuen Technologien, vor allem im IT-Bereich (Information, Kommunikation). Hier stehen die Länder in einem globalen "Wettbewerb um die besten Köpfe". Der Bericht der Zuwanderungskommission führt dazu aus, dass beispielsweise schon jetzt in Deutschland, Frankreich, England und den Niederlanden die größeren Betriebe zu 40 % ausländische Hochschul-AbsolventInnen beschäftigen, die ihren Hochschulabschluss schon bei der Zuwanderung mitgebracht haben. Die EU-Verbindungsbüros für Forschung und Technologie (IRCs) sind bei der Vermittlung innerhalb Europas beteiligt, etwa aus der "IT-Schmiede" Bulgarien nach Griechenland, wo es wenig computererfahrene Spitzenkräfte gibt. Ähnlich wie in Deutschland vorgesehen hat Großbritannien ein Punktesystem zur bevorzugten Zulassung solcher Spitzenkräfte aus Drittländern eingeführt.

Bei vielen Fragestellungen befürchten Migrationsfachkräfte heute, europäische Harmonisierung der Migrantenpolitik laufe auf eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus. Doch schon mittelfristig könnte das wachsende Tauziehen um bestimmte, erwünschte Zuwanderergruppen könnte stattdessen auch in einen Wettbewerb darum münden, die Attraktivität anderer Länder durch günstigere Zuwanderungs- und Integrationsbedingungen zu überrunden. Eine Hoffnung zumindest im Hinblick auf Bekämpfung von Rassismus, Antidiskriminierungsgesetze und -praxis, wobei auch diese Politikbereiche von der EU für vorrangig erklärt worden sind.

Auf einem globalen Arbeitsmarkt dürfte ein positives Klima für MigrantInnen mehr und mehr zum "Standortvorteil" werden - nicht nur für einzelne Länder, sondern im internationalen Vergleich auch für ein harmonisiertes Europa insgesamt.


[1] Diese Staaten sind Unterzeichner des Europäisches Freihandelsabkommens EFTA; sie bilden zusammen den Europäischen Wirtschaftsraum EWR.

[2] Nach dreimonatigem Aufenthalt kann eine Aufenthaltshaltgenehmigung erforderlich werden. Meist wird dann auch Unabhängigkeit von Sozialleistungen geprüft. Arbeitsmöglichkeiten in "hoheitlichen" Bereichen (Staatsdienst) sind unterschiedlich geregelt. In Liechtenstein ist Arbeitsaufnahme auch für EU-BürgerInnen eingeschränkt.

[3] Abweichend vom allgemeinen Trend war Frankreich schon im 19. Jahrhundert Einwanderungsland; die Schweiz und Belgien warben früh im 20. Jahrhundert um ausländische Arbeitskräfte.

[4] Bei Ehepartnern und Kindern sind die Zeiten kürzer.

[5] Ein weiterer Faktor, der ausländische Bevölkerung dem Anschein nach anwachsen lässt, ist der Rückgang der einheimischen StaatbürgerInnen durch niedrige Geburtenraten. Schon rein rechnerisch werden dadurch AusländerInnen zahlreicher, da sich die Prozentwerte verschieben.

Autorin: Marie-Luise Gries, isoplan

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