Ausländer in Deutschland 2/2000, 16.Jg., 30. Juni 2000

Forschung

Einwanderung als demographischer Glücksfall?

Studien zur Bevölkerungs-
entwicklung zeigen: Europa braucht Einwanderer

"Der starke Geburtenrückgang der deutschen Bevölkerung seit Mitte der 60ziger Jahre hat eine neue, folgenschwere Kerbe in den Altersaufbau geschlagen. Es wäre gefährlich, dieser Entwicklung nicht entgegenzuwirken. (...) Es ist ... fast als ein geschichtlicher Glücksfall zu betrachten, daß wir die Möglichkeit haben, durch die Zuwanderung und Einbürgerung von Ausländern den Geburtenrückgang teilweise zu kompensieren. Es kommt darauf an, daß die deutsche Politik, die uns gebotenen Chancen nutzt. Es kommt auch darauf an, daß wir die Aufgabe der Integration der Ausländer bewältigen."

Dieses Zitat stammt nicht aus der neuen UN-Untersuchung zur Bevölkerungsentwicklung, die jetzt für Schlagzeilen sorgte, sondern aus einer Studie, die der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Hans Stirn bereits 1979 geschrieben hat. Das was er vor 21 Jahren sagte, ist immer noch aktuell. Die Erkenntnis, daß wir auf Migration angewiesen sind, um den Bevölkerungsrückgang abzufedern, ist also nicht neu. Nur haben sich Politik und Medien bislang wenig darum gekümmert.

Die UN-Untersuchung ist deshalb so sehr in die Schlagzeilen geraten, weil der Eindruck entstand, die Vereinten Nationen würden Migration als Ausgleich zum Bevölkerungsrückgang propagieren und weil sie zeitgleich mit der "Green-Card"- Diskussion in Deutschland herausgebracht wurde. Vor allem wurde die Studie so stark beachtet, weil sie von den Vereinten Nationen verfaßt wurde.

Anfang der neunziger Jahre machten auch Wirtschaftswissenschaftler auf die abnehmende Einwohnerzahl in Deutschland aufmerksam. In verschiedenen Szenarien machte beispielsweise das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin 1993 deutlich, daß selbst bei verstärkter Zuwanderung die deutsche Bevölkerung weiter zurückgeht und immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner versorgen müssen. Dadurch wird der Generationenvertrag gefährdet, durch den Jung und Alt verbunden sind. Die Rentenversicherung finanziert sich schließlich im Umlagewert, d.h. die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlten Beiträge werden nicht als Kapital zur Deckung der späteren Renten angespart, sondern zeitgleich an die Rentner von heute ausbezahlt.

Das Kernproblem ist die niedrige Geburtenrate in den Industrieländern. Die Geburtenrate liegt statistisch gesehen in den Industrieländern bei durchschnittlich 1,2 Kinder pro Frau. Aber 2,1 Kinder sind laut Statistik notwendig, um den Bevölkerungsbestand aufrecht zu erhalten:

Dr. Bernd Hof vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln hob in seinen Modellrechnungen hervor, daß das Geburtendefizit durch Migration abgefedert werden könnte und deshalb Migraton auch unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten gesehen werden sollte. Nach seiner Auffassung sind praktisch alle EU-Staaten auf Zuwanderungen angewiesen, wenn sie ihr Arbeitskräfte erhalten und damit Wachstumsspielraum und Wohlstand sichern wollen. Zuwanderung sei nötig. Trotz der gegenwärtig hohen Arbeitslosigkeit dürfe die Angebotsseite des Arbeitsmarktes auf längere Sicht nicht aus den Augen verloren werden.

Bernd Hof unterstrich, daß der Arbeitskräftenachwuchs schon seit Mitte der achziger Jahre abnimmt, während die Zahl der älteren Arbeitskräfte immer mehr steigt. Der damit verbundene Alterungsprozeß gefährde "die breite Fundierung neuen technologischen Wissens", sagte Hof, das "Green-Card"-Problem schon vorausahnend. In einer anderen Dokumentation schlug das Institut der Deutschen Wirtschaft bereits 1993 Alarm: Die Zahl der Auszubil-denden reiche nicht aus, um langfristig den Bedarf an Fachkräften zu decken.

Erst vor kurzem meldete sich das Institut übrigens wieder in der aktuellen Debatte um die sogenannte Greencard - der befristeten Arbeitserlaubnis für ausländische Informationstechnologie-Spezialisten - zu Wort. Danach mangelt es nicht nur an Fachkräften. Gesucht wür-den keineswegs nur hochqualifizierte Computerexperten. Jeder zweite zu vergebende Job stehe für Arbeitnehmer mit geringen Qualifikationen offen. Fast jede zweite der im Herbst 1999 gemeldeten 460.000 offenen Stellen war für Nichtfacharbeiter und einfache Angestellte ausgeschrieben.

Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis zum Jahr 2040 legte im übrigen auch eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Bundesministeriums des Innern 1996 vor. Danach wird die Gesamtbevölkerung in Deutschland voraussichtlich von rund 82 auf annähernd 69 Millionen zurückgehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit warnte davor, daß das Angebot an Arbeitskräften sinkt und selbst hohe Zuwanderungen diesen Trend nicht stoppen können (siehe Grafik)

Auf ähnliche Probleme wies 1998 die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in ihrem Zwischenbericht hin. Insgesamt hatte sich die Kommission sechs Jahre lang mit dem Thema des demographischen Wandels beschäftigt. In einer abschließenden Bewertung wird jedoch nur vorsichtig festgestellt, daß zu prüfen sei, ob, und wenn ja, in welchem Umfang eine Abfederung des demographischen Wandels durch Zuwanderung möglich und realistisch sei. Der 880 Seiten starke zweite Zwischenbericht wurde von Politik, Medien und Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.

Dagegen sorgte die jetzt erschienene UN-Studie zur Migration und Bevölkerungspolitik für Aufregung. Die Vereinten Nationen, so hieß es, würden den Industrienationen raten, ihr drastisches Geburtendefizit durch zusätzliche Einwanderungen auszugleichen. Wenn man die veröffentlichte Studie liest, stellt man allerdings fest, daß es sich hier um keine Einwanderungsempfehlung handelt, sondern um Modellrechnungen, um demographische Szenarien wie in den vorliegenden Studien auch. Die Untersuchung der Abteilung für Bevölkerungsfragen der UNO steht unter dem Motto: "Replacement migration: is it a solution to declining and edging populations? (Bestandserhaltungsmigration: Eine Lösung für abnehmende und alternde Bevölkerungen?) Der neu eingeführte Begriff "Bestandserhaltungsmigration" bezieht sich auf die Zuwanderung aus dem Ausland, die ein Land benötigt, um zu vermeiden, daß seine Bevölkerung aufgrund niedriger Geburten- und Sterblichkeitsraten abnimmt und überaltert. Untersucht werden acht Länder mit niedriger Geburtenrate. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, die Republik Korea, die Russische Föderation und die Vereinigten Staaten sowie zwei Regionen: Europa und die Europäische Union. Für jedes Land werden alternative Szenarien entworfen, die die Auswirkungen unterschiedlich großer Migrationsströme auf den Umfang der Bevölkerung und ihren Altersprozeß deutlich machen.

Nach den Prognosen der Vereinten Nationen werden zwischen 1995 und 2050 die Bevölkerung Japans sowie nahezu aller Länder Europas schrumpfen, einige Länder darunter Italien, könnten zwischen einem Viertel und einem Drittel ihrer Bevölkerung verlieren. Die Bevölkerung wird so stark altern, daß das durchschnittliche Alter eine noch nie dagewesene Höhe erreicht. Die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter, die auf je eine Person im Rentenalter entfällt, wird sich in vielen Fällen von etwa vier auf zwei halbieren. Das heißt, künftig müßten nicht mehr vier, sondern zwei Beschäftige einen Rentner versorgen.

Ein Rückgang der Bevölkerung wird nach der UN-Untersuchung ohne Bestandserhaltungsmigration nicht aufzuhalten sein, wobei die Experten von einer Strukur der Zuwanderung nach Alter und Geschlecht ausgehen, die der Zuwanderung in die klassischen Einwanderungsländer wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien in den neunziger Jahren entspricht.

Die Zahl der Einwanderer, die notwendig ist, um einen Rückgang der Bevölkerung aufzufangen, liegt erheblich über den bisherigen UN-Prognosen. Die einzige Ausnahme bilden dabei die Vereinigten Staaten. Im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungsgröße bräuchten Italien und Deutschland die höchste Netto-Zuwanderung (Zuzüge minus Fortzüge), um den Bestand der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter erhalten zu können.

Für Deutschland sehen die Prognosen folgendermaßen aus:

1. Szenario: Fortschreibung der mittleren Variante der Bevölkerungsprognose der Vereinten Nationen. Die Bevölkerung Deutschlands würde danach im Jahr 2050 auf rund 73 Millionen sinken. Angenommen wird eine Netto-Zuwanderung von ca. 11. Millionen Migranten.

2. Szenario: Keine Einwanderung Die Bevölkerung sinkt auf rund 59 Millionen in 2050.

3. Szenario: Um die Zahl der Bevölkerung bis zum Jahr 2050 konstant zu halten, benötigt man eine Einwanderung von rund 18 Millionen. Jährlich bräuchte man eine Netto-Zuwanderung - Zuzüge minus Fortzüge - von 324 000.

4. Szenario: Um das Arbeitskräftepotential bis zum Jahr 2050 konstant zu halten, benötigt man eine Einwanderung von rund 25 Millionen Migranten. Jährlich also von 458 000 Personen netto. Die Gesamtbevölkerung würde auf 92 Millionen ansteigen, davon wären 33 Millionen Migranten oder Abkommen von Migranten.

Das 5. Szenario ist in einem Schaubild der UN mit den Szenarien für Deutschland nicht enthalten. Die Vereinten Nationen bezeichnen es im Text selbst als unrealistisch. Hier geht es darum, das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern auf dem Niveau von 1995 zu halten. Die Zahl der Einwanderer wäre dann fast unvorstellbar hoch. Deutschland müßte fast 188,5 Millionen Einwanderer aufnehmen. Jährlich wären es 3,4 Millionen. Die Einwohnerzahl Deutschlands würde dann bis zum Jahr 2050 auf 299 Millionen ansteigen, von denen 80 % Migranten und ihre Nachkommen wären.

In der Republik Korea müßten nach diesem Szenario - kaum zu glauben, aber wahr - 5 Milliarden, also etwa 80 % der heutigen Weltbevölkerung, einwandern. 99% der Bevölkerung Koreas würden dann aus Migranten bestehen. Ein geradezu absurdes Szenario, das aber einmal das Ausmaß einer solchen Modellrechnung deutlich macht, wenn man wirklich den Altersquotienten - das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen - durch Bestandserhaltungsmigration aufrechterhalten möchte.

Eine Netto-Einwanderung in Deutschland von bis 458.000 im Jahr halten die Vereinten Nationen für realistisch, weil sie etwa der Zuwanderung der letzten zehn Jahre entspricht. Hier ist allerdings anzumerken, daß sich in letzter Zeit das Bild gewandelt hat. 1997 und 1998 sind deutlich mehr Ausländer aus Deutschland weg- als zugezogen. Zum ersten Mal nahm die Bevölkerung in Deutschland deshalb 1998 ab, und zwar um rund 20 000 Personen. Der Zuwanderungsüberschuß müßte nach der UN-Modellrechnung also etwa 10 mal höher sein als es 1998 der Fall war. Hinzu kommt, daß die Zuwanderung nach Deutschland in den 90er Jahren deshalb so überdurchschnittlich hoch war, weil viele Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber gekommen sind, von denen viele das Land inzwischen wieder verlassen haben.

Besonders das 5. Szenario ist auf Kritik gestoßen und hat deutsche Bevölkerungswissenschaftler dazu gebracht, die Studie als reine Zahlenspielerei zu bezeichnen. Der Begriff "Bestandserhaltungsmigration" ist in der Tat nicht unproblematisch. Einwanderer werden auf ihren Nutzwert zur Schließung demographischer Lücken reduziert. Einbürgerungen bleiben unberücksichtigt. Ist es wirklich möglich durch Zuwanderung den Bevölkerungsbestand oder das Arbeitskräftepotential konstant zu halten oder durch Zuwanderung den Alterungsprozeß aufzufangen? Wo bleibt der gesellschaftspolitische Zusammenhang und die Sensibilität für die aufgeheizte Debatte, in der diese Zahlen veröffentlicht werden? Ist der Erhalt der Bevölkerungs- oder Beschäftigungszahl überhaupt eine Zielsetzung der Industrieländer?

Welche Einwanderer mit welchen Qualifikationen sollen aus welchen Ländern zu uns kommen? Nur die Fachleute, was unweigerlich zum Brain-Drain, dem Verlust eben dieser Hochqualifizierten für die Länder führen würde? Ist die Alterung bzw. Schrumpfung der Bevölkerung nicht ein Problem, das gar nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, mit dem wir einfach leben und auf das wir uns einstellen müssen? Viel Diskussionsstoff ergibt sich jetzt nach dem Lesen des Berichtes. Nur kurz erwähnt werden darin Probleme, um die sich die Regierungen kümmern sollten: Die Senkung des Rentenalters oder die Überprüfung des Rentensystems. Über diese Punkte - zum Beispiel die Gesundheitsversorgung oder die Höhe der Rentenzahlung - wird in Deutschland natürlich schon längst diskutiert. Nach dem Szenario der Vereinten Nationen müßte das Rentenalter übrigens auf etwa 77 Jahre erhöht werden, falls keine Migration stattfindet. Auch dies ist unrealistisch, macht aber die Herausforderung deutlich, vor der die Industrienationen stehen.

Die Vorausberechnungen der Vereinten Nationen entsprechen auf jeden Fall den Modellberechnungen vieler Forscher, darunter des Bundesinnenministeriums, der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, oder des Statistischen Bundesamtes. So verdoppelt sich auf jeden Fall in absehbarer Zeit der Anteil der über 65-Jährigen und Älteren je nach Wanderungseinschätzung.

Ein Bevölkerungsrückgang wie ihn die Demographen seit langem voraussagen, hätte insgesamt katastrophale Folgen für die Industrieländer, für die Renten-, Kranken- oder Pflegesicherung, für den Bestand von Kindergärten und Schulen. Dramatische Erkenntnisse dazu liefern nicht nur die Untersuchungen der Vereinten Nationen, sondern Bevölkerungswissenschaftler seit vielen Jahren. Auch in einem Bundesland wie Baden-Württemberg sieht die Zukunft düster aus. Eine Grafik des Statistischen Landesamtes macht die deprimierende Entwicklung deutlich.

Die Diskussion um die Bevölkerungsentwicklung und die "Green-Card" bietet die Chance, das Thema Migration insgesamt positiver zu sehen und klarzumachen, daß Einwanderung im Interesse der Industrieländer liegt. Ist der Mangel an Fachleuten aus der Informationstechnologie-Branche (IT) nicht schon ein "Zeichen an der Wand" für den längst vorhandenen Arbeitskräftemangel und Rückgang der Bevölkerung? Dies wird jetzt nach der UN-Untersuchung in Politik und Medien diskutiert und dabei auch auf positive Beispiele für Zuwanderung beispielsweise für Stuttgart hingewiesen (siehe Grafik).

Einzelne Länder haben bereits Konsequenzen aus ihrer niedrigen Geburtenrate gezogen. So will Italien in diesem Jahr 63.500 Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten aufnehmen. Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi teilte dazu mit, Italien brauche Einwanderer, um die Bevölkerung zumindest auf einem stabilen Niveau zu halten. Auch Japan plant aus demographischen Gründen, seine besonders restriktiven Einwanderungsbestimmungen zu lockern. Spanien hat bereits ein "Gastarbeiterabkommen" mit Marokko abgeschlossen, weil Arbeitskräfte in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor fehlen. Europa öffnet offensichtlich also schon seine Pforten, um eine Entwicklung zum Altersheim abzufedern.


Autor: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, SWR

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