Ausländer in Deutschland 1/2000, 16.Jg., 31. März 2000

SOZIALE SICHERUNG

Kinder und Inder

Bevölkerungs-
rückgang verändert Migrationspolitik


"Kinder statt Inder"? Wie wäre es zum Beispiel mit dieser deutschtürkischen PC-Fachkraft?

Das System der sozialen Sicherung in den Industrieländern ist bedroht, weil die Lebenswartung weiter steigt und die Geburtenhäufigkeit weiter abnimmt. Seit Jahren weisen Studien beispielsweise des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) in Nürnberg oder die Enquetekommission "Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestages auf diese Zukunftsperspektive hin. Bevölkerungswissenschaftler wie Prof. Dr. Herwig Birg, Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, kritisieren die öffentliche Ignoranz und Gleichgültigkeit, was diese demographischen Daten und Fakten angeht.

Birg wörtlich: "Deutschland ist bereits seit über 20 Jahren de facto ein Einwanderungsland, auch wenn es sich de jure nur als ein Zuwanderungsland versteht. Entscheidend ist aber: Deutschland kann wegen der bereits in Gang gekommenen demographischen Eigendynamik heute nicht einmal mehr wählen, ob es in Zukunft ein Zu- bzw. ein Einwanderungsland bleiben will oder nicht. Seine Existenz und Zukunft hängen schlicht davon ab, wie es die aus den Zuwanderungen folgenden Integrationsaufgaben und Folgeprobleme meistert. Wenn Deutschland an den riesigen demographisch bedingten Problemen scheitert, könnten die negativen Folgen eine Dimension annehmen, die vergleichbar ist mit den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs."

Diese demographischen Fakten sind es, die schließlich doch zur Kenntnis genommen werden und zu einem Umdenken beim Thema Zuwanderung (Migration) führen. Die Festung Europa muß ihre Pforten wieder für Einwanderer öffnen, um den altersbedingten Zusammenbruch der Sozialsysteme zu vermeiden und um die Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Auch wenn sich Europa endlich zum Einwanderungskontinent bekennt und eine gezielte Einwanderungspolitik wie in den USA oder Kanada forciert, wird dies den demographisch bedingten Bevölkerungsrückgang aber nur abfedern können.

Die Diskussion um die Zuwanderung und die weitere Weichenstellung wird zu einem der wichtigsten Themen in Politik und Medien. Die Geschichte Europas im 21. Jahrhundert wird mehr als je zuvor durch Migration beeinflusst. Um eine Entwicklung zu vermeiden, dass sich schon bald der Ausländeranteil in den jungen Altersgruppen auf bis zu 50 Prozent erhöht, senken die europäischen Staaten die Hürden für die Einbürgerungsbestimmungen. Langsam aber sicher nimmt Deutschland Abschied vom nationalstaatlichen Denken des 19. Jahrhunderts, wonach Deutscher nur Deutscher sein kann, wenn er Kind deutscher Eltern ist. Die Erkenntnis setzt sich durch, dass Deutschland schon längst zur multikulturellen Gesellschaft geworden ist, denn es leben hier ja seit Jahrzehnten verschiedene Kulturen. Für die junge Generation ist es selbstverständlich geworden, dass die deutsche Kultur Elemente aus den "Gastarbeiterländern" wie Italien oder Griechenland, aber eben auch aus der Türkei und damit aus einer anderen Religion aufgenommen hat. Den vielschichtigen kulturellen Hintergrund und die Mehrsprachigkeit, die durch die Migration entstanden sind, wird man in Europa künftig als Bereicherung und Chance auf dem weltweiten Arbeitsmarkt sehen.

Wie wird die Zukunft aussehen? Der ganze "Multi-Kulti-Streit" ist zu den Akten gelegt worden. Zivildienstleistende türkischer Herkunft, die deutsche und türkische Rentner betreuen, werden selbstverständlich sein und keine Sensation mehr, wie noch im Jahre 1999. Politiker aller Parteien gehen auf Migranten zu, denn schließlich geht es jetzt bei den vielen Einbürgerungen um Wählerstimmen. Konflikte und Spannungen bleiben in den Einwanderungsgesellschaften Europas bestehen. Bei Wirtschaftskrisen werden Einwanderer wieder zu Sündenböcken gemacht. Die Töchter und Söhne der Einwanderer sind weiterhin gegenüber ihren einheimischen Altersgenossen benachteiligt, was die Schul- und Berufschancen angeht.
Auch das nach Osten erweiterte Europa steht immer noch unter Einwanderungsdruck. In der vergrößerten EU wird es aber wegen der auch im Osten sinkenden Geburtenrate zu keinen bedrohlichen Wanderungsbewegungen in den Westen des Kontinents kommen. Der Mittelmeerraum ist längst zum Rio Grande, zur Trennungslinie zwischen Arm und Reich - wie zwischen den USA und Mexiko - geworden. Das Weltflüchtlingsproblem lastet weiterhin auf Europa. Der Marsch der Armen auf die Wohlstandsfeste bleibt jedoch aus. Nach wie vor tragen die ärmsten Länder der Welt die Hauptlast der Flüchtlingsbewegungen. Nur ein Rinnsal erreicht Europa.

Das Thema Migration erhält insgesamt einen anderen Stellenwert. Nicht nur die Probleme und Konflikte, sondern auch die positiven Seiten spielen künftig eine Rolle. Der WM-Sieg der multikulturellen, französischen Fußballmannschaft, der zu einer neuen Sichtweise und einer veränderten Ausländerpolitik in Frankreich führte, war ein erster Schritt in diese Richtung. Der entscheidende Punkt ist aber, dass Europa ohne Einwanderung "zum Altenheim wird". Aus rein egoistischen Gründen wird dies im 21. Jahrhundert zu einem Umdenken in der Einwanderungsdebatte nicht nur in den europäischen Ländern führen.

Selbst Japan, ebenfalls nach offizieller Lesart der Politik alles nur "kein Einwanderungsland", wird sich umstellen müssen. Nach einer Migrationsstudie der Vereinten Nationen muß Japan jährlich etwa 600.000 Einwanderer ins Land lassen, um den Stand der Arbeitskräfte von 1995 aufrecht erhalten zu können. Die Untersuchung des Bevölkerungsreferats der Vereinten Nationen trägt den Titel: "Replacement Migration: A solution to declining and aging populations?" und erscheint im März. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung in Europa und Japan in den nächsten 50 Jahren abnimmt. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Deutschland verringert sich danach von 56 auf 43 Millionen. Falls Deutschland und Italien ihr Arbeitskräftepotential und Rentenniveau bis zum Jahr 2050 aufrecht erhalten wollen, müssten sie bis dahin 17 beziehungsweise 12,5 Millionen Einwanderer ins Land lassen.

Ähnliche Zahlen gelten für Österreich, das in absehbarer Zeit vor gleichen Problemen stehen wird. Die Diskussion über eine "Nullzuwanderung" in Österreich, die von Jörg Haider seit Jahren geführt wird, und die neue Regierungspolitik bestimmen könnte, wird durch diese Zahlen und die Wirklichkeit, die viele immer noch nicht zur Kenntnis nehmen wollen, ad absurdum geführt. Nach Angaben der Vereinten Nationen würde die Bevölkerungszahl in Österreich in den nächsten 50 Jahren ohne Einwanderung von 8,2 Millionen auf 6,4 Millionen fallen. Die Zahl der Österreicher im erwerbsfähigen Alter würde von 5,6 auf 3,6 Millionen sinken. Eine Entwicklung mit katastrophalen Folgen für die Alpenrepublik, die selbst ein Jörg Haider im "nationalen Interesse" des Landes eigentlich nicht herbeisehnen kann. Die Untersuchung der UN weist darauf hin, dass Österreich rund 40.000 Migranten im Jahr braucht, um die Zahl der Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren aufrechtzuerhalten. Dies ändert aber nichts daran, dass in Österreich wie auch in den meisten europäischen Ländern und in Japan in absehbarer Zeit jeweils zwei Beschäftigte einen Rentner "ernähren" müssen. Heutzutage liegt diese für das Rentensystem so wichtige Zahl noch doppelt so hoch. In Europa kommen jetzt noch etwa fünf Erwerbstätige auf einen Rentner.


Autor: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, SWR

Foto: Paul Glaser

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