Ausländer in Deutschland 2/2000, 16.Jg., 30. Juni 2000

aussiedler


Projekt Geretsried:
Netzwerke statt Randgruppenarbeit

Gemeinwesenorientierte Projekte zur Integration von Spätaussiedlern


Russlanddeutsche in der NRW-Landesaufnahmestelle Unna-Massen

Das Bundesverwaltungsamt bewirtschaftet im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (BMI) im Jahr 2000 rund 45 Mio. DM, um in den Hauptzuzugsgebieten der Spätaussiedler die Eingliederung zu verbessern. Am Beispiel des Modellprojekts "Gemeinwesenorientierte interkulturelle Jugendarbeit im Aussiedlerschwerpunkt Geretsried" wollen wir aufzeigen, wie ein solches "Netzwerk für Integration" - so Jochen Welt, Bundesbeauftragter für Aussiedlerfragen - in der Praxis funktioniert.

Ziel des im Februar 1998 vom Internationalem Bund und Bayerischen Roten Kreuz aus der Taufe gehobenen Kooperationsprojektes ist die sprachliche, soziale und berufliche Integration jugendlicher Spätaussiedler in der oberbayerischen Stadt Geretsried, die seit 1945 vorwiegend aus Flüchtlingen, Vertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern verschiedenster Herkunft besteht. Alle an der Integrationsarbeit beteiligten Institutionen und Einzelpersonen sollen dabei durch die beiden hauptamtlichen Projektmitarbeiter, Elena Tscherednik und Robert Janning, zu einem koordinierten Zusammenwirken auf der kommunalen und Landkreisebene hingeführt werden. Die betreuten Jugendlichen wohnen in Geretsried-Stein, einem Stadtteil, der insbesondere durch Ghettoisierung und Subkulturbildung, aber auch randständige Phänomene - vor drei Jahren war der Fahrraddiebstahl eine häufige Freizeitbeschäftigung - im Landkreis bekannt geworden war.

Ein inhaltlicher Schwerpunkt des Projekts liegt in der Förderung der gleichberechtigten Partizipationsmöglichkeiten der Jugendlichen, damit sie ihren spezifischen "Kulturschock", bedingt durch das "Mitgenommensein", leichter überwinden können. Der Subkulturbildung als Folge mangelnder Vorbereitung und Vertrautheit mit der Lebenswirklichkeit in Deutschland wirken die beiden hauptamtlichen und durchschnittlich sechs nebenamtlichen, zweisprachigen Pädagogen durch gezielte Angebote entgegen, die zusammen mit den Jugendlichen fortentwickelt werden. So lernen sie im interkulturellen Trainingskurs konkrete Techniken gewaltfreier Konfliktlösungen, sie bekommen eine realistische Einschätzung der unterschiedlichen Lebensgewohnheiten hier und im Herkunftsland und lernen, ihre Eindrücke und Ausgrenzungserfahrungen zu artikulieren. Schulbegleitende Bildungsangebote erleichtern das Ein- und Überleben in der örtlichen Volksschule, wo der Migrantenanteil in einigen Klassen bei 30 Prozent und mehr liegt. Was den einheimischen Pädagogen der Schulen anfangs oft als mangelnde Kooperation der Eltern erschien, in Wirklichkeit aber auf anderen Erziehungsvorstellungen und der unterschiedlich geregelten Verantwortung für die Erziehung hier und im Herkunftsland beruht, wird im Projekt systematisch bearbeitet: In der muttersprachlichen Familienberatung, die die Mitarbeiter quasi nebenbei leisten, werden Eltern befähigt, zum schulischen Erfolg ihrer Kinder beizutragen. Eine breite Palette verschiedener Freizeitmaßnahmen in Zusammenarbeit mit vielen örtlichen Trägern, zum Beispiel Kirchen, Jugendrotkreuz, Schulen und Ehrenamtlichen, hat unter anderem geholfen, den Alkoholkonsum der Jugendlichen deutlich zu verringern.

Die Vernetzung mit Behörden, Schulen, Polizei, örtlichen Trägern der Jugend- und Integrationsarbeit, Selbstorganisationen der Russlanddeutschen, Kirchen und engagierten Privatpersonen im gesamten Landkreis hat das Projekt zu einem festen Bestandteil erfolgreicher oberbayerischer Integrationsarbeit gemacht. Dennoch ist seine Zukunft ungewiss: die Finanzierung soll sich von den Fördertöpfen des Bundesverwaltungsamtes emanzipieren, Sponsoren lassen jedoch noch auf sich warten. Projektleiterin Elena Tscherednik gibt sich dennoch verhalten optimistisch: "Unsere Maßnahmen sind randvoll, und fast täglich ziehen neue Aussiedlerfamilien zu. Geretsried war und ist ein Hauptanziehungspunkt für Spätaussiedler. Und wir sind entschlossen, weiter unseren Beitrag zu leisten, damit die Jugendlichen eigenverantwortlich unser Leben im positiven Sinne mitgestalten können - andernfalls bekommen wir alle irgendwann die Rechnung".


Autorin: Christine Müller, isoplan

Foto: B. Kraemer

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Die Migrationsmotive der Russland- 
deutschen

 

Die Russlanddeutschen sind derzeit die größte Einwanderergruppe in Deutschland. Rund 98 % aller rund 100.000 jährlich einwandernden Aussiedler sind Russlanddeutsche. Die Integration der Deutschstämmigen aus Osteuropa ist ein aktuelles und schwieriges Thema. Doch warum kommen sie nach Deutschland? Sind es wirtschaftliche, politische und/oder ökologische Probleme in der GUS? Fühlen sie sich dort diskriminiert? Haben sich die Migrationsmotive in den vergangenen Jahren verändert? 

Mit diesen Fragen hat sich Götz-Achim Riek in seiner Doktorarbeit beschäftigt, die im Frühjahr 2000 erschienen ist.

Riek untersucht, welche Migrationsmotive die Russlanddeutschen hatten, die in die Bundesrepublik Deutschland kamen, beziehungsweise welche Motive die Russlanddeutschen angeben, die noch in der GUS leben und ebenfalls nach Deutschland auswandern wollen. Dazu hat er umfangreiche Daten ausgewertet, die sich mit der sozial-integrativen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Lage der Russlanddeutschen in Russland beschäftigen. Die Integration und nationale Selbstidentifikation der Russlanddeutschen wird genauso untersucht, wie die Nationalitätenkonflikte, die Rolle der Religion und der deutschen Sprache. Die politische Instabilität und der wirtschaftliche Niedergang Russlands stellen bei der Migration der Russlanddeutschen ebenso wichtige Gründe dar, wie die Einkommensverhältnisse, die zunehmende Arbeitslosigkeit oder die anhaltende Diskriminierung der Deutschstämmigen in Russland. Nicht zuletzt werden die Autonomiebewegung der Russlanddeutschen und die ökologische Lage in Russland unter die Lupe genommen.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit den finanziellen Hilfen Deutschlands. Die Bundesregierung gibt jährlich mehrere Millionen Mark für die kulturelle und wirtschaftliche Unterstützung der Russlanddeutschen in der Russischen Föderation aus. Nur wenn diese Hilfen die Migrationsmotive der Russlanddeutschen verringern, haben diese staatlichen Maßnahmen eine Steuerungsfunktion. Rieks Untersuchung zeigt, dass politische Migrationsmotive rückläufig sind und die vorwiegenden Gründe für die Auswanderung im sozial-integrativen Bereich liegen.

Das Buch schließt nicht nur die Forschungslücke um die Migrationsmotive der Russlanddeutschen, sondern ist auch für Politik und Medien sowie für die Aussiedlerarbeit nützlich. Weiterhin kann es als umfassendes Nachschlagewerk dienen und Praktikern, die im Alltag mit Aussiedlern zu tun haben, zeigen, welche Motive bei der Aussiedlermigration eine Rolle spielen. Denn nur wenn die Migrationsmotive - und damit die Erwartungshaltung der Einwanderer - klar umrissen sind, kann die Integrationsarbeit am richtigen Punkt ansetzen. Nur dann können aus hoffnungsvollen Einwanderern zufriedene Bürger werden, die sich nicht als Migrationsverlierer fühlen. 

Götz-Achim Riek: Die Migrationsmotive der Russlanddeutschen. Eine Studie über die sozial-integrative, politische, ökonomische und ökologische Lage in Russland. 556 Seiten, 99,- DM, Stuttgart 2000 (ISBN 3-89821-009-X)


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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