Integration in Deutschland 2/2006, 22.Jg., 30. Juni 2006

INTERVIEW

*) Langfassung der Print-Version


Wider den Kulturrelativismus

Diversity in der Justiz?

Seyran Ateş (Foto) ist eine türkischsprachige Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei in Berlin und setzt sich auch in der Öffentlichkeit für eine freie, selbstbestimmte Lebensweise der Frauen ein, insbesondere der Frauen in Migrantenfamilien. Für ihr unbeirrtes Eintreten für die Frauen- und Menschenrechte wurde ihr 2005 der Zivilcouragepreis verliehen und vom deutschen Staatsbürgerinnen-Verband zur „Frau des Jahres“ gewählt. Dieses Jahr erhält sie vom Humanistischen Verband Deutschland einen weiteren Menschen- rechtspreis: den Ossip-K.- Flechtheim Preis. AiD hatte Gelegenheit zu einem Gespräch mit Frau Ateş.

AiD: Als Rechtsanwältin in Berlin kommen Sie fast täglich mit der deutschen Justiz in Kontakt. Häufig geht es dabei, wie man aus Ihren Büchern und Vorträgen weiß, um familiäre Konfliktfälle, die sich aus dem unterschiedlichen kulturellen Hintergrund von Migranten und Deutschen bzw. von Migranten in Deutschland ergeben. Was meinen Sie: ist die deutsche Justiz auf diese Art von „Kulturkonflikt“ überhaupt eingestellt? Sind Richter und Staatsanwälte von ihrer Ausbildung darauf vorbereitet, mit diesen Konflikten angemessen umzugehen?

Ateş: Nein, überhaupt nicht. Die deutsche Justiz ist bisher nicht mal ansatzweise darauf eingestellt. Wenn man sich die Rechtsprechung zu den Unterrichtsbefreiungen anschaut, gibt es inzwischen einen Wandel. Einige Gerichte sagen beim Sexualkundeunterricht zum Beispiel – so kürzlich eine Entscheidung in Hamburg: Es ist selbstverständlich das Recht der Eltern, die Kinder in diesem Punkt zu erziehen. Sexualität ist aber ein so wichtiger Bereich, individuell, aber auch gesellschaftlich, dass der Staat, die Schule da eingreifen muss und deshalb keine Befreiung zulassen darf. Nun hat ein Richter eine gute Argumentation gefunden, eine gute Entscheidung im Sinne des Kindes getroffen, und vor solchen Entscheidungen haben bisher die meisten Gerichte zurückgeschreckt. Sie haben nicht in erster Linie tatsächlich den Schulauftrag, den Aufklärungs- und Bildungsauftrag des Staates gesehen, sondern haben die Interessen der Eltern in den Vordergrund gestellt, nämlich ihre Religiosität zu wahren.

Als überzeugte Vertreterin der Rechtsstaatlichkeit lehnen Sie einen sog. „Kulturrelativismus“ ab – eine Haltung also, die aus lauter political correctness sehr viel Toleranz auch in solchen Fällen fordert, wo Grenzen des Rechts oder der Gewaltfreiheit verletzt werden. Beobachten Sie eine derartige Haltung in manchen Teilen der Rechtspflege in Deutschland?

Genau das war der Kulturrelativismus, das war der Mainstream, dass gesagt wurde, wir haben hier Minderheiten, die wir schützen müssen und auf deren kulturelle Eigenheiten wir in der Form eingehen müssen, dass es sogar über unser eigenes für uns erschaffenes Recht und unsere Grundordnung hinausgeht.

Die Ausbildung ist bisher darauf nicht eingegangen. Die ist darauf nicht ausgerichtet. Es gibt keine Station in der juristischen Ausbildung, in der die Rechtsanwälte, Richter oder Staatsanwälte explizit auf die besondere Situation in der Zusammenarbeit mit Migranten vorbereitet werden. Daraus ergibt sich, dass wir teilweise sehr unglückliche Urteile haben.

Haben Rechtsanwälte mit Migrationshintergrund grundsätzlich einen Vorteil vor deutschen Kollegen, wenn es um das Verständnis kulturell bedingter Familienkonflikte geht?

Auf jeden Fall. Der Vorteil ist allein schon in der Sprache angelegt. Wenn die gleiche Sprache da ist, ist schon viel gewonnen. Und wenn ich denselben kulturellen Hintergrund habe, müssen Mandantinnen mir bestimmte Dinge gar nicht so ausführlich erklären bzw. kann ich Fragen sehr gezielt stellen. Die fühlen sich dann gut aufgehoben und verstanden. Da haben wir einen großen Vorteil. Gerade bei Familienkonflikten erfrage ich natürlich die Situation innerhalb der Familie, wie Schwester, Bruder, Tante, Onkel dazu stehen und sie wissen sofort, was ich damit meine und umgekehrt.

Glauben Sie, dass ein höherer Anteil von Rechtsanwälten, Richtern und Staatsanwälten mit Migrationshintergrund im deutschen Rechtssystem von Vorteil für die Rechtspflege wäre?

Es wäre auf jeden Fall ein Vorteil. Bei den Rechtsanwälten wächst ja nun ein neuer Stamm heran. Bei Staatsanwaltschaft und Richteramt ist Deutschland noch sehr zögerlich. Auch wenn es potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten gäbe, so meine ich doch, werden sie durch das Verfahren, auch wenn sie gleiche Examensnoten haben, ausgesiebt, weil man da noch sehr skeptisch ist.

Gibt es eigentlich formale oder informelle Hindernisse für ausländische Rechtsanwälte aus dem Nicht-EU-Raum beim Zutritt auf den deutschen „Markt“?

Beschränkungen gibt es für Juristen aus dem Nicht-EU-Raum. Man kann sich nicht einfach hier niederlassen, man muss schon deutsches Recht studiert haben. Es gibt für Anwälte aus der Türkei die Einschränkung: Ohne Aufenthaltserlaubnis darf hier keine Niederlassung erfolgen. Das ist oft schwer, wenn die sich mit ihrem türkischen Examen hier niederlassen, dann dürfen sie natürlich nur türkisches Recht bearbeiten.

Muss die Juristen-Ausbildung verbessert werden? Etwa mehr in Richtung „interkultureller Professionalität“?

Unbedingt, das sollte verpflichtend sein für alle und nicht nur für die Juristen mit Migrationshintergrund. Wir sollten alle Juristen darauf vorbereiten, dass unsere Gesellschaft eine multikulturelle Gesellschaft ist und dass sie in den nächsten Jahrzehnten immer mehr damit zu tun haben werden. Bald werden mehr als 50 % nichtdeutscher Herkunft sein. Dem muss die Ausbildung angepasst werden.

Sehen Sie denn dazu jetzt schon Ansätze in den juristischen Fakultäten oder ist das Problem eigentlich noch gar nicht richtig erkannt? Gibt es Fortbildungsangebote, die das Thema kulturell bedingter Konflikte aufgreifen?

Ich sehe Ansätze, dass es erkannt wird. Es gibt zum Beispiel in den Sommerunis Podiumsdiskussionen, zu denen ich auch geladen wurde. Deshalb weiß ich, dass da schon Ansätze da sind, aber sie sind natürlich noch sehr zaghaft. Es gibt auch Fortbildungsangebote. Kürzlich hörte ich von einer Fortbildungsveranstaltung für Richter und Staatsanwälte, die jetzt eine ein- oder zweiwöchige Tour durch die Türkei machen. So etwas gibt es schon.

Abschließend noch einmal die Frage: Glauben Sie, dass der Kulturrelativismus immer noch eine starke Position in diesem Land hat?

Ja, nach wie vor beherrscht uns der Kultur-relativismus. Das ist noch die Haltung, die stärker vorhanden ist als die andere, die wir jetzt in der Öffentlichkeit auch erleben und die jetzt stärker in Gang kommt: Die Debatte, dass wir zu unserem Grundgesetz stehen und keinen Kulturrelativismus betreiben dürfen. Aber die Mehrheit ist noch gefangen in einer gewissen Unsicherheit. Ich meine sogar, dass die Mehrheit sich lieber aufgrund von Unwissenheit zurückhält. Das größere Problem ist demnach der Mangel an Aufklärung, als das bewusste Sich-dafür-entscheiden, Minderheiten zu bevorzugen.


Das Gespräch führte Martin Zwick, isoplan

[ Seitenanfang ]


Interkulturelle Öffnung

(Langfassung der Print-Version)

Berlin/Wuppertal. Immer mehr öffentliche Verwaltungen beginnen mit Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung. So hat der Berliner Integrationsbeauftragte Günter Piening Anfang Juni 2006 eine Informationskampagne "Berlin braucht dich!" zur Erhöhung des Ausländeranteils in der Berliner Verwaltung, vorgestellt. Obwohl jeder siebte Berliner Ausländer sei, gelte das im öffentlichen Dienst nur für einen von 100 Auszubildenden. Eine vom Beruflichen Qualifizierungsnetzwerk für Migrantinnen und Migranten (BQN Berlin) in Auftrag gegebene Studie führt dies darauf zurück, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund an den Schulen nicht angemessen vorbereitet werden. Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass die Jugendlichen, ihre Eltern und Lehrer zu wenig über Ausbildungsmöglichkeiten im Öffentlichen Dienst wissen. Zudem sei das Info-Material zur Berufsorientierung nicht auf diese Zielgruppen zugeschnitten.

Die Kampagne "Berlin braucht dich!" soll das ändern. Ziel ist es, möglichst viele jugendliche Migrantinnen und Migranten, ihre Eltern und Lehrer über die Ausbildung im Öffentlichen Dienst zu informieren und den Anteil von Azubis mit Migrationshintergrund im Ausbildungsjahr 2006/2007 zu erhöhen. Insbesondere Schülerinnen und Schüler der neunten und zehnten Klassen sollen motiviert werden, sich zu bewerben. Die im Mittelpunkt der Kampagne stehende Botschaft "Berlin braucht dich!" richtet sich direkt an die Jugendlichen und verdeutlicht, dass das Land Berlin ihnen mit ihren sprachlichen und kulturellen Kompetenzen einen Platz bieten möchte. Gleichzeitig wird an die Jugendlichen appelliert, sich für Berlin zu engagieren.

Neben einer Erhöhung des Migrantenanteils bemühen sich einige Kommunen auch um eine Verbesserung der Kommunikation mit Migranten. "Wer beauftragt die Verwaltung bzw. sagt ihr was sie tun soll?", "Welche Prioritäten werden beim Einsatz der finanziellen Mittel gesetzt?" - diese Fragen interessieren auch Bürger mit Migrationshintergrund. Die Stadtverwaltung Wuppertal hat daher eine Dialogreihe "Verwaltung stellt sich vor" gestartet. Organisiert wird die Reihe von Suzan Öcal, die bei der Stadtverwaltung für interkulturelle Fortbildungen zuständig ist. Am 5. April 2006 fand die erste Veranstaltung statt. Mehr als 50 Personen, vor allem Multiplikatoren von Migrationsausschuss und Migrantenselbstorganisationen nahmen teil.

In Gesprächen mit Verwaltungsmitarbeitern und Wuppertalern deutscher wie auch nichtdeutscher Herkunft war immer wieder deutlich geworden, dass man die jeweils anderen nicht kennt und somit auch Verhaltensweisen nicht nachvollziehen kann, schildert Öcal den Hintergrund der Reihe. Verwaltung sei für Menschen mit Migrationshintergrund (und deutschstämmige Wuppertaler) oft nur "ein großes Ganzes, mit dem man selten in Berührung kommt". So stehe man sich in der konkreten Situation auf dem Amt oft nur als Mitglied einer fremden Gruppe gegenüber: hier der Verwaltungsmitarbeiter, dort der Migrant. Dies führe, so Öcal, "auf beiden Seiten häufig zu Vorbehalten und Missverständnissen, die vermeidbar wären, wenn man mehr übereinander wüsste und sich auch in anderen Zusammenhängen begegnen würde".

Die Dialogreihe steht im Kontext von Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung: Das Thema Integration und Migration soll mittels Projekten, Maßnahmen und Veranstaltungen breiter als bisher in den Verwaltungsstrukturen verankert und weiterentwickelt werden. So werden interkulturelle Fortbildungen für Mitarbeiter der Verwaltung angeboten sowie Seminare und Veranstaltungen organisiert. Des Weiteren findet ein Austausch mit Fachleuten aus den unterschiedlichen Bereichen statt. (esf)

Kontakte: 

Suzan Öcal, Fachreferentin Interkulturelle Fortbildungen, Stadt Wuppertal, Ressort Zuwanderung & Integration, Am Clef 58 - 62, 42269 Wuppertal, Tel.: 0151/16320887, Suzan.Oecal@stadt.wuppertal.de

Der Beauftragte für Integration und Migration, BQN Berlin, Eva Habig, Potsdamer Straße 65, 10785 Berlin, Tel.: 030/9017-2357 oder -2370, Fax: 030/2625407 oder -2320, info@berlin-braucht-dich.de, www.integrationsbeauftragter-berlin.de oder www.berlin-braucht-dich.de

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.