Integration in Deutschland 4/2006, 22.Jg., 15. Dezember 2006

WOHNEN

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Integration durch Nachbarschaft

Wo und wie wohnen Migranten?

In den vergangenen Jahren herrschte die Hoffnung vor, wenn Einheimische und Zuwanderer lange genug nebeneinander lebten, würde Integration schon gelingen. Heute hat man erkannt: In vielen Quartieren wohnen Migranten und sozial schwächere Gruppen konzentriert. Patentrezepte, wie Migranten über das "Wohnen im Quartier" zu integrieren sind, existieren nicht. Jedoch zahlreiche neue Sichtweisen und Erkenntnisse, wo Verbesserungspotenzial besteht.



Idylle im eigenen Garten – Eigentumsbildung fördert die Integration

In vielen Quartieren kumulieren heute soziale und städtebauliche Probleme derart, dass die Abwärtsbewegung dieser Stadtteile nur schwerlich zu stoppen scheint. Zumeist ist in diesen Gebieten der Migrantenanteil überdurchschnittlich hoch. Experten rechnen mit einer weiteren Verschärfung dieser Probleme, insbesondere in den "Restbeständen" des sozialen Wohnungsbaus, wo sich ethnische und soziale Segregation vermischen.

Warum wohnen Migranten in bestimmten Quartieren? Leben sie isoliert und segregiert? Welche Ansprüche haben sie an den Wohnungsmarkt? Hat sich der Ansatz der Politik, auf möglichst viel "Durchmischung" in der Bewohnerschaft von Quartieren zu achten, bewährt?

Determinanten der Wohnortwahl

Primär ausschlaggebend für die Wohnortwahl von Migranten sind bestehende familiäre Bindungen, die räumliche Nähe zu Landsleuten oder ethnische Netzwerke, insbesondere für nachziehende Ehegatten und Kinder. Für ausländische Studierende oder Arbeitsmigranten ist die Möglichkeit zum Studium oder zur Aufnahme einer Beschäftigung das maßgebliche Kriterium bei der Wohnort- bzw. Arbeitsplatzwahl. Als dritter Faktor verliert eine möglichst geringe Distanz zum Heimatland in Zeiten von Billigairlines und moderner Kommunikation nach und nach an Bedeutung.

Für die Art der Unterkunft der Migranten, d.h. Wohneigentum sowie Mietverhältnisse in- und außerhalb des sozialen Wohnungsbaus, Untermietverhältnisse) sind weitere Einflussfaktoren von Bedeutung: Der sozioökonomische Status und damit die Kaufkraft der Migranten entscheidet maßgeblich über den Wohnstandort und die Qualität des Wohnraums. Darüber hinaus existieren angebotsseitige Beschränkungen in Form von "Ausländerquoten", die in einigen städtischen Quartieren in Deutschland, insbesondere solchen des sozialen Wohnungsbaus, den Anteil ausländischer Mieter begrenzen sollen. Solche Quoten bewegen sich zwar in einer rechtlichen Grauzone, werden jedoch häufig angewandt. So heißt es zum Beispiel in dem Bericht "Ausländerintegration in Bayern" der bayerischen Staatsregierung von 1999, dass bei einem Anteil ausländischer Haushalte in Sozialwohnungsgebäuden und -anlagen von mehr als 25 % "das sozialgerechte und integrationsfördernde Wohnen von Ausländerinnen und Ausländern in Frage gesellt" sei. Darüber hinaus treten zuweilen individuelle Diskriminierungen durch Vermieter oder Makler auf.

Nachfrageseitige Beschränkungen auf dem Wohnungsmarkt bestehen insofern, als Migranten Wohnraum häufig über informelle Kanäle suchen, d.h. über Verwandte und Bekannte und nicht über offizielle Medien. Bestimmte Bereiche des Wohnungsmarktes bleiben ihnen somit verschlossen. Letztendlich entscheiden auch die subjektiven Einstellungen und Präferenzen der Migranten über die Art der Unterkunft.

Empfehlung des Expertenforums: Wohneigentumsbildung
"Allein aufgrund der Altersstruktur der zugewanderten Bevölkerung im Vergleich zur einheimischen wird deren Anteil an den Haushaltsgründungen künftig stark ansteigen und sich auch in vermehrter Nachfrage nach Wohneigentum niederschlagen. Für die Standortentscheidung beim Wohneigentumserwerb von Zuwanderern ist vor allem die Nähe zu Familie und Verwandtschaft das maßgebliche Kriterium. Zuwandererhaushalte können aufgrund langjähriger Verbundenheit mit "ihrer" Mietwohnung und mit einem Quartier, in dem die Familie lebt, eine wachsende Nachfragergruppe bei einer Privatisierung der von ihnen bewohnten Bestände bilden. Privatisierung muss immer sozialverträglich erfolgen, d.h., das Ersterwerbsrecht der Mieter sollte gesichert sein… Der Wunsch von Zuwanderern nach dem Erwerb von Wohneigentum weist häufig auf ihre Integrations- und Aufstiegsorientierung hin. Die Wohnungsunternehmen sollten daher auf solche Bedarfe eingehen."

Wandel der Wohnformen

Die Wohnsituation von Migranten hat sich im Laufe der Jahrzehnte entscheidend gewandelt. Als "Gastarbeiter" mit der Absicht, nur wenige Jahre in Deutschland zu arbeiten und zu leben, wohnten sie anfänglich meist in behelfsmäßigen und schlecht ausgestatteten Sammelunterkünften. Mit der Verfestigung ihres Aufenthalts und insbesondere mit dem Familiennachzug änderten sich die Wohnverhältnisse, nicht zuletzt deshalb, weil ab 1981 für den Familiennachzug eine "ordnungsgemäße, nicht unzureichende und familiengerechte Wohnung" nachgewiesen werden musste.

Gleichwohl änderten sich im Zeitverlauf auch die Wohnverhältnisse der einheimischen Bevölkerung, so dass heute nach wie vor Unterschiede zwischen den Wohnverhältnissen von Deutschen und Migranten ausgemacht werden: "Ausländische Haushalte sind häufiger Mieter als deutsche, leben - anders als die Deutschen - zum weitaus überwiegenden Teil in größeren Gebäuden mit mindestens drei Wohneinheiten, sind durchschnittlich später eingezogen, haben kleinere Wohnungen, zahlen dafür mehr Bruttokaltmiete je Quadratmeter und müssen einen größeren Anteils ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben", so das Statistische Bundesamt.

Die Art der Unterkunft ist mitunter ein wichtiger Indikator für die Wohnsicherheit und damit auch die strukturelle Integration. Nach einer Auswertung der Mikrozensusdaten waren laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2002 rund 15 % der befragten ausländischen Haushalte Wohneigentümer, knapp 80 % lebten in Hauptmieterhaushalten und rund 6 % in Untermietverhältnissen oder Wohnheimen. Bei deutschen Haushalten sind rund 43 % Eigentümer, 54 % Hauptmieter und knapp 3 % Untermieter oder Wohnheimbewohner. Bei beiden Gruppen ist der Anteil der Eigentümer zwischen 1993 und 2002 gestiegen, bei den Ausländern jedoch überproportional stark (+64 % gegenüber +20 % bei den Deutschen).


Leben in multikulturellen Vierteln – eine Muslimin in Kreuzberg

Siedlungsschwerpunkte von Migranten befinden sich heute oftmals dort, wo noch Sozialwohnungsbestände zur Verfügung stehen, in den Großsiedlungen der 1970-er Jahre und dort, wo in den 1990-er Jahren Siedlungen im sozialen Wohnungsbau errichtet wurden. Schwerpunkte gibt es auch, wo Altbaubestände nicht modernisiert wurden und die Mieten daher vergleichsweise günstig sind. Oftmals kumulieren in diesen Siedlungen soziale Probleme, weil sozial schwächere Gruppen konzentriert leben.

Vermieter und Wohnungsunternehmen messen die Problematik einzelner Siedlungsbereiche an pragmatischen Vermietungskriterien. Siedlungsbereiche gelten dann als problematisch, wenn eine Neuvermietung von Wohnungen an "solvente" Mieter nur noch eingeschränkt möglich ist. Zunächst hat dies nichts damit zu tun, ob in diesem Siedlungsbereich Deutsche oder Migranten wohnen, sondern ob es sich aufgrund der wirtschaftlichen oder sozialen Situation eines Großteils der Bewohnerschaft um ein Wohngebiet mit einem "schlechten Ruf" handelt. Hat ein Wohngebiet erst einmal einen solchen "schlechten Ruf", ist es umso schwieriger, diesen wieder rückgängig zu machen.

Empfehlung des Expertenforums: Sicherheitsempfinden im Quartier
"Die Beeinträchtigung des Sicherheitsempfindens bei Bewohnern eines Quartiers wirkt integrationshemmend. Diffuse Ängste werden in der Regel auf Fremde projiziert, also auf Personen, die sich durch Aussehen, Sprache und Kultur von den Einheimischen unterscheiden… Häufigste Quelle von Konflikten im Quartier sind nach wie vor die Themen Sauberkeit, Ordnung und Ruhe. Sie sind zugleich auch wichtige Indikatoren "guter" Wohnverhältnisse und "guter" Lagen, und zwar unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit. Trotzdem bestehen hinsichtlich dieser Faktoren immer noch erhebliche Vorurteile gegenüber Zuwanderern. Sauberkeit und Ordnung fördern die Identifikation mit dem Haus und seiner Umgebung."

Integration und Ausgrenzung

Die Wohnsituation von Migranten, unabhängig von der Art der Unterkunft, ist zum einen durch subjektive Entscheidungsmuster geprägt, zum anderen auch durch die Art und Weise des Zusammenlebens mit den Nachbarn. Hinsichtlich der subjektiven Kriterien zeigt sich, dass tendenziell die Mobilität von Migranten geringer ist. Umgezogen wird in der Regel erst, wenn der Familienzuwachs es unumgänglich macht. Wenn umgezogen wird, dann eher in einem engen Umkreis. Man bleibt gerne im Quartier, wo die Eltern und Geschwister wohnen.

"Familienzentriertheit, Homogenität und Lokalität sind typisch für die sozialen Netze von Angehörigen der Unterschicht. Bei Migranten ist dieser Sachverhalt noch ausgeprägter. Das hängt zum Einen mit der Situation der Migration zusammen. Man musste viele zurücklassen. Zum Zweiten kommen die türkischen Migranten aus einem Land, in dem sozialstaatliche Sicherungen kaum ausgebaut sind, weshalb die Familie als Unterstützungssystem in fast allen Notfällen das einzige Hilfesystem darstellt. Dementsprechend kommt der Familie hohe Bedeutung zu. Drittens ist die Distanz zu den Deutschen hoch. Über sie sind uns die üblichen Stereotypen von den kalten, Autoritäten und isoliert lebenden Deutschen genannt worden", so die Aussage im Rahmen einer Studie zur subjektiven und objektiven Integration im Auftrag der Schader-Stiftung (s.u.).

Das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Migranten ist nicht immer konfliktfrei. Wohnungsunternehmen berichten, dass Nachbarn aus westeuropäischen Ländern von Deutschen kaum noch als Ausländer gesehen werden. Sie leben oftmals schon lange in Deutschland, haben sich an deutsche Umgangsformen angepasst, beherrschen die Sprache und pflegen Kontakte zu ihren deutschen Nachbarn. Sie werden daher in aller Regel akzeptiert. Ähnliches gilt für Nachbarn, die aus anderen Ländern stammen, z.B. der Türkei, mittlerweile aber in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben.

Vor allem Mieter aus islamisch geprägten Ländern werden jedoch als "Ausländer" wahrgenommen, erst recht, wenn zur kulturellen Komponente fehlende deutsche Sprachkenntnisse sowie wirtschaftlich problematische Verhältnisse hinzukommen. Auch Spätaussiedler fallen oftmals negativ auf, durch Arbeitslosigkeit, fehlende Deutschkenntnisse und eine erhöhte Kriminalitätsrate. Sowohl mit islamischen Migranten als auch mit Spätaussiedlern möchten deutsche Mieter nach Aussage von Wohnungsunternehmen tendenziell nicht im gleichen Haus oder in unmittelbarer Nachbarschaft wohnen. Als Gründe werden sowohl Probleme mit der Hausordnung als auch der nur schwer herzustellende Kontakt zu ihnen genannt. Bei den Hausordnungsproblemen geht es in erster Linie um die Größe der Familien, den häufigen Besuch von Verwandten und damit verbundenen Lärm. Die Bereitschaft der Deutschen, ausländische Nachbarn zu akzeptieren, wird noch stärker gemindert, wenn seitens der Migranten kein Interesse an Kontakt gezeigt wird, insbesondere seitens "Kopftuch tragender Frauen".

In der Regel akzeptieren die etablierten deutschen Mieter, dass einzelne Migrantenfamilien, die kulturell zu den wenig integrierten zählen, in ihrer Nachbarschaft wohnen. Wenn jedoch weitere Wohnungen frei werden, melden sich deutsche Mieter zuweilen bei der Hausverwaltung mit dem Hinweis, dass nicht noch mehr ausländische Familien einziehen sollten. Die deutschen Mieter sehen die Gefahr, dass der Siedlungsbereich dadurch zu einem sozialen Brennpunkt werden könnte, der dann von deutschen Haushalten gemieden wird.

Empfehlung des Expertenforums: Integration trotz Segregation
"Auch in Deutschland findet eine räumliche Konzentration von Zuwanderern in den Städten statt und ist letztlich nicht zu verhindern. Zu einem gewissen Teil sollte sie auch nicht verhindert oder behindert werden. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass die "Mischung" von Zuwanderern und Einheimischen in den Wohnquartieren der Städte ein handhabbares Instrument zur Integration der Zuwanderer in die Aufnahmegesellschaft ist. Freiwillige ethnische Segregation ist weder zu vermeiden noch ist sie von vornherein schädlich für eine erfolgreiche Integration von Zuwanderern."

Desegregation als Erfolgsmodell?

Bislang war die allgemeine Wohnungs- und Stadtpolitik in Deutschland in erster Linie desegregativ ausgerichtet. Die angestrebte soziale Mischung und Gleichverteilung ausländischer Haushalte auf den Haus- und Wohnungsbestand war in der Regel bis heute auch die Vorgehensweise von Wohnungsunternehmen. Die "landläufige" Quote von 20 % Ausländeranteil wurde nur ungern überschritten.

Insbesondere Wohnungsunternehmen, für die die Vermietbarkeit ihrer Wohnungsbestände oberste Priorität hat, stellen sich mehr und mehr die Frage, ob diese versuchte Gleichverteilung noch sinnvoll und zeitgemäß ist. Sie scheint zwar den Wünschen deutscher Bewohner zu entsprechen, lässt jedoch die Wohnungswünsche von Migrantenfamilien - zukünftig eine wichtige Kundengruppe auf dem Mietermarkt - weitgehend außer Acht. Migranten, insbesondere jene, die noch nicht lange in Deutschland leben, suchen für ihre Familien relativ große Wohnungen und möchten häufig in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren Verwandten leben. Vereinzelt gibt es in Wohnungsunternehmen daher Ansätze, das Zusammenwohnen von ausländischen Haushalten in zusammenhängenden Häuserzeilen nicht nur zu akzeptieren, sondern zur Vermietungsstrategie zu machen.


Aufwertung der Fassaden durch Fenster- und Farbgestaltung – neues Erscheinungsbild für Sozialwohnungsbau in Darmstadt

Empfehlung des Expertenforums: Kompetenzen und Angebote in Wohnungsunternehmen
"Integration zählt zwar nicht zu den Kernaufgaben der Wohnungsunternehmen, dennoch liegen eigene Aktivitäten zur sozialen Stabilisierung von Quartieren mit hohem Zuwandereranteil durchaus auch in ihrem wirtschaftlichen Interesse… Bei denjenigen Wohnungsunternehmen, in denen häufig noch keine ausreichenden Kenntnisse und keine entsprechende Sensibilität für die Thematik vorhanden sind und in denen Zuwanderer andererseits eine wichtige Kundengruppe bilden, erscheint es sinnvoll, Mitarbeiter interkulturell zu schulen bzw. Mitarbeiter mit Migrationshintergrund vermehrt im Unternehmen zu beschäftigen."

Wohnwünsche und Anprüche

Untersuchungen zeigen, dass sich bei ausländischen Familien mit den deutschen Sprachkenntnissen und dem sozialen und ökonomischen Aufstieg die Wohnwünsche in gleicher Weise entwickeln wie bei deutschen Familien. Man bevorzugt "bessere" Wohngegenden und erwägt den Kauf eines eigenen Hauses. Mit fortgeschrittener Integration nimmt der Anteil derjenigen ausländischen Haushalte zu, deren Wunsch es ist, dort zu leben, wo sie die für sie passende Wohnung finden.

Es wird beobachtet, dass Migrantenfamilien immer seltener Wohnungen akzeptieren, deren Ausstattungs- und Instandhaltungsstandard unter den durchschnittlich üblichen Normen liegen. Eine allmähliche Angleichung der Bedürfnisse wird immer deutlicher. Wohnungsunternehmen und Vermieter müssen darauf reagieren, wollen sie bei dem in Zukunft immer größer werdenden Angebot an Wohnungen eine Chance haben. Gleichzeitig sollten die Mitarbeiter von Wohnungsunternehmen, die direkten Kontakt zur Zielgruppe Migranten haben, interkulturell geschult werden und Personen mit Migrationshintergrund als Mitarbeiter eingestellt werden. Der Bedarf nach kultureller Öffnung auf dem Wohnungsmarkt wächst ohne Zweifel.


Autorin: Vanessa Franz, isoplan

Quelle: Verbundpartner "Zuwanderer in der Stadt" (Schader-Stiftung, Deutscher Städtetag, GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, Deutsches Institut für Urbanistik, Institut für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung GmbH an der Ruhr-Universität Bochum): Zuwanderer in der Stadt - Expertisen zum Projekt, Darmstadt 2005

Die Empfehlungen des Expertensforums stammen aus folgender Publikation: Verbundpartner "Zuwanderer in der Stadt" (Hrsg.): Zuwanderer in der Stadt. Empfehlungen zur stadträumlichen Integrationspolitik

Seminare zu interkultureller Kompetenz, insbesondere für die Wohnungswirtschaft: siehe www.kiq-training.de 

[ Seitenanfang ]


Eisdielen und andere Innovationen

Die erste Eisdiele überhaupt wurde 1660 in Paris von Francesco Procopio eröffnet. In Deutschland gibt es heute rund 4.000 Eisdielen, gut 3.000 davon werden von Italienern geführt. Wie kam es zu dieser Dominanz? Harald Martenstein hat dies für die Wochenzeitung ZEIT recherchiert (DIE ZEIT vom 06.07.2006). Er fand heraus, dass von den 3.000 italienisch geführten Eisdielen in Deutschland drei Viertel aus einem bestimmten Tal, dem Val di Zoldo am Rand der Dolomiten, stammen. Um 1850, in einer Zeit, in der die Menschen dort bitterarm waren, konzentrierten sie sich auf das Eismachen. Gelati als Weg aus der Armut. Aber erst als 1906 in Wien die elektrische Eismaschine erfunden wurde, begann der Boom. Viele Eismacher aus dem Zoldotal zogen nach Norden. Vor allem in den 1920er-Jahren eröffneten überall in Deutschland Eisdielen. So gehörte die italienische Eisdiele zu den "kulturellen Errungenschaften der Weimarer Republik", resümiert Martenstein. Carola Rönneburg hat in "Grazie Mille" (Herder Verlag 2005) noch weiter im historischen Eis gegraben und fand ein deutsches Gesetz, das den Verkauf von italienischem Eis auf der Straße untersagte. In Braunschweig sei Ende des 19. Jahrhunderts besonders eifrig Eis produziert worden. Von 1891 bis 1903 habe hier der Gelatiere Vittorio Toscani noch mehr oder weniger allein gewirkt, doch schon 1911 seien 35 Speiseeishersteller registriert gewesen. Da das Eis in kleinen Kübeln transportiert und aus Kühlbottichen heraus verkauft wurde, warnten die Stadtoberen vor gesundheitlichen Gefahren, aber auch unsittlichen Gesprächen im Umfeld der Eiswagen. Aus einem Appell an den Deutschen Städtetag, diesem Treiben ein Ende zu bereiten, entstand das genannte Gesetz. Mit der Folge, dass fortan nur noch in festen Etablissements Eis verkauft werden durfte - die Geburtsstunde der Eiscafés und Eisdielen, die sich von altdeutschen Gasthäusern vor allem durch ein moderneres Ambiente auszeichneten. Zunächst aber verkauften die Eismacher aus den Fenstern ihrer Wohnungen heraus - und stellten kleine Holzpodeste davor (genannt "Dielen"), damit auch Kinder über das Fensterbrett gucken konnten. Daher der Name "Eisdiele". Heute hat das Eiscafé einen festen Platz im Bonner Haus der Geschichte - konkret das der Familie Giacomel aus Hamburg, das von 1955 bis 1989 bestand.

Aus Sicht der AiD-Redaktion zu betonen ist, dass die "klassische italienische Eisdiele" eine von mehreren Innovationen von Migranten darstellt, durch die unser Leben bereichert wurde. Im AiD-Sammelsurium haben wir daher eine entsprechende neue Rubrik eingerichtet. Dort finden sich auch die in AiD 3/06 beschriebenen "Caffs" in London, der unvermeidliche Döner Kebab, Cross-Over-Musikstile, aber auch Hi-Tech-Innovationen wie die Internetsysteme PayPal und YouTube. (esf)

[ Seitenanfang ]


Dritte "Soziale Stadt"-Befragung

 

Berlin. Im Rahmen der Begleitung des Programms Soziale Stadt wurden vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) in den Jahren 2000 - 2002 zwei Befragungen in den Programmgebieten durchgeführt, die als Basis für die bundesweite Zwischenevaluierung dienten. Um das empirische Wissen zur Programmumsetzung und zu den Wirkungen in den Stadtteilen zu aktualisieren, wurde das Difu als Bundestransferstelle Soziale Stadt im Sommer 2005 von BMVBS und BBR beauftragt, eine dritte Befragung vorzubereiten und durchzuführen. Die zentralen Ergebnisse und Empfehlungen dieser dritten Umfrage sind Mitte November 2006 im Internet veröffentlicht worden: http://www.sozialestadt.de/
veroeffentlichungen/DF10664.pdf
. Autoren und Autorinnen sind Heidede Becker, Stephanie Bock, Christa Böhme und Thomas Franke. (esf)

[ Seitenanfang ]


Aktivierung heißt: Der Patient soll sich selbst waschen

 

Schmerz ist nicht gleich Schmerz: Es tut ständig weh oder es sticht, pocht, zieht, brennt… Die Haut ist nicht einfach trocken, sondern schuppig, rissig, juckend oder nässend. Das ist keine Übung im kreativen Schreiben: Es geht vielmehr um das tägliche Protokollieren in der Altenpflege. Die genaue Beschreibung ist für den behandelnden Arzt und für die Angehörigen sehr wichtig. In den letzten 10 bis 15 Jahren hat sich die Pflege "verschriftlicht" und "verrechtlicht", beobachten Spezialisten. Gleichzeitig finden immer mehr Migranten einen Job in dem boomenden Dienstleistungsbereich: In den nordrhein-westfälischen Altenheimen beispielsweise ist rund ein Drittel der Beschäftigten ausländischer Herkunft, so eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE). Im Durchschnitt arbeiten sie fünf Jahre und mehr in dem Beruf und stammen vorwiegend aus Ost- und Südosteuropa.

Die Osteuropäer gelten als "freundlich und belastbar" und kommen mit der Umgangssprache Deutsch in der Regel gut zurecht. Aber bei der Dokumentation ihrer täglichen Handlungen wie Waschen, Betten, Medizin Verabreichen, bemängeln viele Heimleiter Lücken. Leistung, die nicht schriftlich festgehalten ist, gilt als nicht erbracht, wird also von der Versicherung nicht bezahlt, Punkt, aus. Deshalb hat DIE einen berufsbegleitenden Deutschkurs konzipiert, der speziell auf das Personal der Altenpflege zugeschnitten ist. Dort tauchen z.B. Fachbegriffe wie "Egon", "Ente" und "Galgen" auf und das Wort "Aktivierung" wird übersetzt: "Der Patient soll sich selbst waschen, wenn er das noch kann".

Wenn Akzent auf Dialekt trifft, ist das in der ambulanten Pflege ein besonderes Problem, so Ruth Ketzer vom Caritas-Verband Rhein-Sieg auf einer DIE-Tagung. Der Pfleger oder die Pflegerin sucht den alten Menschen zu Hause auf, ist allein mit ihm und jahrelang für ihn zuständig. Für den Patienten sei der Pflegebesuch oft der Höhepunkt des Tages. Die eingeschränkte Kommunikation führe dazu, dass sich mancher Kunde beschwere und einen einheimischen Pfleger wünsche. DIE-Projektleiter, Jorg Friebe, sieht Fortbildungsbedarf auch in der sogenannten Biografiearbeit. Migranten haben naturgemäß weniger Kenntnisse über die Vergangenheit ihrer deutschen Patienten. Und selbst wenn es um dieselben historischen Ereignisse geht: Ein alter Deutscher erinnert sich an den Krieg anders als die Eltern und Großeltern der Pfleger aus Polen oder der ehemaligen Sowjetunion.

Migranten nehmen zurzeit selten ambulante oder stationäre Dienste in Anspruch. Die meisten werden in der Familie betreut, aber das muss nicht so bleiben. Die Angehörigen sind berufstätig und wohnen oft beengt. Im Jahr 2005 waren von den 6,7 Mio. Ausländern und Ausländerinnen in Deutschland rund 750 000 über 60 Jahre alt, so das Kuratorium Deutsche Altershilfe. Bis zum Jahr 2030 soll diese Zahl bereits bei 3 Mio. liegen. Multikulturelle Altenheime wie das Duisburger Pilotprojekt des Roten Kreuzes sind die Ausnahme. Ob die wachsende Anzahl der Migranten beim Pflegepersonal der wachsenden Anzahl von Migranten unter den Patienten zugute kommt, wird sich noch herausstellen: Die Senioren kommen aus anderen Ländern und die eingewanderten Pfleger bringen nicht unbedingt das Verständnis für fremde Kulturen gleich mit.

In der Marktnische entstehen zunehmend auf die spezifische Ethnie zugeschnittene Angebote. Migranten versorgen die eigenen Landsleute, jedoch nicht familiär oder nachbarschaftlich, sondern professionell. Der ambulante Pflegedienst "Julia" unterstützt russischsprachige Senioren in Köln: auch beim Einkaufen, Arztbesuch und dem Ausfüllen amtlicher Papiere. Ebenfalls dort gibt es seit diesem Jahr eine betreute WG für Demenzkranke. Betrieben wird sie von der Selbsthilfeorganisation der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion "Phönix". Die Idee kam dem Phönix-Gründer Viktor Ostrowski, als seine Mutter an Alzheimer erkrankte. Eine "Ein-Euro-Jobberin" nimmt sich Zeit, mit den verwirrten Alten einfach auf Russisch zu reden und in gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen: Wie hat das Gebäck vor 40 Jahren geschmeckt, wie viel hat es gekostet?

Auch für Celal Altun war ein privates Problem ausschlaggebend: Sein Vater litt lieber Schmerzen, als vor einer Krankenschwester seinen Unterleib zu entblößen. Nun eröffnet Altun, Vorsitzender der türkischen Gemeinde in Berlin, zusammen mit der Marseille-Kliniken AG das erste türkische Altenheim. Mahlzeiten ohne Schweinefleisch, orientalisches Flair und großzügige Besuchszeiten gehören dazu, aber kosten darf es möglichst wenig. Denn die Durchschnittsrenten der ehemaligen Gastarbeiter sind bis zu 20 Prozent kleiner als die deutschen. Das Wichtigste: Männer werden von Männern gepflegt und Frauen von Frauen. Das Personal soll zweisprachig sein. Denn, selbst wenn sich Patienten und Pfleger die ganze Zeit nur in der Muttersprache unterhalten: Dokumentiert wird rechtsgültig auf Deutsch.


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.