Ausländer in Deutschland 4/1999, 15.Jg., 20. Dezember 1999

MIGRATION 2000

*) Dieser Beitrag wurde im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Römer, Bonner und andere Migranten

Von Wanderungen, globalisierten Biografien und "Krach in der Moschee"

Wanderungsbewegungen, Integrations- und Minderheitenfragen gehören zu den wichtigsten Fragen der Gegenwart. Bevor das neue Jahrtausend ausbricht, bleibt vielleicht etwas Muße, über die deutsche Gesellschaft und das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft nachzudenken. Hilfreich ist es, in historischen Zusammenhängen zu denken. Denn Migrationen hat es schon immer gegeben: vom Auszug aus Ägypten über die Römer, Kelten, Goten und Mongolen bis zu den Bonnern, die jetzt nach Berlin gehen. Die Bewegung von Menschen über Grenzen und die Begegnung von Kulturen war in der Geschichte mehr die Regel, als die Ausnahme. 1999 befinden wir uns keineswegs in einer Ausnahmesituation.

Eine Aus- bzw. Einwanderung ist auch immer ein Einzelfall, die persönliche Erfahrung eines Individuums, das aus ganz individuellen Gründen auswandert. Selten läßt sich etwas verallgemeinern. Doch Einzelbiografien verschwinden in der öffentlichen Wahrnehmung und bei Statistiken in der schieren Grösse des Gesamtphänomens. Man sollte bei den Stichworten Zuwanderer oder Flüchtling auch nicht automatisch an Ausländer denken. Es gab und gibt eine erhebliche Auswanderung, Zuwanderung und Binnenwanderung von Deutschen. Viele Einheimische sind die Nachfahren zugewanderter Fremder. Millionen von Deutschen waren früher genauso Fremde, wie es heute oft Ausländer in Deutschland sind. Der Soziologe Ulrich Beck spricht vom Entstehen einer "postnationalen Gesellschaft" (DIE ZEIT vom 25.11.99). Er kennzeichnet sie durch eine "Globalisierung der Biografien" sowie dadurch, daß es zu einer Entkopplung der bisherigen Gleichsetzung von Territorium, Gesellschaft und politischer Identität kommt. Der Einzelne - nicht nur das Migrantenkind - könne zunehmend auch zwischen verschiedenen Traditionsangeboten wählen und wechseln.

Beck nennt einige erste Spuren einer postnationalen deutschen Gesellschaft: "wenn deutsche Polizisten türkische Namen tragen, wenn Schwarze bayrisch sprechen" und "wenn von der nationalen Zugehörigkeit des Unternehmens nicht mehr auf die nationale Zugehörigkeit der Mitarbeiter geschlossen werden kann". Vielleicht zeigt dies auch mein eigenes Beispiel. Als 7-jähriger kam ich mit meiner Familie nach einem fünfjährigen Iran-Aufenthalt zurück nach Deutschland. An einem Sonntag besuchten wir meinen Opa, der neben einer modernen Betonkirche wohnte. Plötzlich begannen die Glocken zu läuten. "Mama - was ist denn das für ein Krach in der Moschee?", fragte ich. In meiner bisherigen Erfahrungswelt waren alle Gotteshäuser Moscheen. Meine Lebensstationen waren bislang Kassel, Teheran, Köln, Bergisch Gladbach, Paris, Marburg, Kairo, Bonn und Saarbrücken. Jeder Ortswechsel war mit Verlusten, Fremdheitserfahrungen, aber auch Erfahrungsgewinnen verbunden. Das scheinbar gegensätzliche Begriffspaar Einheimische und Fremde ist dabei oft genug verschwommen. Vielleicht eine normale Menschheitserfahrung? Künftig bestimmt, in einer globalisierten Welt.


Autor: Ekkehart Schmidt, isoplan

[ Seitenanfang ]


Migration im 21. Jahrhundert

 

Die bittere Wahrheit, die die Bevölkerungswissenschaftler seit Jahren verbreiten, will um die Jahrtausendwende niemand zur Kenntnis nehmen: Wenn die Lebenserwartung weiter steigt und die Geburtenhäufigkeit nicht dramatisch zunimmt, droht das System der sozialen Sicherung im 21. Jahrhundert zusammenzubrechen. In Deutschland käme schon in 40 Jahren auf einen Rentner nur ein aktiver Beitragszahler. Diese Daten und Fakten sind es, die in den nächsten Jahren zu einem Umdenken beim Thema Zuwanderung (Migration) führen werden.

Die Festung Europa muss ihre Pforten wieder für Einwanderer öffnen, um den altersbedingten Zusammenbruch der Sozialsysteme zu vermeiden und um die Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Auch wenn sich Europa endlich zum Einwanderungskontinent bekennt und eine gezielte Einwanderungspolitik wie in den USA oder Kanada forciert, wird dies den demographisch bedingten Bevölkerungsrückgang aber nur abfedern können.

Die Diskussion um die Zuwanderung und die weitere Weichenstellung wird nach dem Jahr 2000 eines der wichtigsten Themen in Politik und Medien werden. Die Geschichte Europas im 3. Jahrtausend wird mehr als je zuvor durch Migration beeinflusst werden. Wahrscheinlich werden die europäischen Staaten die Hürden für die Einbürgerungsbestimmungen senken, um die Entwicklung zu vermeiden, daß sich schon bald der Ausländeranteil in den jungen Altersgruppen auf bis zu 50 Prozent erhöhen wird. Langsam aber sicher wird Europa Abschied nehmen vom nationalstaatlichen Denken des 19. Jahrhunderts, wonach Deutscher nur Deutscher sein kann, wenn er von deutschen Eltern ist. Die Erkenntnis wird sich durchsetzen, daß Deutschland schon längst zur multikulturellen Gesellschaft geworden ist, denn es leben ja seit Jahrzehnten verschiedene Kulturen auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik. Für die nächste und übernächste Generation wird es selbstverständlich sein, daß die deutsche Kultur Elemente aus den "Gastarbeiterländern" wie Italien oder Griechenland, aber eben auch aus der Türkei und damit aus einer anderen Religion aufgenommen hat. Den vielschichtigen kulturellen Hintergrund und die Mehrsprachigkeit, die durch die Migration entstanden sind, wird man in Europa im nächsten Jahrtausend als Bereicherung und Chance auf dem weltweiten Arbeitsmarkt sehen.

Zivildienstleistende türkischer Herkunft, die deutsche und türkische Rentner betreuen, werden keine Sensation mehr sein, wie im Jahre 1999, sondern eine Selbstverständlichkeit. Politiker aller Parteien werden griechische Imbissbuden besuchen und Döner Kebab nicht nur am Tag des ausländischen Mitbürgers essen- schließlich wird es jetzt bei den vielen Einbürgerungen um Wählerstimmen gehen, besonders bei den Kommunalwahlen. Denn im neuen Jahrtausend werden in Europa nicht nur EU-Inländer, sondern alle Einwanderer nach einer gewissen Aufenthaltsdauer wählen dürfen - so jedenfalls erhoffen wir es uns. Auch in der Zukunft werden aber Konflikte und Spannungen in den Einwanderungsgesellschaften Europas bestehen bleiben. Bei Wirtschaftskrisen werden Einwanderer wieder zu Sündenböcken gemacht. Die Töchter und Söhne der Einwanderer werden weiterhin gegenüber ihren einheimischen Altersgenossen benachteiligt sein, was die Schul- und Berufschancen angeht.

Auch das nach Osten erweiterte Europa wird immer noch unter Einwanderungsdruck stehen. In der vergrößerten EU wird es aber wegen der auch im Osten sinkenden Geburtenraten zu keinen bedrohlichen Wanderungsbewegungen in den Westen des Kontinents kommen. Der Mittelmeerraum wird längst zum Rio Grande, zur Trennungslinie zwischen Arm und Reich - wie zwischen den USA und Mexiko - geworden sein. Das Weltflüchtlingsproblem wird weiterhin auf Europa lasten. Der Marsch der Armen auf die Wohlstandsfeste wird jedoch ausbleiben. Nach wie vor werden die ärmsten Länder der Welt die Hauptlast der Flüchtlingsbewegungen tragen. Nur ein Rinnsal wird - wie schon vor der Jahrhundertwende - Europa erreichen. Mit Maßnahmen in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungshilfepolitik wird Europa Fluchtursachen mittel- und langfristig zu bekämpfen versuchen.

Die Zahl der illegalen Einwanderer, die auch eine Beschäftigung finden, wird steigen. Schon vor der Jahrtausendwende hat Italien bereits ein Drittel seines Bruttosozialproduktes mit illegaler Ausländerbeschäftigung erwirtschaftet und Frankreich ein Drittel seiner Autobahnen damit gebaut. Diese Tatsachen wird Europa schon bald nicht mehr unter den Tisch fegen können, sondern muss ihnen durch eine gezielte Politik mit legalen Einwanderungsmöglichkeiten begegnen.

Das Thema Migration wird insgesamt einen anderen Stellenwert erhalten. Nicht nur die Probleme und Konflikte, sondern auch die positiven Seiten werden künftig eine Rolle spielen. Der entscheidende Punkt wird sein, daß Europa ohne Einwanderung zum Altenheim würde. Das wird aus rein egoistischen Gründen zu einem Umdenken in der Einwanderungsdebatte der europäischen Länder im neuen Jahrtausend führen.


Autor: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, Ausländerbeauftragter des Südwestrundfunks (SWR), Leiter der Redaktion "SWR International" und Honorarprofessor an der Universität Tübingen

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.