Integration in Deutschland 4/2005, 21.Jg., 15. Dezember 2005

EDITORIAL

*) Dieser Beitrag wurde im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Editorial

Ein Schwerpunktthema "Migranten im deutschen Schulsystem" haben wir schon oft geplant, nun hat es unerwartete Aktualität, vielleicht sogar Brisanz gewonnen. Aus dem französischen Aufstand der Unterprivilegierten sind einige Lehren zu ziehen. Viele haben sich gefragt, ob so etwas auch hier passieren könnte. Die Antwort ist nein. Wenn aber genau hingeschaut wird, zeigen sich auch hierzulande Entwicklungen, die Anlass zu Sorge geben. Das Bildungsthema ist eines davon, wie die PISA-Studien gezeigt haben. Angela Merkel drückte das in ihrer Regierungserklärung kurz und bündig aus: "Herkunft darf nicht Zukunft bestimmen". Und Innenminister Wolfgang Schäuble erklärte, die Ausländerpolitik zur Kernaufgabe seiner Amtszeit machen zu wollen.
Nachdem mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vor einem Jahr etwas Ruhe in die Debatte um die Integration von Zuwanderern eingekehrt ist, wurden durch die Ereignisse in der Banlieue zwei Dinge klar. Zum einen: Die insgesamt gute Integrationsarbeit in Deutschland hat eine solche Perspektivlosigkeit - mit Ausnahmen - verhindern können. Zum anderen: Es gibt keinen Anlass sich auszuruhen. Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Berlin-Marzahn oder Neu-Kölln sind nicht die Pariser Banlieue, dennoch sind Desintegrationstendenzen (noch) ernster zu nehmen. Das Scheitern der Integration eines Teils der türkischstämmigen, italienischen und russlanddeutschen Migranten verpflichtet zu vermehrten Anstrengungen.

In offiziellen Reden ziehen Politiker oft die richtigen Schlüsse. Bei der praktischen Umsetzung verwundert dagegen manches. Die Koalitionsvereinbarungen lesen sich, als wäre Integrationspolitik ein Unterpunkt der Sicherheitspolitik. "Entweder ist dies ein Einwanderungsland - dann sind bestimmte Konsequenzen ernsthaft anzugehen - oder nicht", möchte man den Großkoalitionären zurufen. Dazu gehört eine Koordination der vielfältigen Integrationsmaßnahmen. Und mehr Transparenz. Das Zuwanderungsgesetz hat dafür eine Grundlage geschaffen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat als neues Kompetenzenztrum den Auftrag erhalten, ein Integrationsprogramm zu erarbeiten. In Nürnberg wird daran gearbeitet - sicher mit guten Ergebnissen.

Da uns auch in dieser Hinsicht ein debattenreiches Jahr bevorsteht, tun wir gut daran, die vor uns liegenden letzten Dezembertage möglichst besinnlich zu verbringen.

In diesem Sinne: Frohe Festtage!

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Tom und Halil

 

50 Jahre nach der ersten Anwerbevereinbarung gehen die Enkel der ersten "Gastarbeiter" jetzt mit meinem Sohn und der Tochter meiner Lebensgefährtin in die Grundschule. Natürlich gibt es Probleme: Tom fremdelt mit der neuen Klassenlehrerin und Catarina kann das Verbot nicht nachvollziehen, in der zweiten großen Pause Butterbrote zu essen. Nur auf Nachfrage ist auch die Rede von den Sprachproblemen eines kurdischen Jungen oder den Verhaltensauffälligkeiten eines deutschen Mädchens. Die mit Blick auf langfristige Bildungskarrieren ernsten Probleme kommen wohl erst noch - in der weiterführenden Schule, wie die IGLU- und PISA-Studien gezeigt haben. Die Kinder unseres Titelfotos bzw. deren Eltern ahnen das wohl dieser Tage, im ersten Halbjahr der 5. Klasse.

Für einen älteren Gymnasiasten steht dagegen alles zum besten: der gebürtige Sauerländer Nuri Sahin kann sich bald auf sein Abitur vorbereiten und hat eben erst sein Debüt im Profiteam von Borussia Dortmund und im Oktober 2005 auch in der Fußball-Nationalmannschaft gegeben. In die Annalen eingegangen ist er als jüngster Bundesligaspieler und Torschütze aller Zeiten. Ebenfalls sein erstes Länderspiel bestritt der in Gelsenkirchen geborene Fach-Abiturient Halil Altintop. Türkei - Deutschland hieß die Begegnung. Sahin und Altintop spielten allerdings nicht für ihr Geburtsland, sondern für das Heimatland ihrer Eltern. Aber nicht nur das: Sie waren als Debütanten gleich auch die Torschützen beim 2:1 - Sieg der Türkei. "Ein bisschen können wir uns auch für sie freuen", sagte der deutsche Fernsehkommentator. Warum nur "ein bisschen"? Sie gehören doch zu "uns" - oder?

(Erwachsene) deutsche Fußballfans sind enttäuscht worden, weil sich Sahin und Altintop "falsch entschieden", irgendwie abgewandt haben. Sie fühlten sich in Deutschland sicherlich wohl und zu Hause. Die Eltern haben jedoch offenbar patriotische Gefühle für die Türkei vermittelt. Eine schwierige Frage von Heimat und Identität ist das. Wie lässt sich Heimat definieren? Ethnisch-national, regional, kulturell, religiös, sprachlich oder sozial? Welcher Bezug spielt die wichtigste Rolle? Es geht wohl vor allem um Zugehörigkeitsgefühle und Prägungen. Das sich nur rational als Zuwanderungsland definierende Deutschland vermittelt offenbar keine heimatlichen Gefühle - schade.

Tom jedenfalls hat sich als Kaiserslautern-Fan schon vor diesem Spiel ein Altintop-Trikot gewünscht. Dass der Türke ist, war nie relevant. Er mochte ihn einfach. (esf)

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"Berlin ist nicht Paris"

 

Berlin. Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening hat am 7. November 2005 nach den nächtlichen Autobränden in Moabit davor gewarnt, Pariser Verhältnisse herbeizureden. In Berlin gebe es keine Grundstimmung der Hoffnungslosigkeit wie in den französischen Vorstädten. Ihm zufolge sei es "nicht ausschließen, dass in Berlin einzelne Gruppen mit oder ohne Migrationshintergrund zu Nachahmungstaten ermuntert werden" - was sich wenig später dort , in Bremen und Köln bewahrheitete. Es sei aber auszuschließen, dass aus einem solchen Funken ein Flächenbrand wie in Frankreich wird." Sicher gebe es gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund auch in Berlin große Probleme, einen Zugang zu Ausbildung und Arbeit zu finden. Aber trotzdem sei die Grunderfahrung Berliner Jugendlicher nicht durchgängig von Ausgrenzung geprägt.

Die Berliner Einwandergruppen seien anerkannter Teil der städtischen Gesellschaft. Ihre Kultur habe das neue Berlin mitgeprägt. Aus den Einwanderern sei längst auch eine neue Mittelschicht gewachsen, die wichtige Anschlussmöglichkeiten und Rollenvorbilder liefert. Es gebe in Berlin auch keine Politiker, die Zuwanderer als Gesindel bezeichnen - sagte er mit Blick auf den französischen Innenminister Sarkozy - und damit die Gefühle von Jugendlichen bestätigen, nicht Teil der Gesellschaft zu sein. Die Berliner Integrationspolitik setze im Gegenteil auf die aktive Einbeziehung der Einwanderergemeinschaften in die Politik. Wie erfolgreich dieses auch zur Gewaltprävention sei, zeige sich am Umgang mit den "traditionellen" Kreuzberger 1. Mai-Unruhen. "Als 2002 erkennbar war, dass die Randale für Migrantenkids attraktiv wurde, wurde eine enge Kooperation mit den türkischen und arabischen Communities aufgebaut", so Piening. Diese Kooperation sei eine der wesentlichen Gründe für den ruhigen Verlauf des 1. Mai 2005.

Auch gebe es in Berlin keine sich selbst überlassenen Banlieues am Rande der Stadt. Berlin habe frühzeitig begonnen, in den von den strukturellen Umbrüchen besonders betroffenen Stadtteilen durch Quartiersmanagement und andere Formen einer neuen Nachbarschaftsarbeit ein neues Wir-Gefühl zu schaffen. Auch hier seien die Organisationen der Einwanderer "wichtige Brücken zu den jeweiligen Gemeinschaften".

Piening betonte: "Die beste Vorbeugung gegen die Wut der Ausgegrenzten ist, Ausgrenzung zu verhindern und Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Einwanderern und ihren Kinder gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht". Nur so könne eine Stimmung der Hoffnungslosigkeit verhindert werden, die Voraussetzung dafür sei, dass aus einem Funken ein Flächenbrand wird." (esf)

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Hinweise auf einige Dinge, die es nicht oder zu selten gibt, die wir aber dringend bräuchten:

  • Postkarten pittoresker deutscher Migrantenviertel ("Grüße aus Berlin")

  • Interkulturelle Kalender in allen Schulklassen

  • Freundschaften über alle Unterschiede in Herkunft, Religion und Weltanschauung hinweg

  • Eine türkischstämmige deutsch singende Schlagerschnulzensängerin

  • Gut durchdachte und finanzierbare Integrationskonzepte auf allen Ebenen (Bund, Länder und Kommunen)

  • Gründung bzw. Fusion bestehender muslimischer Dachverbände und deren Anerkennung als Vertretung der in Deutschland lebenden Muslime

  • Eine/n Minister/in mit Migrationshintergrund (Hugenotten-Nachfahre Thomas de Maizière und Vertriebenenkind Bernd Neumann zählen nicht), oder wenigstens eine/n Staatssekretär/in oder Abteilungsleiter/in der Ministerialbürokratie

  • Ein Schulsystem, das Potenziale von Migrantenkindern fördert und Schwächen korrigiert

  • Einen "run" auf das AiD-Sammelsurium

  • Interkulturelle Pädagogik als Pflichtfach in der Ausbildung von Erzieher/innen- und Lehrer/innen

  • Öffnung von Kindergärten auch für nicht-christliche Erzieherinnen

  • Die Vornamen Giuseppe, Igor oder Hamit in der Aufstellung der Fußballnationalmannschaft

  • Eine Doku-Soap über eine türkischstämmige Familie (Drehbuch: Osman Engin)* mit mindestens vier Teenies und einer Oma, die homosexuelle, islamistische und/oder Ökopax-Anwandlungen ausleben, sich in die falschen Jungs oder Mädels verlieben (und so weiter)
    * Wahlweise auch: russlanddeutsch (Drehbuch: Wladimir Kaminer)

  • Ein bundesweites Branchenbuch ethnischer Ökonomie

  • CD Best of konkret krassem HipHop (und danach Ruhe bitte)

  • Bürgerstolz auf die neue Moschee

  • Necla Keleks "Die Fremde Braut" in türkischer Übersetzung

  • Die Selbstverständlichkeit, auch den muslimischen Nachbarn den Schnee auf dem Bürgersteig wegzukehren, wie das die pakistanischen Nachbarn bei meiner Oma immer machten

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