Ausländer in Deutschland 2/2003, 19.Jg., 25. Juli 2003

EDITORIAL

und ein anschließender Kommentar zum Zuwanderungsgesetz von Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun


Liebe Leserin, lieber Leser,

"Die Zukunft in deutschen Städten und Gemeinden wird multiethnisch und interkulturell sein. Es ist eine Frage politischer Führungskraft und gesellschaftlichen Gestaltungswillens, ob dieser Zustand ein friedlicher und bereichernder sein wird, oder ob heutige Versäumnisse uns in absehbarer Zukunft schwer zu bewältigende Probleme aufbürden werden." So lautet das Resümee eines Artikels zum Thema "Interkulturelle Stadtpolitik", der mir in diesen Tagen mit der Anmerkung "lesenswert" auf den Tisch kam. Obwohl ich der Feststellung im ersten Teil des Zitats natürlich vorbehaltlos zustimmte (wie könnte man anders, außer die Augen vor der Realität zu verschließen), machte mich der zweite Teil doch eher nachdenklich. Gibt es da wirklich die Alternative "bereichernd" oder "schwere Probleme"? Haben wir die Probleme, vor denen da gewarnt wird, nicht schon längst und, wenn ich das Bild des Hauses sehe, das einmal eine türkische Familie in Solingen bewohnte und das "AiD" vor zehn Jahren anstelle eines Editorials abdruckte, weil es uns die Sprache verschlagen hatte, haben wir diese Probleme nicht schon seit langem?

Ist die Frage nicht eher, wie wir noch korrigieren können, was seit Jahren marginalisiert, verdrängt, im besten Fall halbherzig angegangen wurde? Aber eben auch umgekehrt: Haben wir nicht schon zur gleichen Zeit ein ungeheures Maß an Bereicherung erfahren durch Zuwanderer aus aller Herren Länder, die wir fast schon nicht mehr wahrnehmen, weil sie so alltäglich geworden sind, - ganz abgesehen von der Rolle, die Zuwanderer in der deutschen Wirtschaft gespielt haben und immer noch spielen? Niemand, der sich ernsthaft mit Fragen der Migration und Integration beschäftigt hat, wird diese Frage verneinen; weder die Fragen noch die Antworten darauf sind neu. Was sich aber in der Tat spürbar geändert hat in jüngster Zeit, ist der Diskurs über Zuwanderung und Integration in Deutschland. Die Debatte um das Zuwanderungsgesetz hat - trotz aller "theatralischer" Einlagen - das Thema Zuwanderung zu einem zentralen gesellschaftlichen Zukunftsthema gemacht. Zugleich ist die Diskussion pragmatischer und konstruktiver geworden, nicht zuletzt deshalb, weil unter dem "Zwang des Faktischen" vor allem auf kommunaler Ebene praxisorientierte Wege und Konzepte gesucht werden mussten, den sozialen Zusammenhalt zu sichern, Konflikte abzubauen und Strategien der Integration von Migranten zu entwickeln.

Das Schwerpunktthema der vorliegenden Ausgabe von "AiD" - die Wohnsituation von Migranten - spiegelt von daher in seiner Vielfalt die Geschichte der Migration in Deutschland und die Versuche der Stadtpolitik, mit den Problemen und Chancen der Zuwanderung in den Städten umzugehen, wider. Die Tatsache, dass Förderungsprogramme wie das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" trotz aller Sparmaßnahmen weitergeführt werden und viele gute Beispiele, über die wir in diesem Heft berichten, geben dabei Anlass zur Hoffnung.

In diesem Sinn grüßt Sie

Ihr

Dr. M. Werth, Herausgeber


Autor: Dr. Manfred Werth, isoplan

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Zuwanderungs-
gesetz?

Die modernste Zuwanderungspolitik in Europa sollte Deutschland erhalten. Davon übrig geblieben ist ein Scherbenhaufen, den die Politiker nach der Sommerpause wieder im Vermittlungsausschuss zusammenkehren können. "Das Boot ist nicht voll, es wird immer leerer", hatte Peter Müller, der Vorsitzende der Zuwanderungskommission der CDU, vor nicht allzu langer Zeit gesagt. Auf dieser Basis - so schien es lange Zeit - ließe sich ein Konzept finden, das von einer breiten Mehrheit der Parteien mitgetragen würde. Eine Illusion, wie sich im letzten Bundestagswahlkampf herausstellen sollte. Offensichtlich wider besseren Wissens unterstellte die Opposition wiederholt der Bundesregierung, mit dem neuen Gesetz nicht die Zuwanderung zu verringern, sondern gleichsam Tür und Tor für immer mehr Zuwanderer zu öffnen. Die Daten und Fakten sprechen aber für sich und werden Politiker aller Parteien über kurz oder lang wieder einholen: nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa wird zum Altersheim. Die Bevölkerung droht um ein Drittel zu schrumpfen. Alle heutigen EU-Staaten zusammen werden bis zum Jahr 2050 rund 35 bis 40 Millionen ihrer Einwohner verlieren. Im Rahmen der Osterweiterung kommen Länder in die EU, deren Geburtenraten ebenfalls äußerst niedrig sind und deren Bevölkerungszahlen noch rascher abnehmen. Was die Bevölkerungsentwicklung angeht, können wir insgesamt im wahrsten Sinne des Wortes schon bald von einem "Alten Europa" sprechen. Sicher ist, dass Zuwanderung diese Vergreisung Europas gar nicht mehr rückgängig machen, sondern höchstens noch abfedern kann. Wir sollten - nicht nur in Deutschland - endlich einen Schlussstrich unter das jahrelange Gezanke in der Ausländerpolitik ziehen. Wir brauchen ein zukunftsweisendes Konzept der Zuwanderung und der Integration für Einwanderer. Wer die wirtschaftliche Kraft Europas und die Wettbewerbsfähigkeit um die "besten Köpfe der Welt" sichern will, der braucht Einwanderer. Auf dieser Grundlage sollten sich die Parteien in Deutschland wieder zusammenraufen. Dann könnte immer noch ein zukunftsweisendes "Einwanderungssignal" ausgehen von Deutschland in Richtung Europa. Und eines ist auch sicher: ein Zuwanderungsgesetz wird kommen. Im Prinzip warten wir mindestens schon drei Jahrzehnte darauf. Da kommt es auf drei Monate mehr oder weniger auch nicht mehr an!


Autor: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun

Der Autor leitet die Fachredaktion "SWR International" beim Südwestrundfunk, ist Ausländerbeauftragter des Senders und Mitglied im Rat für Migration (RfM). Der Beitrag entstand in Anlehnung an sein neuestes Buch "Deutschland, Einwanderungsland" (Edition Suhrkamp 22 66. Frankfurt a. M. 2002, ISBN 3-518-12266-5, Euro 10)

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