Integration in Deutschland 4/2005, 21.Jg., 15. Dezember 2005

SCHWERPUNKT: MIGRANTEN 
IM DEUTSCHEN BILDUNGSSYSTEM

Krise als Chance

Migranten im deutschen Bildungssystem

Bildung ist eine Schlüsselqualifikation für die Zukunft der Menschen dieses Landes. Mangels Rohstoffen ist Deutschland auf eine gute Bildung seiner Bewohner angewiesen. Weil diese schon fast banal wirkende Aussage keine neue Erkenntnis ist, haben die Ergebnisse der IGLU- und PISA-Studien wie ein Erdbeben gewirkt. Eine aufgeregte Debatte begann, bei der eine Gruppe fast vergessen wurde: die 1 Million Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen mit ausländischem Pass (siehe Statistik S. 18). Einige weitere 100.000 deutsche Schülerinnen und Schüler sind eingebürgert oder kommen aus Aussiedlerfamilien. Für ihre Zukunft spielt Bildung eine fast noch wichtigere Rolle als für andere Kinder und Jugendliche.

Insgesamt fast ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen in Westdeutschland kommt aus Migrantenfamilien (in Ostdeutschland ist der Anteil mit Ausnahme von Großstädten wie Berlin und Leipzig deutlich geringer). Die Ergebnisse der IGLU- und PISA-Studien belegen, dass in keinem anderen europäischen Industrieland außer in Ungarn und Belgien der Bildungserfolg so stark vom Status der Eltern abhängig ist, wie in Deutschland (siehe S. 6 und 10-11). "Dieser enge Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg verfestigt die Ausgrenzung vor allem auch der Migrantenkinder und -jugendlichen, deren Eltern und Großeltern für einfache Tätigkeiten angeworben wurden", betonte die ehemalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck in einem im Oktober 2005 erschienenen Memorandum.

Fast jeder fünfte Jugendliche mit ausländischem Pass verlässt die Schule ohne Abschluss - gegenüber jedem zwölften deutschen Jugendlichen. Fast jedes zweite ausländische Kind besucht die Hauptschule - gegenüber jedem fünften deutschen. Während jede/r vierte deutsche Schüler/in die Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt, gilt dies nur für jeden zehnten ausländischen Jugendlichen (vgl. Statistik S. 7). Die Grundlage für diese Entwicklung wird offenbar schon früh gelegt. Als entscheidende Schwelle erweist sich neben der Einschulung der Übergang auf weiterführende Schulen. Mit Konsequenzen für die späteren Zugänge zu Ausbildung und Beruf.

Seit diesen aufrüttelnden Befunden zu diesem wichtigen integrationspolitischen Handlungsfeld wird diskutiert, wie diese Probleme zu lösen sind. Denn: Bildungserfolge sind elementar, um Teilnahmechancen in anderen sozialen Bereichen wie dem Arbeitsmarkt zu erhalten und sozial aufsteigen zu können. Umgekehrt haben Bildungsdefizite individuelle, gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Konsequenzen. Schließlich werden - bleibt das Bildungspotenzial von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ungefördert und ungenutzt - Zukunftsfähigkeit und Innovationskraft des ganzen Landes verschenkt.

Besonders in der Kritik stehen die Bildungseinrichtungen. Schon bei der Einschulung werden Migrantenkinder häufiger zurückgestellt als andere Kinder, wodurch ihr Risiko der "Überalterung" steigt, welches wiederum ein wesentlicher Grund für die höhere Quote an Zuweisungen in Sonderschulen ist. Die Studien haben ferner gezeigt, dass insbesondere die weiterführenden Schulen nicht in der Lage sind, durch individuelle Förderung die Lesekompetenz der Kinder mit Migrationshintergrund zu steigern - im Gegenteil. Während laut IGLU lediglich ein Viertel der Grundschüler mit Migrationshintergrund in altersgemäßen Tests als schwache Leser eingestuft werden, trifft dies laut PISA auf jede/n zweite/n Schüler im Alter von 15 Jahren zu. "Vergleichbare Länder verzeichnen zwischen diesen Altersgruppen eher Leistungsfortschritte", unterstreicht Marieluise Beck.

Während die Klassenlehrerinnen und -lehrer in der Grundschule noch stärker individuell fördern können, ist dies später bei einem Dutzend zuständiger Fachlehrer kaum noch möglich. Nun aber, wo nach Leistung differenziert wird, können Eltern von Migrantenkindern offenbar den Wegfall der individuellen Förderung nicht kompensieren Dies zeigt ein Blick auf die Entwicklung der zweisprachig aufwachsenden Kinder (siehe S. 11). An einer fehlenden Bildungsmotivation von Migrantenfamilien scheint es nicht zu liegen.

Eine weitere Ursache sieht die ehemalige Integrationsbeauftragte im "unzureichenden Umgang der Bildungseinrichtungen mit sozialer und kultureller Vielfalt". So besuchen ausländische Kinder Kindergärten fast ebenso häufig wie andere Kinder und sind in Vorschulen sogar überproportional vertreten. Die Bildungsmotivation sei insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen oft hoch. Zudem seien ausländische Eltern überwiegend bereit, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. "Offenbar sind unsere Bildungseinrichtungen nicht in der Lage, soziale Unterschiede und kulturelle Differenzen auszugleichen", urteilt Marieluise Beck. Das Bildungssystem müsse grundsätzlich lernen, mit sozialer und kultureller Heterogenität so umzugehen, dass Chancengleichheit gewährleistet werde.
Die pädagogische Praxis vieler Bildungseinrichtungen ist trotz der seit Mitte der 1970er-Jahren bestehenden kulturellen, sprachlichen und religiösen Vielfalt nach wie vor stark monokulturell geprägt. Mit Schuldzuweisungen sollte jedoch vorsichtig umgegangen werden. Viele Bildungseinrichtungen, Erzieher/innen und Lehrer/innen zeigen ein hohes Engagement. Und doch hat die Förderung von Migrantenkindern insgesamt bei weitem nicht die erwünschten und - das zeigen andere Länder - möglichen Erfolge gezeigt. Besonders erschreckend erscheint, dass es insbesondere nicht gelingt, die hier geborenen Kinder ins Bildungssystem zu integrieren.

Empfehlungen

In ihrem Memorandum empfiehlt Marieluise Beck unter anderem frühzeitig ansetzende Förderangebote und eine grundsätzliche Stärkung des Bildungsauftrags der Kindergärten. Vor allem seien hier die Grundlagen für Sprachentwicklung und Mehrsprachigkeit zu legen. Darauf aufbauend müsse während der gesamten Bildungslaufbahn eine begleitende Förderung "Deutsch als Zweitsprache" folgen. Auch die neue Integrationsbeauftragte, Maria Böhmer, fordert eine gezieltere Sprachförderung. Beck nennt ferner die Notwendigkeit, dass das Bildungssystem Verantwortung für den Bildungsprozess jedes einzelnen Kindes übernehmen müsse: "Unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und -niveaus, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie soziale und kulturelle Heterogenität bedürfen einer motivierenden, individuellen Förderung und Begleitung". Schließlich müsse die Verbesserung der Bildungschancen von Migrantenkindern zum Qualitätskriterium werden. Dazu gehöre eine Anpassung der Aus- und Fortbildung des Lehrpersonals, eine Verstärkung der Elternarbeit und ein möglichst flächendeckendes Ganztagsangebot an Betreuungs- und Bildungseinrichtungen.

Eine Anfang Dezember 2005 veröffentlichte OECD-Studie bestätigt die Schwächen des deutschen Schulsystems, die sich vor allem für junge Migranten auch negativ den Zugang zum rbeitsmarkt auswirken. Bei diesem internationalen Vergleich landet Deutschland nur im Mittelfeld. Die OECD betont, dass neben der sprachlichen Integration auch die gezielte Berufsvorbereitung stärker forciert werden müsse.

In der Schule findet, auch wenn es übertrieben erscheinen mag, ein Wettbewerb um Lebenschancen statt. Konkurrenz wird positiv gesehen, es muss hierbei aber gerecht zugehen. Für das deutsche Bildungssystem waren die PISA-Studien wichtige Warnschüsse, um Veränderungen voran zu treiben. Denn: Wie immer liegt in der Krise vor allem auch die Chance, es besser zu machen. Nötig ist ein umfassendes Bildungs- und Schulkonzept zur Integration der Kinder nicht-deutscher Muttersprache, das es allen Kindern ermöglicht, die eigenen Fähigkeiten unabhängig von der Herkunft zu entwickeln und das dabei ihren bikulturellen und mehrsprachigen Lebenskontext berücksichtigt.


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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