Integration in Deutschland 4/2005, 21.Jg., 15. Dezember 2005

EUROPA

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Von Europa lernen

Integrationsmöglich-
keiten im Ländervergleich

Nicht erst seit den Ergebnissen von PISA und IGLU steht fest, dass das deutsche Schulsystem die Kinder mit Migrationshintergrund nicht angemessen fördert. In keinem anderen europäischen Land ist der Schulerfolg so sehr von der sozialen Herkunft abhängig wie in Deutschland. Doch was machen unsere Nachbarländer anders? Wie gehen sie mit diesen Kindern und ihren Eltern um und durch welche Maßnahmen versuchen sie, die Integration in das Bildungssystem und dadurch auch in die Gesellschaft zu sichern?

Im neuen Land angekommen, begegnen Migrantenfamilien einem fremden Schulsystem, in dem sie sich erst zurechtfinden müssen. Für die besonderen Erfordernisse der Integration in dieses System (Sprache, kulturelle Unterschiede) haben die verschiedenen Staaten in Europa unterschiedlich Maßnahmen entwickelt.

Nur wenige europäische Länder fördern den Zugang der Migrantenkinder zur Bildung vor dem schulpflichtigen Alter. Unter anderen bieten Dänemark und Schweden Sprachkurse vor Schulbeginn an, um ausländischen Kindern den Schuleintritt zu erleichtern. Zudem verbieten Belgien, Frankreich, Finnland und Schweden eine Diskriminierung ausländischer Kinder bei der Anmeldung im Kindergarten und verpflichten diese, eine ausreichende Anzahl von Plätzen für Nicht-Muttersprachler zur Verfügung zu stellen.

Rechte und Pflichten: der Schulbesuch

Nicht in allen Ländern dürfen oder müssen ausländische Kinder die Schule besuchen. Länder wie Belgien, Griechenland oder Italien erlauben explizit den Schulbesuch selbst für Kinder von Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus. Nicht explizit erlaubt, aber trotzdem möglich ist der Besuch für diese Schülergruppe auch in Deutschland, Spanien oder Großbritannien. Hingegen ist in Dänemark, Schweden oder Island für Kinder mit einem nicht legalen Aufenthaltsstatus der Gang zur Schule nicht erlaubt. Die nordischen Länder hingegen machen das Recht des Schulbesuchs von der Dauer des Aufenthalts abhängig. In Norwegen müssen zum Beispiel Kinder, die sich länger als drei Monate im Land aufhalten, die Schule besuchen.

Ziehen Migranten mit ihren Kindern nach Finnland oder Schweden, erhalten ihre Kinder verschiedene Dienstleistungen wie das Essen in der Kantine, Materialien für den Unterricht, Gesundheitsdienste und den Transport zur Schule kostenlos. Spanien oder Frankreich bieten Kindern von Eltern mit geringem Einkommen immerhin Unterstützung bei der Bezahlung dieser Dienste an. Jedoch erhalten Kinder von Migranten in Europa selten eine bessere Behandlung als Kinder von Eltern mit geringem Einkommen. Eine Ausnahme bildet Zypern: dort bekommen sie freie Mahlzeiten am Mittag, um sie für die Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag an der Schule zu halten.

Förderung von Information und Dialog

Damit die Integration von Migrantenkindern in das Schulsystem und die Gesellschaft funktionieren kann und der Grundstein für eine erfolgreiche Schullaufbahn gelegt wird, ist der Einbezug der Eltern notwendig. Um den Schülern und den Eltern bei der Einschulung und dem Zurechtfinden in der neuen Umgebung zur Seite zu stehen, werden Orientierungsmaßnahmen durchgeführt. Dies umfasst Hilfe bei administrativen Formalitäten oder zum Beispiel die Vorstellung des landeseigenen Schulsystems. Die Hälfte der Staaten in der EU veröffentlicht Informationen über das Bildungssystem in verschiedenen Fremdsprachen. In Irland gibt eine spezielle Agentur Informationen in neun Sprachen heraus. Österreich bietet Faltblätter zu verschiedenen Themen an (Einschulung, Erlernen von Sprachen). Dennoch: Geschriebene Informationen alleine reichen sicherlich nicht aus. Neben der Information ist vor allem der Dialog zwischen Elternhaus und Schule ein wichtiger Bestandteil des Integrationsprozesses. Da jedoch viele Migranten nicht über ausreichende Sprachkenntnisse des jeweiligen Landes verfügen, empfehlen einige Staaten den Eltern die Heranziehung von Dolmetschern. Schweden und Finnland stellen ihnen sogar einen Dolmetscher zur Verfügung.

Unterrichtsformen

Grundsätzlich gibt es in den Schulen Europas zwei verschiedene Modelle, Kinder mit Migrationshintergrund in das Schulsystem zu integrieren. In Deutschland wie auch zum Beispiel in Italien bedient man sich eines integrierenden Modells. Die Migrantenkinder werden Klassen derselben Jahrgangsstufe zugeteilt oder gegebenenfalls auch einer jüngeren Klasse, falls die Sprachkenntnisse noch unzureichend sind. Dabei ist die Anzahl von Migranten in einer Klasse begrenzt. Andere Länder richten für diese Schülergruppe spezielle Klassen ein, in denen sie getrennt von den einheimischen Schülern unterrichtet werden. In diesen Gruppen können die Lehrer auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder eingehen und sie auf den gemeinsamen Unterricht mit den einheimischen Kindern vorbereiten. Von Anfang an besuchen jedoch alle Schüler einen Teil des Unterrichts zusammen. Diese Form kann entweder als Übergangsregelung oder als Langzeit-Maßnahme für ein oder mehrere Jahre durchgeführt werden. Finnland, Schweden und Norwegen bieten einen zweisprachigen Unterricht an. In anderen Ländern gibt es zusätzlichen Unterricht in der jeweiligen Muttersprache.

Bikulturelle Identität

Damit sich die Kinder in einem fremden Land und einer fremden Kultur zurechtfinden können, müssen sie sich ihrer eigenen Identität und kulturellen Herkunft bewusst sein. In Europa gibt es mehrere Religionsunterrichts-Modelle, um einheitliche Werte zu vermitteln und zugleich der religiösen Vielfalt gerecht zu werden. Die größte Religionsvielfalt in Europa herrscht in Österreich. 13 staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften können Religionsunterricht anbieten und Lehrinhalte und Lehrbücher bestimmen. Eine Wahlalternative zum Religionsunterricht ist das Fach Ethik. Norwegen hat 1997 das religionskundlich angelegte Pflichtfach "Christentum, andere Religionen und Moralerziehung" eingeführt. In Frankreich gibt es keinen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, aber durch die immer größer werdende Vielfalt der Schülerschaft lässt sich die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Glaubensrichtungen nicht vermeiden. Zudem besuchen 20 Prozent der französischen Schüler eine katholische Privatschule und erhalten dort Religionsunterricht. Im Fach Religionswissenschaften in Großbritannien steht das Christentum zwar im Vordergrund, doch Lehren und Praxis der anderen Hauptreligionen werden inzwischen ausführlich und nahezu gleichwertig berücksichtigt. Für Lehrer werden auch spezielle Kurse zur interkulturellen Bildung angeboten, sie sind inzwischen in fast allen Staaten Bestandteil der Lehrerausbildung.

Neben dem Religionsunterricht ist für die Familien auch der Respekt gegenüber den Besonderheiten der Religion wichtig: In Deutschland wie auch in Schweden ist es für Schüler anderer Herkunft möglich, an den religiösen Feiertagen vom Unterricht beurlaubt zu werden. Zudem muss auf Verlangen getrennter Sportunterricht von Jungen und Mädchen angeboten werden. Ist dies nicht möglich, gibt es noch die Möglichkeit einer Freistellung vom Sportunterricht.

Wie Migranten in die Gesellschaft integriert werden können, wird in allen Ländern diskutiert. Die Muttersprache gilt in der Debatte als Brücke zwischen den Kulturen. Wichtig bleibt am Ende, die kulturelle Vielfalt nicht als Problem zu sehen, das es zu überwinden gilt, sondern sie als eine Bereicherung und Erweiterung des Schulalltags und des eigenen Horizontes zu betrachten.


Autorin: Miriam Gebert, Isoplan

Quelle: Eurydice-Studie "Die schulische Integration der Migrantenkinder in Europa", 2004

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Gemeinsame Abschiebeflüge

 

Frankfurt am Main. Europäische Länder können jetzt erstmals gemeinsame Abschiebeflüge von "illegalen Einwanderern" und abgelehnten Asylbewerbern durchführen. Möglich geworden ist das durch eine neue Vereinbarung zur gemeinsamen Ausweisung illegaler Einwanderer, auf die sich die Innenminister der G-5-Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien im Juli 2005 bei einem Treffen in Evian geeinigt haben. Über deren Umsetzung gibt es jedoch unterschiedliche Angaben. So berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 26. September 2005 von 125 Rumänen, die in einem gemeinsamen Flug von Madrid mit Zwischenstopps in Paris und Rom in ihre Heimat zurückgebracht worden seien. Dagegen gab es nach der Septemberausgabe der Zeitschrift "Migration und Bevölkerung", die sich auf das deutsche Innenministerium beruft, bislang keine solchen Flüge und es seien auch keine in Planung. (gh)

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Zuwanderungs-
magnet Spanien

 

Madrid. Spanien verzeichnet unter allen 25 EU-Mitgliedern zur Zeit das mit Abstand stärkste Bevölkerungswachstum. Dieses stützt sich vor allem auf Einwanderungen von Menschen aus Lateinamerika, Afrika und Mittelosteuropa, für die Spanien Hauptanziehungspunkt der EU geworden ist. Nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts hat das Land mit fast einer Million legaler und nicht legaler "Neubürger" 2004 alle früheren Wachstumsrekorde gebrochen. Im Jahr 2005, in dem Spanien eine umfassende Amnestie für Einwanderer ohne legalen Aufenthaltsstatus erlassen hat, dürfte es zu einem weiteren Bevölkerungswachstum von etwa 2 % kommen. Das ist nach Angaben der Statistiker die höchste Ziffer unter den entwickelten Industrieländern und liegt erheblich über dem EU-Durchschnitt von einem halben Prozent. Der Ausländeranteil wird 2005 bei über vier Millionen Ausländern auf über 9 % steigen. Die größte registrierte Einwanderergruppe stellen die Marokkaner mit 500.000, Ekuadorianer mit 491.000, Rumänen mit 314.000 und Kolumbianer mit 268.000 Personen, gefolgt von den Briten als größter EU-"Kolonie" (224.000). Die Spanier selbst haben mit einem natürlichen Wachstum nahe 0 % weiterhin eine der niedrigsten Geburtenraten der Union. (esf)

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Marokko: Todesfälle und Abschiebungen

 

Brüssel/Frankfurt/M. Marokko hat die Abschiebung afrikanischer Flüchtlinge Ende Oktober 2005 weitgehend abgeschlossen. Mehr als 2.500 Einwanderer ohne legalen Aufenthalt wurden in ihre Heimatländer ausgeflogen, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z. vom 19.10.05). Sie hatten versucht, über die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla auf EU-Gebiet zu gelangen und waren in Marokko festgenommen worden. In den Jahren 1989 bis 2003 sollen zwischen 8.000 und 10.000 illegale Einwanderer bei dem Versuch, von Spanien nach Marokko zu gelangen, umgekommen oder "verschwunden" sein. Diese Zahlen wurden Ende Oktober in einer in Brüssel veröffentlichten Studie des Europäischen Universitätsinstituts genannt. Die Untersuchung im Auftrag der Europäischen Kommission, die in Spanien großes Aufsehen erregte, gilt den Wanderungsbewegungen um das Mittelmeer. Danach haben die marokkanischen Sicherheitskräfte 2003 zum ersten Mal auch mehr im Transit befindliche Illegale aus schwarzafrikanischen Ländern "abgefangen" (fast 24.000 Personen), als ausreisende Marokkaner (etwa 12.000). Der Studie zufolge war die Abwanderung von Marokkanern nach Europa in den letzten vier Jahrzehnten die mit Abstand größte aus ganz Afrika. So verließen zwischen 1968 und 2004 über drei Millionen Marokkaner legal oder illegal ihr Land. 2,6 Millionen davon leben nach Angaben der Studie jetzt in der EU. (esf)

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Schweiz öffnet sich für neue EU-Mitglieder

 

Wien. Die Schweiz will auch den Menschen aus den zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten das Recht der Freizügigkeit gewähren. Das ist das Ergebnis einer Volksabstimmung, bei der im September knapp 56% der Stimmen für das Abkommen zwischen der EU und der Schweiz abgegeben wurden. Die anderen bilateralen Abkommen seien schon nach der Osterweiterung der EU auf deren neue Mitglieder ausgeweitet worden, berichtet "Der Standard" aus dem Nachbarland Österreich. Ein negatives Votum in Sachen Freizügigkeit hätte für die Schweizer weitere Folgen haben können: Dann wäre es für die EU möglich gewesen, auch alle anderen bilateralen Vereinbarungen mit der Schweiz zu kündigen, so die Online-Ausgabe der Tageszeitung weiter (http://derstandard.at, 27.09.05). Das Ergebnis spiegelt also nicht unbedingt einen weiteren Schritt der Schweiz in Richtung EU-Beitritt wider, sondern kann zunächst als Zustimmung der Schweizer zu den bilateralen Beziehungen zur EU gewertet werden. Noch bis über das Jahr 2010 hinaus gilt die Freizügigkeit nur eingeschränkt. (gh)

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Spanien: Hohe Prostitutionsrate

 

Frankfurt am Main. In Spanien hat sich die Zahl der Prostituierten zwischen 1999 und 2004 verdoppelt. Das berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Feuilleton ihrer Ausgabe vom 22.September 2005. Auf vierzig Millionen Einwohner kämen 500.000 Menschen, die Prostitution betreiben. Rein statistisch gesehen sei das jeder Achtzigste. Nach Informationen der Zeitung sind über 90% der Prostituierten über Schlepperbanden aus südamerikanischen und südafrikanischen Ländern sowie aus Russland und Rumänien nach Spanien gekommen. In vielen Fällen sei dies unter Zwang geschehen. "Sex in allen Formen und Maskierungen ist in Spanien der wichtigste Geschäftszweig neben dem Tourismus", so der Autor Paul Ingendaay. Mittlerweile hätten es sich jedoch "einige der besten Köpfe" der Kulturszene zur Aufgabe gemacht, auf das Problem von Sexismus und häuslicher Gewalt hinzuweisen. Beispiele seien die Werke "Öffne meine Augen" (2003) der Filmregisseurin Icíar Bollaín und der neue Film "Princesas" des Regisseurs Fernando León de Aranoa über zwei Frauen, die sich unter den erniedrigenden Bedingungen des Sexmarktes verbünden. (gh)

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Die Geschichte der französischen Einwanderung

 Die meisten kamen alleine oder mit wenigen ähnlich unglücklichen Kameraden. Sie hatten ihr Heimatland zu verlassen, weil sie dort keine Möglichkeit der Existenzsicherung fanden. Oder sie sahen sich aus politischen Gründen zur Flucht gezwungen. Die einen träumten schon lange von Frankreich, dem "versprochenen Land" von dem sie immer gehört hatten. Das "Land der Menschenrechte" hatte einen guten Ruf: Migranten würden gut empfangen. Und es hieß, dort fände man leicht Arbeit. Andere kamen zufällig nach Frankreich: im 20., wie schon vorher im 19. und 18. Jahrhundert. Aus verschiedenen Gründen wurde aus der provisorischen Auswanderung eine definitive. Es folgte die zweite und dritte Generation, von der heute viel die Rede ist. Statistisch hat heute jede vierte in Frankreich lebende Person einen direkten (eigenen) Migrationshintergrund. Verfolgt man die Geschichte bis zu den Urgroßeltern zurück, ist es jede dritte Person. Kein anderes europäisches Land ist in einem solchen Verhältnis seit dem 19. Jahrhundert von Einwanderung geprägt worden. Anders als in den USA wird diese in Frankreich noch nicht als Teil der Nationalgeschichte betrachtet. Es ist diese Mißachtung und der fehlende Respekt vor den Kindern dieser Franzosen, der als eine der Ursachen für die Gewaltausbrüche vom November 2005 gesehen wird.

Das Hauptziel des im Oktober 2004 von Gérard Noriel zusammengestellten französischsprachigen Bildbandes "Menschen von hier, die von woanders kamen. Das Frankreich der Einwanderung" ("Gens d'ici venus d'ailleurs. La France de l'immigration") ist es, dieses Versäumnis zu verdeutlichen. Noriel möchte, dass die Geschichte der Einwanderung Teil der kollektiven Erinnerung wird. Den in den Editions du Chene-Hachette in Paris erschienenen 300-seitigen Bildband (ISBN: 2842775201) widmet der Autor den Einwanderern, die das heutige Frankreich aufgebaut haben. Fotos sagen auch mit Blick auf die starke menschliche Intensität des Einwanderungsprozesses mehr als viele Worte. Noriel hat die Bildfolge bewußt nicht chronologisch, sondern thematisch angeordnet. Die Erfahrungen waren sehr ähnlich, schreibt er im Vorwort, ob katholischer Einwanderer im 19. Jahrhundert oder afrikanische und muslimische Einwanderung heute. Er zelebriert die Einwanderung, will den Beitrag der Menschen zur französischen Nation honorieren.

Der Autor, der 2004 auch einen historischen Arlas der französischen Einwanderung ("Atlas historique de l'immigration en France") beim Verlag Autrement herausgegeben hat, gliedert den komplett in Schwarzweiß gehaltenen Bildband in vier große Kapitel: Abreisen (die Reise, sich einrichten, Begegnung mit dem Staat), sich einen Platz suchen (Berufe, ethnische Geschäfte, Wohnort, Familienleben, die Ausweisung), sich integrieren (soziale Mobilität, Gewerkschaften, als Soldat Sterben für Frankreich) sowie die Unterschiede kultivieren (Vereinsleben, Kulturleben, Feste, Erinnerungsorte). Auffällig ist hier angesichts der Unruhen vom Herbst 2005 das weitestgehende Fehlen sozialkritischer Fotos der Wohnsituation in der Banlieue der Großstädte. Dieser Mangel wird bei weitem aufgewogen durch die Breite historischer Fotos aus den ersten 80 Jahren des 20. Jahrhunderts. (esf)

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Ein Flüchtlingsleben im Comic

So hat man das Schicksal eines Flüchtlings mit allen Höhen und Tiefen noch nicht nachvollziehen können: Marjane Satrapis zweiter Comicband der Reihe "Persepolis" (der erste zu ihrer Kindheit wurde 2004 als Comic des Jahres ausgezeichnet) beschäftigt sich mit ihren Jugendjahren. Im November 1984 - es war die Zeit des Irak-Iran-Krieges - war Marjane von ihren Eltern als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Wien geschickt worden, 1988 kehrte sie zurück. Beides war schwierig: Die Erfahrungen in Österreich, wie die der Rückkehr. In beiden Situationen fühlte sie sich mißverstanden, wenn sie versuchte, ihr Leben nach den westlichen Vorstellungen individueller Freiheit zu leben. Hier wie dort wurde ihr dieses Streben als rebellisches Verhalten ausgelegt. Und: In beiden Fällen fehlte ihr die Geborgenheit, sich zu Hause zu fühlen. So ging sie 1988 nach Frankreich - erst nach Straßburg, dann nach Paris, wo sie noch heute lebt. Der Comic beschreibt wunderbar schlicht und prägnant Fremdheitserfahrungen, Rassismus, Erfahrungen des Kulturschocks, aber auch der Reintegrationsprobleme im Iran. Ihre schwierigen Erlebnisse werden dort im Vergleich zu den Kriegserfahrungen nicht ernst genommen. Stets erlebt sie Druck, sich anzugleichen: an die Aufassungen von sexueller Freiheit in Wien, wie den dumpfen Versuch der iranischen Freundinnen, ihre Version des american way of life zu leben - aus Sicht von Marjane aber nur künstlich und oberflächlich. Die Comics, die ein realistischeres Bild des Iran und seiner Menschen zeigen wollen, sind bei der Edition Moderne in Zürich erschienen (ISBN 3-907055-82-9). (esf)

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Frankreich verschärft Einwanderungs-
gesetz

 

Paris. Der französische Ministerpräsident de Villepin hat Ende November 2005 verschärfte Einwanderungsregeln angekündigt. Die Bedingungen für den Familiennachzug würden erschwert. So müssen Antragsteller künftig zwei statt bisher ein Jahr in Frankreich gelebt haben, bevor sie ihre Familie ins Land holen können. Ihre französischen Sprachkenntnisse und "kulturelle Integration" sowie ihre Finanzlage sollen vor der Auftragsbearbeitung überprüft werden. Über 25.000 Personen wandern jährlich im Rahmen der Familienzusammenführung nach Frankreich ein. Villepin kündigte ferner an, dass die Behörden strikt über die Einhaltung des Verbots der Vielehe wachen und Verstösse ahnden. Die Heirat von Französinnen und Franzosen mit Ausländer/innen im Ausland soll künftig ebenfalls stärkeren Kontrollen unterworfen sein. Geplant ist zudem eine Beschleunigung der Asylverfahren. Die Umsetzung dieser Vorstellungen soll bereits Mitte Dezember erfolgen (nach Redaktionsschluss). (esf)

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Beitritts-
verhandlungen der EU mit der Türkei

 

Luxemburg. Nach 40 Jahren Wartezeit in Ankara ist der Startschuss gefallen: Die Europäische Union nimmt Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf. Bis es am 4. Oktober 2005 soweit war, hatte die Union der 25 noch einen langen Verhandlungsmarathon hinlegen müssen, der in der Öffentlichkeit einiges Kopfschütteln hervorrief: Österreich hatte plötzlich darauf beharrt, die Mitgliedschaft nicht als Verhandlungsziel zu nennen, sondern statt dessen über eine "starke Bindung" zu sprechen.

Erst in letzter Minute war es auf einem von der britischen Präsidentschaft einberufenen Krisentreffen in Luxemburg zu einer Einigung gekommen. Schließlich hatte Wien doch noch eingelenkt und die Mitgliedschaft der Türkei als gemeinsames Ziel der Verhandlungen akzeptiert. Über den Hinweis, die Aufnahmefähigkeit der EU und die faire Verteilung der finanziellen Belastungen des Türkeibeitrittes solle letztendlich Prüfstein der Verhandlungen sein, war aber nicht zu verhandeln. Österreich hat nach Deutschland und Frankreich den drittgrößten türkischen Bevölkerungsanteil Europas.

Zur Deutung des Verhaltens der österreichischen Regierung wurde in der Presse unter anderem mit der zweiten Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1683 die Geschichte zitiert. Die Türkei-Skeptiker Wiens sollten sich daran erinnern, "dass die Türken schon seit 322 Jahren nicht mehr mit Krummschwertern vor ihrer Hauptstadt stehen", urteilt spöttisch ein Kommentar der Süddeutschen Zeitung (SZ). Schon vor der EU-Osterweiterung zum 1. Mai 2004 hatten die Österreicher ihre Angst um Arbeitsplätze artikuliert, jetzt sei auch auf religiös-kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede hingewiesen worden. Auch in Versuchen einer innenpolitischen Inszenierung oder gar einer späten Rache für die "Sanktionen" der EU gegen die Mitte-Rechtsregierung unter Beteiligung von Jörg Haider sieht die SZ mögliche Gründe. Spätestens der Hilferuf Ankaras um Vermittlung Amerikas sei peinlich für die Vertreter der EU gewesen, deren Glaubwürdigkeit Schaden erlitten habe, urteilt das Blatt.

Dagegen sieht die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z)., die Wien "in der Sache" Recht gibt, gerade in dieser Aktion der Türkei eine "Methode, die Beleidigtsein mit Druckmachen" kombiniere. Die Grundfrage, ob der Türkei wirklich ein "logisch" legitimierter Platz in der EU zustände, sei weiter ungeklärt. "Österreich hat bestimmt in keiner Weise Schaden genommen, weil wir uns hier exponiert haben", glaubt der österreichische Bundeskanzler, Wolfgang Schüssel, in einem Interview mit der Zeitung DIE WELT.

Dass in der Türkei immer weniger Menschen einem möglichen EU-Beitritt zustimmen, berichtet unter anderem DER SPIEGEL. Im Oktober 2005 waren nur 60% der Türken für einen Beitritt, knapp drei Jahre zuvor seien es noch 85% gewesen. Das Nachrichtenmagazin urteilt, die Türkei starte "verbittert und illusionslos" in die Aufnahmeverhandlungen. Eine Entfremdung zwischen den Verhandlungspartnern könnte auch für die Türkei negative Konsequenzen haben: Dass das Land sich durch Reformen so weit verändert habe, habe auch mit der geradezu "systemsprengenden Wirkung" zu tun, den der Aussicht auf Beitrittsverhandlungen auf die Türkei gehabt habe, meint die Wochenzeitung Die Zeit.
Sachlich waren zwischen der Türkei und der EU zuletzt der Zypernkonflikt und das Thema Armenien kontrovers diskutiert worden. Noch zu Beginn des Jahrzehnts hatte es in der Türkei weitreichende Defizite gegeben, so dass sie die drei Kopenhagener Kriterien zum Beitritt in die EU nicht erfüllen konnte. Im Oktober 2004 bescheinigte der damalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen der Türkei jedoch die Beitrittsfähigkeit. Unabhängig von diesen objektiven Kriterien geht es in den kontroversen Debatten um einen möglichen EU-Beitritt des Landes auch um die Frage, inwieweit die Türkei nach geographischen, kulturellen und sozialen Aspekten zu Europa und damit zur Europäischen Union gehört. (gh)

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Zahl der türkischen Selbständigen steigt

 

Die an der Universität Duisburg-Essen angesiedelte Stiftung "Zentrum für Türkeistudien" (ZfT) hat im September 2005 eine aktuelle Studie vorgestellt. Unter dem Titel "Türkische Unternehmer in Deutschland und in der EU - Eine neue europäische Mittelschicht im Aufbruch" zeigt die Studie eine Wachstumsdynamik der türkischen Unternehmen in Deutschland und in der EU, die die Wachstumsraten der jeweiligen Volkswirtschaften deutlich übersteigt.

Mitte des Jahres 2005 hatte das ZfT 846 Unternehmen im Auftrag der Türkisch- Deutschen Industrie- und Handelskammer (TD-IHK) befragt. Eine Erhöhung des jährlichen Gesamtumsatzes in den vergangenen zehn Jahren um 87,5 Prozent auf heute mehr als 40,5 Milliarden Euro, eine annähernde Verdopplung der Investitionen und die Schaffung und Sicherung von 451.000 Arbeitsplätzen europaweit sprechen laut ZfT eine deutliche Sprache. In der Bundesrepublik sind 11,4 Prozent der 323.000 Beschäftigten Deutsche.

Mit ihrer Bereicherung für Warenangebote, Wettbewerb, Arbeits- und Ausbildungsmarkt, Integration und Internationalisierung seien die 94.000 türkischen Unternehmer in der EU Beleg für den hohen Stellenwert selbständigen Engagements in der türkischen Community. Zugleich relativiere die Wachstumsdynamik Befürchtungen von Arbeitsplatzkonkurrenz in Europa im Falle einer EU-Mitgliedschaft der Türkei, so ZfT-Direktor Faruk Sen: "In Deutschland verdreifachte sich die Zahl türkischer Selbstständiger in den letzten zwanzig Jahren von 22.000 auf 64.000. Verglichen mit dem Wachstum der türkischen Bevölkerung wuchs die Zahl türkischer Selbständiger und damit auch potentieller Arbeitgeber doppelt so schnell."

Bis 2015 prognostiziert die Studie ein Anwachsen der Zahl türkischer Selbstständiger europaweit auf 160.000 Unternehmen, 120.000 davon in Deutschland. Verbunden damit sind hohe Investitionen und eine Verdoppelung der Arbeitsplätze in Europa. Allein in Deutschland wären dann insgesamt 720.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Den Gesamtumsatz türkischer Unternehmer sieht das ZfT im Jahr 2015 bei insgesamt 87 Milliarden Euro in Europa und 66,5 Milliarden Euro in Deutschland.
Auch eine spezifische Untersuchung des ZfT über türkische Unternehmer im Land Berlin bestätigt diese positive Entwicklung. "Die Unternehmen haben ihr Döner-Image hinter sich gelassen. Zuwandererbetriebe bedienen keine ethnische Nische mehr", sagte Günter Piening, der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration. Er hatte die Untersuchung in Auftrag gegeben. Die Unternehmen seien weitaus stärker in das Berliner Wirtschaftsleben eingebunden als noch vor vier Jahren. Damals entstand eine erste Studie.

Aber auch einige Probleme seien anzumerken: Zunächst klagten viele der befragten Unternehmer über die mangelnde Kaufkraft als zentrales Standort-Problem. Außerdem ließen sich nur wenige Migranten vor der Existenzgründung oder sogar bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihres Betriebes professionell beraten. Hier sieht der Integrationsbeauftragte Handlungsbedarf für den Berliner Senat und die ansässigen Kammern. Die Zuwandererbetriebe müssten noch besser über die üblichen Verfahren der Wirtschaftsförderung informiert werden.

Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund, dass sich einige türkische Migranten auch aus der Arbeitslosigkeit heraus selbständig machen. (gh)

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