Integration in Deutschland 2/2004, 20.Jg., 30. Juni 2004

Interview

"Getürkter Deutscher"

Cem Özdemir im Gespräch

Cem Özdemir (38) kam als erster türkischstämmiger Abgeordneter 1994 in den Deutschen Bundestag. Als Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen gehörte er dem 13. und 14. Bundestag an. Nach Veröffentlichungen über seine unzulässigen Verbuchungen dienstlich erworbener Bonus-Meilen legte der Schwabe seine Ämter nieder. Der in Bad Urach geborene Politiker zog bei den Europawahlen am 13. Juni 2004 über Listenplatz 5 der Bundesliste der Grünen ins Europaparlament ein. Zu seinen Veröffentlichungen zählen "Ich bin Inländer" (1997), "Currywurst und Döner" (1999), "Deutsch oder nicht sein?" (2000). Kurz vor den Wahlen sprach AiD mit ihm.

AiD: Was macht eigentlich Cem Özdemir jetzt?

Cem Özdemir: Ich war letztes Jahr als "Transatlantic Fellow" zunächst 8 Monate in Washington und danach 3 Monate in Brüssel beim German Marshall Fund of the US, einem sehr angesehenen Think Tank. Gegenwärtig bin ich im Europawahlkampf. Ansonsten unterstützte ich den Verein "Deutschland liest vor" oder publiziere.

Welche Aha-Erlebnisse hatten Sie in den USA, welche in Brüssel?

Ich gehöre nicht zu denen, die sich nach mehreren Monaten Aufenthalt zu "Experten" für ein Land zählen, aber einen besonderen Einblick habe ich sicher in die US Politik erhalten. Spannend war für mich die so völlig andere Philosophie bezüglich Zugewanderten und ihren Nachfahren. "Diversity" ist zunächst eine Bereicherung, bei uns dagegen erst mal eine Konkurrenz und ein Problem.

Was sollten die Türkisch-Deutschen von den Latinos in den USA lernen?

Beispielsweise, wie man seine Interessen wirksam vertritt und wie man Unterschiedlichkeit (in der Herkunft und in den Ansichten) aushält und daraus eine Stärke macht.

Welches sind Ihre wichtigsten europapolitischen Themen und Ziele? Was wollen Sie in Brüssel erreichen, was ist Ihre Hauptantriebskraft?

Erstmal reizt mich die Aufgabe im Europaparlament mit neuen Kompetenzen. Welchem Ausschuss ich angehöre und welche Schwerpunkte ich genau bearbeite, möchte ich mit meinen neuen Kolleginnen und Kollegen gemeinsam entscheiden.

Als "anatolischer Schwabe", als erster türkischstämmiger Bundestagsabgeordneter sind Sie 1994 bekannt geworden. Wie empfinden Sie sich 10 Jahren später: Als schwäbischer Berliner?

Ich bin mit dem Umzug der Hauptstadt nach Berlin gezogen und fühle mich sehr wohl dort. Meine Identität setzt sich aus vielen Komponenten zusammen. Schwäbisch, türkisch, tscherkessisch. Mit dem Begriff der Bindestrichidentität ist mein Verhältnis zu Deutschland und zur Türkei am besten beschrieben.

Was eint die 13 türkischstämmigen Abgeordneten in Bundestag und Landtagen, was trennt sie?

Wir haben ein überwiegend gutes Verhältnis zueinander, auch wenn wir unterschiedlichen Parteien angehören und gelegentlich unterschiedlicher Meinung sind. Es eint uns der Wunsch, dass es endlich auch bei den Konservativen Abgeordnete mit Migrationshintergrund gibt und die Zeit gekommen ist, auch in die Exekutive vorzudringen.

Sie sind der bekannteste und wohl auch beliebteste türkischstämmige Politiker in Deutschland. Warum eigentlich?

Bin ich das? Ich versuche, nicht je nach Publikum und Medium gerade das zu sagen, was die Leute von mir hören wollen. Da ist mein Standpunkt klar: Für mich gibt es keinen guten und schlechten Nationalismus. Der deutsche Nationalismus ist mir genauso fremd, wie der türkische oder kurdische.

Was bedeutete "Integration" für Sie als Sie mit Ihrer politischen Karriere begonnen haben, was bedeutet der Begriff heute für Sie?

Eines Tages muss es normal sein in Deutschland, dass man Deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft sein kann und möglicherweise Muslim, ohne dass deutsche Medien einen zum "Türken mit deutschem Pass" machen. Die Reaktion der Bild "Zeitung" auf den Goldenen Bären für Fatih Akin's "Gegen die Wand" (Pornostory der Hauptdarstellerin) zeigt, wie schwer sich einige noch immer tun, uns und unseren Beitrag für diese Gesellschaft zu akzeptieren. Wer dazugehören will, hat sicher auch Aufgaben. Dazu gehört der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse, die Unterstützung der Kinder für eine möglichst gute Ausbildung und ein aktives Bemühen um Arbeit.

Ist Baden-Württemberg ein Integrations-Wunderland? Oder liegt es an den wirtschaftlichen Eckdaten, wenn Integration mancherorts besser gelingt?

Wenn ich mir anschaue, wie wenig Kinder aus Migranten- und/oder Arbeiterkindern aufs Gymnasium kommen und es dann bis zur Uni schaffen, kann davon ja wohl keine Rede sein. Sicher, dank der guten wirtschaftlichen Ausgangsbasis ist die Arbeitslosigkeit unter Migranten niedriger. Mit dem "Kopftuch-Gesetz" hat sich das Land für eine Hierarchisierung der Religionen entschieden. Das Gesetz, dass ausschließlich muslimische Glaubenssymbole diskriminiert und andere Glaubenssymbole bewusst zulässt, zeigt deutlich, was man von Muslimen hält.

Welche Konsequenzen müssen aus der Iglu-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) gezogen werden?

Erstmal eine bessere Ausbildung unserer Lehrer und eine wirkungsvollere Beratung von Eltern mit Migrationshintergrund. Ansonsten muss das Tabu der frühzeitigen Selektion der Kinder ab der vierten Klasse in Hauptschule (getürkte Deutsche, wie ich), Realschule (da dürfen wir theoretisch alle rein) und Gymnasium (vorbehalten für Deutsche aus Akademikerfamilien) endlich beendet werden. Je früher aussortiert werden, desto geringer ist ihre Chance, ihre Fähigkeiten doch noch voll auszuschöpfen.

Welche Empfehlung bekamen Sie (und ihre heutigen Freunde) nach der 4. Klasse?

Nahezu allen meinen türkisch-stämmigen Freunden ging es so wie mir, dass sie erstmal für die Hauptschule vorgesehen waren bzw. dort auch gelandet sind. Später kam dann das Bildungs-Coming-out.

Mit dem Abitur als Abschluss! Sie sind ausgebildeter Pädagoge. Was würden Sie ändern, wären Sie Kultusminister?

Als Sozialpädagoge würde ich alles in meiner Macht stehende dafür tun, dass jedes Kind seiner Begabung entsprechend ausgebildet wird, unabhängig von der sozialen oder ethnischen Herkunft.

Was hat Sie zuletzt sehr geärgert, was sehr gefreut?

Ich freue mich vor allem darüber, wenn es mehr Menschen mit Migrationshintergrund gibt, die in der Wirtschaft, in der Politik oder in der Kunst Erfolg haben. Als früherer Fan von Sepp Maier, Gerd Müller u.a. ärgere ich mich darüber, dass die Deutschtümler es geschafft haben, dass heute viele Jugendliche in Deutschland, deren Eltern aus Kroatien, der Türkei oder anderswo herkommen, heute nicht in der deutschen Nationalmannschaft spielen. Dank einiger Politiker steht der deutsche Fußball heute dort wo er steht. Hätte es das neue Staatsbürgerschaft mit dem Geburtsrecht früher schon gegeben, wäre uns vielleicht manche Schmach erspart geblieben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte
Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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