Ausländer in Deutschland 2/2000, 16.Jg., 30. Juni 2000

Deutsch-brasilianische
Migrationsgeschichte

Zeitzeugen gesucht

Einwanderung nach Mato Grosso do Sul, Brasilien.

Wer weiß etwas über deutsche Migranten, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Südost-Brasilien ausgewandert sind? 
Vor allem: Wer hat Informationen über die ehemalige deutsche Kolonialisierungsgesellschaft Territorial Sul-Brasileira H.Hacker?

Das Internet macht neue Kontakte und damit auch neue Forschungswege möglich: Auf www.teutonia-latina.net , dem "Server für die Deutschstämmigen in Lateinamerika" (so der weitgefasste Anspruch der Betreiber), fanden sich zitierten Forschungsfragen von Mariza Santos Miranda aus Campo Grande, Bundesstaat Mato Grosso do Sul.

Den folgenden Artikel hat Mariza Miranda nach ersten Interviews geschrieben, die sie mit "Kindern" aus deutschstämmigen Einwandererfamilien geführt hat; sie sind heute 70 Jahre alt und älter. Für AiD hat die Autorin den Artikel aktualisiert. Ihre Familien stammen aus Trier, Mainz, Hamburg sowie aus Luxemburg und Österreich.

Mariza Santos Mirandas schreibt gerade ihre Abschlussarbeit im Fach Erziehungswissenschaften; ihr Interesse gilt vor allem der nicht-formellen Bildung und Oral History. Ihre Arbeit dokumentiert einen beinahe vergessenen Aspekt der deutsch-brasilianischen Migrationsgeschichte. (mlg)


Die ersten Deutschen im heutigen Mato Grosso do Sul /Brasilien

Wenn man den Spuren der Deutschen in Brasilien nachgeht, merkt man sofort, dass sie die Realität des Landes nachhaltig geprägt haben. Vieles ist schon darüber geschrieben worden. Seit 1824 konzentrierten sich die Deutschen überwiegend in den südlichen Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Santa Catarina, wo noch heute ihre Nachkommenschaft lebt, immer noch in relativem Wohlstand. Deutschstämmige sind jedoch im ganzen Lande zu finden. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt sowohl als Facharbeiter, Unternehmer, Politiker, Professoren, als auch als Landwirte, Arbeiter , Mechaniker oder als einfache ungelernte Arbeiter.

Der brasilianische Einwanderungsspezialist Karl H. Oberacker Jr. erwähnt in seinem Artikel "Die Deutschen in Brasilien" (in dem Buch Die Deutschen in Lateinamerika, hrsg. von Hartmut Fröschle, Tübingen, Erdmann Verlag, S.170 ), dass "die ersten Deutschen bereits mit dem Entdecker Pedro Alvares Cabral am 22. April 1500 den heutigen brasilianischen Boden betreten haben." Das Land weckte wegen seiner Grösse, seiner Bodenschätze, seiner Fauna und Flora, seiner Gegensätze usw. auch das Interesse heute weithin berühmter Persönlichkeiten. Genannt werden dürfen hier Hans Staden; er geriet in die Gefangenschaft der feindlichen "Wilden", beobachtete ihre Sitten und Gebräuche in allen Einzelheiten und schrieb später mit einem für seine Zeit unglaublichen Realismus das Buch "Wahrhaftige Historia und Beschreibung einer Landschaft der wilden, nackten und grimmigen Menschenfresserleute". Es erschien 1557 und ist in viele Sprachen übersetzt worden. Zu nennen sind auch Johann Heinrich Böhm, der Gründer der brasilianischen Armee; Friedrich L. W. Varnhagen, der in São Paulo das erste schwerindustrielle Werk in Gang setzte), Johann Moritz Rugendas, ein deutscher Maler, vielleicht der bedeutendste Maler während des ersten Kaiserreiches von Dom Pedro I. Er hat die brasilianische Umwelt festgehalten, ist mit über 500 Zeichnungen nach Europa zurück gekehrt. Und natürlich nicht zuletzt Alexander von Humboldt.

Viele Forschungsarbeiten wurden schon über die Einwanderung Deutscher nach Brasilien geschrieben, aber noch keine über die Einwanderung Deutscher in den damaligen Bundesstaat Mato Grosso im Herzen Brasiliens.

Als im Jahr 1924 Deutschland noch unter den katastrophalen Folgen des 1. Weltkrieges litt, kam eine Gruppe von Deutschen nach Mato Grosso, die dem materiellen Elend entfliehen wollten und neue Wege für ihre Leben suchten. Sie sind mit der Hilfe einer deutschen Kolonialisierungsgesellschaft - der Territorial Sul-Brasileira H. Hacker - hierher gebracht worden. Die Hacker-Gesellschaft verpflichtete sich, Keimzellen von Kolonien entlang der Eisenbahnlinien "Noroeste do Brasil" entlang zu gründen. Am Anfang kamen sie in die Stadt Miranda, später nach Terenos, als diese noch Gebiete (província) der Stadt Campo Grande waren.

Damals wanderten in den Süden des Staates Mato Grossos etwa 44 deutsche Familien ein. Was sie anzog, war die in Europa verbreitete Propaganda, dass der Boden in Mato Grosso fruchtbar, das Land enorm und unerforscht sei, ideal für Viehzucht und Landwirtschaft geeignet. Die brasilianische Regierung bezahlte ihnen die Fahrkarten und stellte ihnen Grundstücke zur Bewirtschaftung zur Verfügung. Das machte die Neuansiedelung für die ersten Familien sehr attraktiv.

Der damals 15jährige Jorge Maximilian Wehner kam nach seiner eigenen Aussage mit seiner Familie am 15. Mai 1924 in Rio de Janeiro an. Man begab sich sogleich zusammen mit den anderen Einwanderern in die Einwanderungskontrollstation "Ilha das Flores", wo der jeweilige Bestimmungsort durch Verlosung festgelegt wurde. Besonders erwünscht waren Kaffeeplantagen. Familie Wehner allerdings hatte Pech und kam zusammen mit anderen zuerst nach Miranda (Mato Grosso do Sul), wo es schon zwei Kolonien gab (Furrial Pires und Colônia Bocaina).

1929 ließ sich Familie Wehner in Terenos/MS nieder, um sich mit Reisverarbeitung zu beschäftigen. Die Hacker Gesellschaft war zwar weiterhin für die Ansiedlung der ausländischen Familien zuständig, kümmerte sich jedoch nicht mehr weiter darum.

Dann beschloss die Stadtverwaltung von Campo Grande, die Verantwortung für die fremden Familien zu übernehmen. Sie erhielten Nahrungsmittel, landwirtschafliches Material, Medikamente usw., die sie bezahlen sollten, sobald sie Überschüsse produzierten.

Die Realität im Süden von Mato Grosso war zweifellos ganz anders, als die Einwanderer sich dies in Europa vorgestellt hatten. Das trockene Klima, die Hitze, die Feuchtigkeit , der Urwald, die unbekannten Krankheiten und noch dazu das Heimweh waren schwierige Hürden, die es zu überwinden galt. Dazu kamen noch die Unterschiede in der Ausbildung. Die Deutschen konnten lesen, hatten meistens in ihrem Heimatland schon eine Lehre oder Ausbildung gemacht, hatten zu Hause mit landwirtschaftlichen Maschinen gearbeitet - ganz anders als die brasilianischen Bauern. Für die Deutschen waren die neuen Arbeitsverhältnisse schwierig. Wovon man heute nicht so gerne spricht: Viele litten an Depressionen, einige brachten sich sogar um.

Um genug Geld zu verdienen und angemessen überleben zu können, waren viele Familien gezwungen, sich zu trennen. Oft ging die Frau nach Campo Grande, um als Putzfrau oder Dienstmädchen zu arbeiten, während der Rest der Familie in Terenos, in der Kolonie, zurückblieb.

Von den zunächst 44 eingewanderten Familien konnten nicht alle die Verhältnisse im fremden Land ertragen. Manche gewöhnten sich nicht ein und gingen entweder zurück nach Deutschland oder in eine andere Kolonie im Süden Brasiliens.

In Terenos gab es damals zwei Kolonien: die Alte und die Neue. Die Alte existiert seit langem nicht mehr. Die Neue Kolonie, zu der über 20 deutsche Familien gehörten, schrumpfte bald auf ein paar Familien und einige ledige Männer, deren Nachkommen immer noch in Terenos wohnen. Die anderen entschieden sich, in den benachbarten Städten zu leben. Das war schon nach 1949. Die ersten Einwander haben ihre Sprache zu Hause mit der Familie gesprochen, haben sie aber ihren Nachkommen nicht beigebracht. Heute sprechen die damaligen "deutschen" Familien nur portugiesisch unter sich.

Noch in den 20er Jahren lebte in Campo Grande ein deutscher Architekt, Fritz Hans Urlass, der für viele Bauprojekte in der Stadt verantwortlich war und das Profil der Stadt entscheidend verändert hat. Vergessen darf man nicht den Uhrmacher August Wulfs, hochgeachtet und beliebt in Campo Grande und der Besitzer eines der wohl ersten Uhrgeschäfte der Stadt. Diese Familien mischten sich unter die Leute des Landes, und dabei pflegten sie ihre Sitten und Gebräuche weiter.

In den 60er Jahren ist die Familie Hans Günter in Campo Grande angekommen. Er war ein Arzt und hat viel für das Gesundheitsystem der Stadt getan. Er interessiert sich für eine tropische Krankheit (penfigo oder "doença do fogo selvagem" = Wildnisfeuerkrankheit) und die Familie mit der Adventisten Kirche, zu der er gehörte, liessen ein Krankenhaus dafür bauen . Das Penfigo Krankenhaus ist heute überall in Südamerika bekannt (wenigstens unter Ärzten), und die ganze Familie arbeitet immer noch im Bereich Medizin. Später, in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, sind viele Deutschbrasilianer aus dem Süden Brasiliens vom "Boom" des Sojaanbaus angezogen worden. Sie helfen uns heute, die Geschichte dieses jungen Bundesstaates Mato Grosso do Sul (wie er heute heißt) weiter zu schreiben.

Viel gibt es noch zu erforschen. Grosse Reichtümer der Geschichte sind noch ungeborgen. Dafür wird noch viel Zeit, Geduld , Liebe und Geld nötig sein. Die ersten Kapitel über die Deutschen im Süden des ehemaligen Bundesstaates Mato Grossos werden gerade erst geschrieben.


Autorin: Mariza Santos Miranda, Mestranda em Educação na Universidade Federal de Mato Grosso do Sul - Brasilien, Mail: papaya@zaz.com.br 

Foto: Júlia Miranda

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