Ausländer in Deutschland 4/1999, 15.Jg., 20. Dezember 1999

UTOPIEN

"We have a dream..."

 

"Wenn Sie zur Jahrtausendwende über die deutsche Gesellschaft und die Situation von Migranten nachdenken: Was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre? Vielleicht haben Sie eine Vision für das Jahr 2100?" - Wir haben einige AiD-Leser um Antworten gebeten. Konkret gefragt haben wir auch: "Welche Werte sollten das Zusammenleben der Menschen bestimmen? Welche Erwartungen, Sehnsüchte oder Befürchtungen haben Sie, wenn Sie an die Zukunft denken? Welche Forderungen stellen Sie an die Migrationspolitik?" Wollten wir diese kleine Befragung etwas aufbauschen, wie zur Zeit üblich, müßten wir dies eine "Jahrtausendumfrage" nennen. Aber das lassen wir besser, schließlich versteckt sich hinter manch optimistischer Antwort auch eine Spur Pessimismus.



Bilkay Öney (29), Dipl.Kauffrau, Berlin

"Das Bild des 'Türken' auf deutschen Straßen ist mittlerweile Alltag geworden. Was das Zusammenleben und die Integration angeht, bin ich zuversichtlich. Wichtige Dinge brauchen nun einmal Zeit: Rome was not built in a day."


4 Bewohner des Aussiedler-Übergangswohnheims Geretsried (interkulturelles Modellprojekt des IB und des BRK)

"Ein Land mit Ausländern ist immer positiv, weil die Verflechtung von unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Weltanschauungen und Lebensweisen für eine gesündere und progressivere Gesellschaft sorgt."


Wünsche und Sorgen



Ozan Ceyhun, Mitglied des Europaparlaments

"Mein Wunsch ist es, Deutschland eine Heimat für alle hier lebenden Menschen werden zu lassen, gleichgültig, welcher Herkunft sie sind."



Barbara John (61), Ausländerbeauftragte des Berliner Senats

"Multi Kulti lebt! Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität oder Religion verläuft in der Praxis unspektakulärer als in den Schlagzeilen. Für das große Trainingsprogramm 'Miteinander leben' wünsche ich mir auf allen Seiten mehr Gelassenheit, vor allem aber Respekt und Achtung vor den anderen. Und Sorgen? - Unzureichende Ausbildung, Qualifikation, schlechte Deutschkenntnisse und Arbeitslosigkeit; denn das sind keine 'Ausländerprobleme' mehr, sondern Probleme, die alle in der Gesellschaft angehen; Integration bedeutet schließlich Teilhabe."



Siegfried Höfling (59), Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg

"Das Thema der sozialen und beruflichen Integration von Ausländern müßte eigentlich allen unter den Nägeln brennen. Die knapp 500.000 arbeitslosen Ausländer, ihre beruflichen und sprachlichen Defizite und ihre ethnisch bedingten Besonderheiten erfordern intensive Beratungs- und Qualifizierungsangebote. Ist das Problem est einmal erkannt, muß gehandelt werden. Ziel ist es: Ausländer fit zu machen für das nächste Jahrtausend."



Jaqueline Fink (53), Hausfrau, Wiebelskirchen

"Ich wünsche mir ein besseres Zusammenleben und mehr Verständnis für Migranten. Wir können viel voneinander lernen. Leider habe ich keine guten Gefühle für die Zukunft, da Intoleranz unsere Gesellschaft zunehmend beherrscht. Meine Forderung zur Migrationspolitik: Toleranz, Eingliederung und Abbau jeglicher Vorurteile."


Aziza A. (28), HipHop-Sängerin und Moderatorin

"Deutschland ohne uns, die dritte Generation, wird es nicht geben. Deutschland wird neu definiert"



Rosi Wolf-Amanasreh, Leiterin des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt a.M.

"Ich hoffe auf die Einsicht der Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, daß Gleichberechtigung, gleiche Partizipationschancen für alle, die in Deutschland leben, Voraussetzung ist für sozialen Frieden. Ich wünsche mir die Weiterentwicklung der Fahigkeiten, Differenz und Vielfalt auf der Basis von Menschenrechten zu leben und zu gestalten."


Träume und Utopien



Marieluise Beck, Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, Berlin

"Aus 'ausländischen Mitbürgern' werden endlich deutsche Staatsbürger - mit gleichen Rechten und Pflichten."


Helmut Schmitt (54), Beauftragter für ausländische Einwohner der Stadt Mannheim

"2007 feiert Mannheim sein Stadtjubiläum. Ich hoffe, es gelingt uns bis dahin, 3/4 der hier lebenden Ausländer durch eine Einbürgerungsinitiative der deutschen Bevölkerung in allen wichtigen Bereichen gleichzustellen. Deshalb werden wir hier auch für den Agenda 21-Prozess Integrationsziele einen Schwerpunkt bilden."


Hanne Braun (57) Sozialarbeiterin, Verein für Internationale Jugendarbeit, Stuttgart

"Ich wünsche mir, daß niemand mehr nach seiner Herkunft gefragt wird; daß schwarze und asiatische Deutsche eine Selbstverständlichkeit sind; daß sich durch ein miteinander Wohnen und Leben eine regionale Identität - bei aller gebotenen kulturellen Vielfalt - entwickelt. Es wäre das Paradies."


Ulrike Thoenes (46), Frauenbeauftragte des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Wuppertal

"Ich habe einen Traum - dass es in der Zukunft Deutschlands (und eigentlich überall) keine Ausländer oder Inländer, keine Starken oder Schwachen, keine Reichen oder Armen, keine Männer oder Frauen, keine Christen,Muslime, Juden - sondern nur Menschen gibt."



Heinz Seidel (63), Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg

"Migrationspolitiker entmachten die Finanzpolitiker und ebnen den Weg für wirksame Konzepte der sprachlichen und beruflichen Integration. Aber das ist keine Vision, sondern eine Utopie."


Özcan Mutlu (31), Mitglied des Abgeordnetenhauses, Berlin

"Der frischgewählte Bundespräsident Mehmet Yilmaz unterstreicht bei seiner Neujahrsrede die Bedeutung Europas für die Welt sowie der Völkerverständigung."



Walter Schmidt (63), Leiter der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen

"Unsere Zukunft ist eine vielsprachige europäische Gesellschaft mit Schulen der Begegnung verschiedener europäischer Sprachen und Kulturen. Was könnte erlebnisreicher sein, als eine bunte Vielfalt in der Einheit Europas? Toleranz lernen und leben macht europafähig. Durch diese Erfahrung können wir zu Partnern der Menschen auch anderer Weltregionen werden und lernen, uns in Frieden und Freiheit zu behaupten."


Jorgo Chatzimarkakis (33), F.D.P.-Bundesvorstand, Bonn

"Wer - wenn nicht wir - kann dazu beitragen, dass deutsche Kosmopoliten und nicht Deutschnationale die Entscheidungsträger von morgen sind?"



Lili Gros, Ausländerbeauftragte der Stadt Pforzheim

"Wenn alle Menschen, gleich welcher Nationalität sagen würden/könnten: 'Wir sind das Volk!' Wenn alle Menschen sich gleichberechtigt für diesen Staat und seine Belange einsetzen würden und auch die Möglichkeiten dazu erhielten."


Kanak Attak, aus dem Manifest "Kanak Attak und Basta"

"Es ist Zeit, den Kuschel-Ausländern und anderen das Feld streitig zu machen, die über Deutschland lamentieren, Respekt und Toleranz einklagen, ohne die gesellschaftlichen und politischen Zustände beim Namen zu nennen. Wir wollen weder ihre Nischen, noch akzeptieren wir ihre Anmaßung, uns - also dich und mich - zu repräsentieren."


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Tom Fink (2), Ottweiler

" Mein erstes Wort war 'anne' - das heißt Mama. Auf Türkisch. Das habe ich der Hotelfrau im Urlaub nachgeplappert. In Bulgarien habe ich Mascha aus Sankt Petersburg kennengelernt. Wir haben uns auch ohne Worte prima verstanden. Meine Freundin Adina hat eine Mama aus Italien und Erdal von nebenan (der ist schon ein Grosser) läßt mich immer mit seinem Handy Tirilü-Musik machen. Ausländer? Es zählt nur, wer freundlich zu mir ist."


Alexander Scheitza, Universität des Saarlandes, Saarbrücken

"Ich wünsche mir, dass all die, die wirtschaftlichen Liberalismus predigen, so konsequent und glaubwürdig wären, sich ebenso für eine Liberalisierung von Migration einzusetzen und außerdem die, die vorgeben, sich für das Wohl ihrer Mitmenschen einzusetzen, so konsequent und glaubwürdig wären, auch die Mitmenschen in anderen Ländern der Welt in ihr Streben mit einzubeziehen."


Autor: Ekkehart Schmidt, isoplan

Fotos: privat, Eduard Fiegel, Paul Glaser, Ekkehart Schmidt

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