Integration in Deutschland 4/2004, 20.Jg., 30. November 2004

EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,

werth.jpg (7664 Byte)

"Welche Rolle spielt die Religion in der Debatte um den EU-Beitritt in der Türkei?", wurde kürzlich der türkische Autor Baha Güngör in einem Podiumsgespräch auf der Frankfurter Buchmesse gefragt, und dieser antwortete: "... ich glaube, keine allzu große".

Ich fürchte, da irrte der Autor gewaltig. Und hat doch irgendwie auch wieder Recht. Recht hat er sicher darin, dass keiner das Thema der Vereinbarkeit des Islam mit dem christlich geprägten Wertesystem Europas gerne anschneidet. Zu viele Falltüren tun sich da auf, Missverständnisse, Unkenntnis, Ängste.

Irren tut er sich aber genauso sicher in der Annahme, dass tabuisierte oder verdrängte Probleme im Zusammenhang mit dem Thema "die Türkei und der Islam" in Deutschland, wie in anderen großen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft, nicht existent wären.

Die "Angst vor den Türken", wie der "Vorwärts" in seiner Ausgabe 11/2004 titelte (natürlich um für ein positives Beitrittsvotum des EU - Rates am 17. Dezember zu werben), basiert längst nicht mehr auf der Angst, einer ungebremsten Zuwanderung von Arbeitskräften. Das eigentlich "fatale" (im wahrsten Sinne des Wortes) an der Entwicklung der letzten Jahre, das die Ängste der Menschen schürt und sie latent aggressiv macht, sind die täglichen Schreckensmeldungen über Morde und Terroranschläge islamistischer Fundamentalisten von Madrid über Amsterdam bis Istanbul, nicht zuletzt die Ereignisse im Irak, die im Bewusstsein der Menschen eine Gedankenkette "Islam = (islamistischer) Terror = Grausamkeit" entstehen lassen, die sich ständig enger schließt und fast unvermeidbar alle anderen Themen, sei es die Zuwanderung, die Integration oder auch der EU-Beitritt der Türkei, in ihren Bann zieht oder ziehen wird.

Dass mit verharmlosenden oder alles relativierenden Argumenten diese Entwicklung nicht aufgehalten werden kann, sollte eigentlich klar sein. Die aber sind die Regel. Und so steht zu befürchten, dass Deutschland bald mit ähnlichen Problemen konfrontiert wird wie die ehemals als Musterland einer toleranten Ausländerpolitik gerühmten Niederlande. Schon nach der Ermordung des rechten Populisten Pim Fortuyn, spätestens aber nach der Reaktion der niederländischen Öffentlichkeit auf die brutale Hinrichtung des Regisseurs Theo van Gogh (dessen Film "Submission part I" gläubige Muslime natürlich provozieren musste) durch einen fundamentalistischen Marokkaner, spätestens nachdem die erste Moschee in Flammen aufging, mussten die Protagonisten einer allzu blauäugigen Theorie der multikulturellen Konsensgesellschaft zugestehen, dass der Versuch, kulturelle Unterschiede unter den Teppich zu kehren, über kurz oder lang zu einer Verstärkung latent vorhandener, nicht ausgetragener Konflikte führt.

Was das alles mit dem EU-Beitritt der Türkei zu tun hat? Im Ergebnis hoffentlich wenig. Aber es hat viel zu tun mit der unabdingbaren Notwendigkeit, vorhandene Konflikte und Probleme frühzeitig und offen anzusprechen. Hierzu zählt die längst nicht ausgestandene Frage der Menschenrechtsverletzungen ebenso wie die nach wie vor dubiose Rolle konservativer Militärs. Und es gehört natürlich auch das Thema "Islam" dazu, das man, bezogen auf die Türkei, nicht einfach mit dem Hinweis auf Atatürk und der Feststellung, es handele sich in der Türkei "sozusagen um einen Islam light" abtun sollte. Dieser, so der ebenfalls in Frankfurt interviewte türkische Autor Gülbeyaz, "ist eine Chance, eine Brücke zu bauen zwischen Europa und den anderen islamischen Ländern". Ich hoffe sehr, dass er Recht hat, wenn es denn der Türkei zuvor gelingt, ohne das Militär eine Brücke zu bauen zwischen der reichen West-Türkei, Ankara und den kurdischen Dörfern Ost-Anatoliens.

In den Niederlanden hat unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse eine ernste Diskussion über die Normen und Werte der Gesellschaft eingesetzt. Das hört sich altmodisch an, ist es aber nicht. Vor eben dieser Diskussion sollten wir uns auch in Deutschland wie in ganz Europa nicht scheuen.

In diesem Sinn grüßt Sie

Ihr

Dr. M. Werth, Herausgeber


[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.