Ausländer in Deutschland 3/2003, 19.Jg., 15. Oktober 2003

EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,

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so wie dem Kanzler, wenn er an einige Äußerungen der Grünen denkt, geht es inzwischen auch dem Sprecher des Bundesausländerbeirats, Memet Kilic, wenn er das Wort "Integration" hört: Er kann es einfach nicht mehr hören. Und so griff er im Rahmen einer Konferenz des Europarats in Stuttgart kürzlich (vgl. hierzu Schwerpunkt) ebenfalls zu drastischen Worten, um zu verdeutlichen, wie inflationär und an der Realität vorbeigehend der Ruf nach einer besseren Integration und Partizipation von Migrantinnen und Migranten zwischenzeitlich in Europa geworden ist.

Ich erinnere mich an eine vergleichbare Konferenz in Straßburg, die wir im Jahr 1995 im Auftrag des "Committee on Migration" (CDMG) des Europarats organisierten. Auch damals stand die Frage, was unter "Integration" verstanden werden soll und anhand welcher Indikatoren sie zu messen ist, im Mittelpunkt heftiger Diskussionen und schon damals war die Debatte beileibe nicht neu.

In der Tat dürfte es wenig Begriffe geben, die in Wissenschaft und Politik in den letzten Dekaden so missbraucht wurden, wie den der Integration: integrierte Planungskonzepte, integrierte Schaltkreise, integrierte Entwicklung, Systeme ... usw. usw. - nichts scheint sicher zu sein vor dem Attribut integriert. Mit der Verwendung des Begriffs wird dabei eine positiv besetzte Zielrichtung suggeriert, die bei genauer Betrachtung freilich meist jeder Grundlage entbehrt. In der Regel verbirgt sich dahinter kaum mehr als die diffuse Idee, dass Strukturen welcher Art auch immer in geheimnisvoller Weise verknüpft oder vernetzt sind.

Ich will jetzt hier nicht den Versuch unternehmen, das schon bei uns, geschweige denn in anderen Ländern mit einer anderen Migrationsgeschichte höchst unterschiedliche Verständnis von "Integration" zu hinterfragen. Dem Wortursprung nach bedeutet Integration ja zunächst einfach "Einbeziehung, die Eingliederung in ein damit neues größeres Ganzes". Integration in diesem Sinn hat also prozessualen Charakter, wobei im besten Fall im Ergebnis kein Unterschied mehr besteht in den Zugangschancen und der Teilhabe vergleichbarer Gruppen von Einheimischen und Zuwanderern an den zentralen gesellschaftlichen Bereichen des Aufnahmelandes, schwerpunktmäßig also in Bezug auf Bildung, Arbeit und Wohnen.

Dieses Grundverständnis von Integration kommt in der "Stuttgarter Erklärung" des Europarats vom September des Jahres in ähnlicher Form zum Ausdruck wie in den Dokumenten zur Straßburger "Integrationskonferenz" 1995 und zahlreichen anderen Stellungnahmen oder wissenschaftlichen Veröffentlichungen.

In einem Punkt aber, und das macht den Zorn von Memet Kilic verständlich, hat sich der Diskurs über Zuwanderungs- und Integrationsfragen spätestens seit dem 11. September, aber auch aus anderen Gründen in Europa gründlich verändert. War die Diskussion über viele lange Jahre vielleicht häufig zu akademisch oder zu sehr geprägt durch unterschiedliche politische Positionen, so war sie doch positiv in dem Versuch, Antworten auf eine schwierige Frage zu finden. Zwischenzeitlich ist es (leider) in Brüssel und einer Reihe von Mitgliedstaaten zu einem Prioritätenwechsel gekommen. Der Ton hat sich geändert, ist negativer und restriktiver. Die Frage der Integration ist in den Hintergrund getreten. Es dominieren Sicherheitsfragen wie die Verstärkung der Grenzkontrollen oder der Kampf gegen die illegale Einwanderung. In einer Reihe von Ländern wurden deutlich restriktivere Ausländergesetze erlassen (z.B. Dänemark), andere sprechen inzwischen von einem Scheitern ihrer ehemals als mustergültig angesehenen Integrationspolitik (z.B. Niederlande).

Dass diese Prioritätenwechsel in Deutschland bislang nicht in so deutlicher Form stattgefunden haben, ist sicherlich nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass die Debatte um das Zuwanderungsgesetz der Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt hat, dass Deutschland angesichts seiner demografischen Entwicklung, aber auch aus vielen anderen Gründen ohne Zuwanderer nicht auskommen kann. Und dass es sich der Frage stellen muss, wie Integration zum Nutzen aller gestaltet werden kann. Lassen wir uns also nicht falsche Prioritäten setzen.

In diesem Sinn grüßt Sie

Ihr

Dr. M. Werth, Herausgeber


Autor: Dr. Manfred Werth, isoplan

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