Ausländer in Deutschland
3/1999, 15.Jg., 30. September 1999
TÜRKEI |
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Landflucht und VerstädterungHintergründe zum Erdbeben
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Das Erdbeben vom 17. August mit schätzungsweise über 40.000 Toten und knapp 300.000 Obdachlosen brachte es an den Tag: Die Türkei kämpft seit Jahren mit einer enormen Landflucht und einer weitestgehend unkontrollierten und unkontrollierbaren Verstädterung. Nun sind mehr als 120.000 Häuser zerstört - vor allem Häuser von Zuwanderern, die zum Teil unter grober Mißachtung der bestehenden strengen Bauvorschriften in Billigbauweise errichtet worden waren. Seit der ersten Volkszählung im Jahr 1927, bei der 13,5 Millionen Einwohner registriert wurden, hat sich die türkische Bevölkerung fast verfünffacht. 70 Jahre später ergab die Volkszählung vom 30.11.1997 eine Einwohnerzahl von 62,9 Millionen[1]. Für Mitte 1999 wird die Bevölkerung auf 64,4 Millionen geschätzt. Mit 1,5 Prozent blieb der durchschnittliche Anstieg des Bevölkerungswachstums 1997 hinter den Wachstumsraten früherer Zählungen deutlich zurück: 1960 waren es noch 2,8 Prozent, 1980 noch 2,0 Prozent. Dieser insgesamt enorme Bevölkerungszuwachs stellt das Land vor wachsende Probleme der Beschäftigung und der sozialen Infrastruktur, führt seit den 60er-Jahren zu Landflucht und überproportional rascher Verstädterung. Die starke Binnenmigration ist aber nicht nur eine Folge des Bevölkerungswachstums, sondern auch des Ost-West-Gefälles der Wirtschaftsstruktur und in den südöstlichen Provinzen auch des Krieges. Die Pfeile unserer Karte zeigen die Richtungen des Entwicklungsgefälles und die drei Dimensionen der Bevölkerungsverschiebungen von benachteiligten zu begünstigten Regionen: vom Gebirge in die Beckenlandschaften bzw. vom Land in die Stadt (kleine Pfeile), vom Landesinneren an die Küste (mittelgroße Pfeile) und von Ost nach West (großer Pfeil). Besonders augenscheinlich ist die Abwanderung vom Land in die städtischen Gebiete: 1980 wurden noch 49,2 Prozent der Türken zur Stadtbevölkerung gezählt, 1997 waren es bereits 65 Prozent. Von der großräumigen Landflucht betroffen sind vor allem die Provinzen im Nordosten. Die Färbung der Karte zeigt die Nettoraten der Zu- und Abwanderung der Provinzen. Die Beispiele der Erdbebenprovinz Kocaeli sowie der Provinz Artvin zeigen die enorme Mobilität: In der landwirtschaftlich geprägten östlichen Provinz Artvin ging die Einwohnerzahl von 212.800 (1990) auf 184.000 (1997) zurück. Das war ein Bevölkerungsrückgang von 13.5 Prozent. Die Einwohnerzahl der Provinz Kocaeli stieg im gleichen Zeitraum von 920.900 auf 1.180.000. Die Wachstumsrate betrug 27,9 Prozent. Eine der Hauptursachen der Binnenmigration ist die ungleichmäßige Entwicklung innerhalb des Landes insgesamt, aber auch der Provinzen selbst. Die Erdbebenprovinz Kocaeli war Mitte 1998 mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen (PKE) von 7.882 Dollar im Jahr die reichste türkische Provinz. Am anderen Ende der Skala stehen im Osten Sirnak (1.092 Dollar p.a.), Mus (763 Dollar p.a.) und Agri (744 Dollar p.a.). Der Wirtschaftsboom der letzten Jahre findet nur im Westen statt. Im Osten herrscht Stillstand. Zur schwierigen Lage im industriellen und handwerklichen Bereich kommt zur Zeit ein starker kriegsbedingter Rückgang der Landwirtschaft und Tierzucht hinzu. Ziele der Migranten sind daher vor allem vier Ballungsräume, die Beschäftigungschancen versprechen: 1. Istanbul und die Marmararegion mit den Provinzen Kocaeli, Sakarya und Bursa; 2. der Großraum Izmir; 3. die Hauptstadt Ankara; 4. der Großraum Adana-Mersin (Provinz Icel). In diesen Räumen hat sich die Bevölkerungszahl binnen 10 Jahren nahezu verdoppelt. Ein Zahlenvergleich verdeutlicht die Bedeutung der Marmararegion als gewerblichem Kernland der Türkei. Dort waren 1997 35,4 Prozent der Beschäftigten in Industrie und Handwerk der Türkei angesiedelt. Weitere industrielle Schwerpunkte sind Ankara, Izmir, Bursa, Adana und Antalya. Die verbleibenden 72 von 80 Provinzen beschäftigen 1997 mit 38,4 Prozent der Arbeitnehmer lediglich 3,4 Prozent mehr als die Marmararegion. Die Binnenmigration läßt dieses Ungleichgewicht weiter anwachsen. Die Zuwanderung hat das Gesicht des Großraums Istanbul-Izmit durch zwei parallele Entwicklungen völlig verändert. Zum einen wuchsen auf dem Hügelland rundum riesige neue Quartiere: in millionenfacher Einzelarbeit errichtete kleine Häuser dörflichen Stils, sogenannte Gecekondus. Der Begriff bezeichnet "über Nacht erbaute Häuser", die nach einem alten osmanischen Rechtsgrundsatz nicht abgerissen werden dürfen, selbst wenn sie - was die Regel ist - ohne Erlaubnis auf staatlichem Grund entstanden sind. Zum boomenden Bausektor trägt aber auch die Flucht in die Sachwerte bei, die für die türkische Inflation von derzeit rund 90 Prozent typisch geworden ist. "Überschüssiges Geld" wird in Immobilien investiert. Es waren vor allem diese in großem Stil errichteten mehrstöckigen Gebäude, bei denen das Erdbeben die Spreu skrupelloser Pfuscharbeit vom Weizen solide gebauter Häuser trennte.Jetzt werden schwere Vorwürfe erhoben: Pfusch am Bau, Korruption der Stadtverwaltungen, mangelnde Bauaufsicht und staatliches Versagen bei der Erdbebenvorsorge wie bei den Bergungsarbeiten. Der Unmut von Bevölkerung und Medien über die todbringenden Versäumnisse der letzten Jahrzehnte lassen vermuten, daß auf das natürliche bald ein politisches Erdbeben folgen könnte. Quellen: |
[1] Die Volkszählungsergebnisse sind mit Ungenauigkeiten behaftet, unter anderem weil in den östlichen Regionen viele Bürger nicht gezählt wurden, da die zuständigen Beamten vor Einbruch der Dunkelheit (ab 16 Uhr) ihre Arbeit abbrachen, sowie weil die Zählung in vielen "Gecekondus" der Großstädte aufgrund fehlender Straßen und ungenauer Adressen entfiel. Autor: Ekkehart Schmidt, isoplan Zum Erdbeben hat t-online unter www.t-online.de/nachrichten in der Rubrik "Aus aller Welt" türkischsprachige Nachrichtenseiten für Migranten eingerichtet. Zwar gab es bei t-online schon vorher Pläne zur Einrichtung eines Internet-Vollangebotes spezifisch für türkische Migranten, über deren Umsetzung war jedoch noch nicht entschieden worden. Ob "Türkce haberler" auf Dauer (t-)online bleibt, ist also abzuwarten. |
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