Ausländer in Deutschland 3/2000, 16.Jg., 30. September 2000

europa

Eine umgekehrte "Reconquista"?

Portugal - vom Aus- zum Einwanderungsland


Am "Rossio" in Lissabon

Ausländer in Portugal nach Nationalitäten

 

1988

1997

Insgesamt

94.700

175.300

davon:

 

 

Kapverd. Inseln

27.100

39.800

Brasilien

9.300

20.000

Angola

4.400

16.300

Guinea-Bissau

3.100

12.800

Großbritannien

7.100

12.300

Spanien

7.100

8.800

USA

6.100

8.400

Deutschland

4.100

8.300

Frankreich

2.800

5.400

Mosambik

2.800

4.400

 

Portugal befindet sich mitten in einer Wandlungsphase seiner jahrhundertealten Migrationsgeschichte. Von einem klassischen Auswanderungsland ist es in den Jahren seit dem EG-Beitritt 1986 (auch) zum Einwanderungsland geworden. Immer weniger Portugiesen kehren ihrer Heimat den Rücken, während immer mehr frühere "Gastarbeiter" zurückkommen und neue Einwanderer in Portugal eintreffen. Zurückzuführen ist die Zuwanderung auf die stabile Wirtschaftslage und die geringe Arbeitslosigkeit von zur Zeit 4,4 %. Die Zunahme öffentlicher Aufträge seit dem EG-Beitritt führt ferner dazu, dass im grossen Maßstab geplant und gebaut wird - wodurch ausländische Arbeitskräfte angezogen werden.

Die Zahl der Ausländer in Portugal hat sich von 1988 bis 1997 nahezu verdoppelt von 94.700 auf 175.300. Eine solche Zuwanderung wäre sicher vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen, als das Land als "Armenhaus Europas" galt. Dennoch bleibt der Anteil der Ausländer an den 10 Millionen Einwohnern mit 1,8 % der drittgeringste im EU-Vergleich. Unverändert ist gleichwohl Portugals Auswanderungsrate nach wie vor eine der höchsten in Europa.

Seit Beginn der Kolonialzeit vor 500 Jahren haben die Portugiesen ihr Glück im Ausland gesucht. Während des 18. und 19. Jahrhunderts zog es sie hauptsächlich in Übersee (Brasilien, Venezuela, USA und Kanada). Ab Anfang der 60er-Jahre dieses Jahrhunderts orientierten sich die Migrationsströme um in Richtung Westeuropa. Es handelte sich nun nicht mehr um eine endgültige Auswanderung, sondern um eine zeitlich begrenzte Migration. Historisch liegt die Auswanderung begründet in einer Stagnation der Landwirtschaft aufgrund eines bis heute andauernden Mangels an Mechanisierung, die sich bei den meist kleinen Höfen kaum lohnt. Schätzungen zufolge sind zwischen 1886 und 1926 etwa 1,3 Millionen Portugiesen ausgewandert, eine vergleichbare Zahl noch einmal zwischen 1926 und 1966 und etwa 1,7 Millionen seit 1966. Noch heute leben und arbeiten etwa 4 Millionen Portugiesen außerhalb ihres Landes, die meisten von ihnen - 1,2 Millionen - in Brasilien, aber auch in Südafrika, den USA und Kanada. Nur ein Viertel der portugiesischen Migranten lebt in Europa und hier wiederum stark konzentriert auf Frankreich (650.000), die Schweiz (136.000) und Deutschland (132.000), wobei hier allerdings der Anteil der Zeitarbeiter und Pendler seit der Freizügigkeit innerhalb der EU stetig wächst. Die Überweisungen der Migranten tragen noch immer 4 % zum Volkseinkommen bei.

Die Geschichte der Zuwanderung hat auch mit Deutschen zu tun und beginnt schon 1147: An der Eroberung der seit 711 arabisch verwalteten Stadt Lissabon im Zuge der Reconquista nahm auch eine Flotte internationaler Kreuzfahrer teil - darunter über 4.000 Deutsche. Viele blieben in Portugal. Auch für das 15. Jahrhundert sind auswandernde Deutsche belegt, die vor allem in Lissabon lebten: Handwerker, Söldner und Kaufleute. Ein halbes Jahrhundert später warteten über 80.000 politische Flüchtlinge, vor allem aus Nazi-Deutschland und Österreich, im Transitland Portugal auf die Weiterreise nach Amerika. Darunter bekannte Namen wie Alfred Döblin, Heinrich Mann und Stefan Zweig. Lissabon war der "Hafen der Hoffnung". Wer nicht weiterreisen konnte blieb bis Kriegsende im portugiesischen Asyl. Die Gestrandeten ohne Aufenthaltsgenehmigung und Weiterreisevisum wurden vom autoritären Salazar-Regime in Kleinstädte wie Ericeira als Zwangsaufenthaltsorte eingewiesen, darunter viele jüdische Emigranten.

Die nach Kriegsende durch anhaltende wirtschaftliche Probleme ungebrochene Abwanderung der Landbevölkerung hatte die Städte und von dort das Ausland zum Ziel. Salazar verfolgte die utopische Vorstellung einer autarken Entwicklung des Mutterlandes unter Einbeziehung der Kolonien. Doch schon in einer weiteren grossen Auswanderungswelle Ende der 60er-Jahre befanden sich viele junge Männer, die der Einberufung zum Wehrdienst und dem drohenden Einsatz in den afrikanischen Kolonien entfliehen wollten. Denn diese begannen um ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Die Umstände der Dekolonisierung mit teuren und international verurteilten Militärexpeditionen brachten dann - nach 44 Jahren - das Regime Salazar zu Fall. In einem unblutigen Coup, der sogenannten "Nelkenrevolution" vom 25. April 1974, wurde Salazar gestürzt.

Nach der darauf folgenden Unabhängigkeit der ehemaligen afrikanischen Kolonien (Angola, Kapverden, Guinea-Bissau, Mosambik sowie Sao Tomé und Príncipe) strömten 1974 bis 1975 über 600.000 Flüchtlinge nach Portugal: portugiesische Kolonisten und Afrikaner. Sie haben sich relativ gut in die portugiesische Gesellschaft integriert. Ein Beispiel ist der aus Mosambik stammende Fußballstar Eusébio. Aber auch afrikanische Musik ist in Lissabon überall zu hören und beliebt. Die afrikanische Musikszene in Lissabon ist heute sehr vielfältig, die Besucher sind keineswegs nur afrikanische Migranten: Unter den sechs bekanntesten Bars und Clubs - B.Leza, Discoteca A Lontra, Jamaica, Kussinguila, Luanda und Ritz Clube -, ist nur der Ritz Clube von einer Migrantengruppe dominiert. Während hier Live-Musik aus den Kapverden gespielt wird, ist in den anderen Nachtclubs Weltmusik angesagt.

Aber ihre Wohnsituation ist schlecht. Schon damals reichten die Neubausiedlungen an der Peripherie von Lissabon und Porto - große und heute stark sanierungsbedürftige Wohnblocks auf der grünen Wiese - kaum aus, um den Wohnungsbedarf zu decken. Viele Afrikaportugiesen kamen nur in den bairros de lata (Blechviertel) genannten zunächst behelfsartigen, später slumähnlichen Siedlungen mit unzureichender Infrastruktur unter. Dort leben seit der Industrialisierung Portugals hunderttausende landflüchtige Bauern in heute heruntergekommenen Backsteinhäusern und Holzbarracken.

Portugal ist eines der wenigen Länder, die sich intensiv um die Integration ihrer Auswanderer im Ausland bemüht haben. Heute wird es nötig, sich um die Integration der Zuwanderer im eigenen Land zu bemühen. Die Struktur der ausländischen Bevölkerung unterscheidet sich erheblich von der anderer südlicher EU-Staaten. Erstens ist der Anteil der Einwanderer aus anderen EU-Mitgliedsländern mit 26 % (1997) vergleichsweise gering. Und auch unter Einbeziehung der Wanderungen aus den USA und Kanada ist der Anteil hoch qualifizierter Zuwanderer relativ gering geblieben. Unter den 8.300 Deutschen, die sich in Portugal niedergelassen haben, findet sich auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl sogenannter "Aussteiger". Zweitens ist der "regionale Konzentrationsgrad" der Herkunftsländer außerordentlich hoch: 53 % der regulären Zuwanderer stammen aus fünf ehemaligen portugiesischen Kolonien. Allein die Kapverdischen Inseln stellen 22 % der Einwanderer. Die in der Vergangenheit gewachsenen soziokulturelle Bindungen Portugals bestimmen somit weiterhin das Bild der Immigration. Drittens leben trotz der geographischen Nähe nur rund 15.000 Muslime aus Nordafrika in Portugal, vor allem im Süden. Hier in der Algarve (von arabischen al-gharb, der Westen) zeigt sich somit eine gewisse historische Kontinuität: Hier haben die "Mauren" am längsten der christlichen Reconquista des 12. Jahrhunderts standgehalten. Mouraria, das einstige arabische Ghetto Lissabons, in dem die Mauren nach der Rückeroberung eingeschlossen wurden, ist heute ein armes schwarzafrikanisch-asiatisches Viertel. Viertens zeigt sich eine starke regionale Konzentraion der ausländischen Bevölkerung: allein im Großraum Lissabon-Setubal leben mit 113.000 zwei Drittel aller Ausländer.

"Brasileiros" und europäische Rückkehrer

Die Provinz Minho in Portugals nordwestlicher Ecke, ist eine traditionelle, konservative und relativ arme Gegend mit Landwirtschaft geblieben, in der noch manches Ochsengespann unterwegs ist. In vielen Dörfern leben nur noch alte Leute. Generationen von Söhnen sind aufgebrochen, um ihr Glück in Frankreich, Deutschland und anderswo zu suchen. Verstärkt ab den 80er-Jahren kamen sie zurück und zeigten ihren Reichtum mit modernen neuen Häusern. In den letzten 15 Jahren sind rund eine halbe Million Portugiesen aus EU-Ländern in ihre Heimat zurückgekehrt. Im August oder über die Weihnachtstage, wenn die Auswanderer und im Ausland tätigen Arbeitsmigranten nach Hause zurückkehren, kann man sehen, wie sich die jeweiligen Heimatdörfer wieder mit Leben füllen und wie wohlhabend diese Heimkehrer im Gegensatz zu ihren im Land gebliebenen Verwandten und Freunden wirken. Ähnliches gilt für die Provinz Estremadura: Im Dorf Foz do Arelho an der Atlantikküste zum Beispiel sprechen die Inhaber der drei Lebensmittelgeschäfte allesamt englisch oder französisch.

Beim Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege haben viele dieser Rückkehrer tatkräftig mitgewirkt. Heute sind die rund 132.000 Portugiesen in Deutschland mit einem Anteil von 1,8 % an den Ausländern eine Minderheit. Größere Probleme als andere Ausländergruppen haben sie nicht. Sie gelten generell als aufgeschlossen und gut angepaßt (vgl. das AiD Schwerpunktheft 3/1994 "Portugiesen in Deutschland"). Ihre Zahl sank im Jahrzehnt nach Beendigung der Diktatur durch die Rückwanderung kontinuierlich von 112.000 auf einen Tiefstand von 69.000. Seit 1986 gibt es wieder mehr Zuzüge als Fortzüge - vor allem durch EG-Beitritt und Freizügigkeit im Rahmen des Binnenmarktes. Die frühe Arbeitsmigration nach Deutschland - zu drei Vierteln getragen von Männern - wurde in den 80er-Jahren abgelöst durch eine Familienmigration, wodurch der Anteil der Beschäftigten sank und sich die Geschlechterrelation zugunsten der Frauen (der Frauenanteil lag 1998 mit 42 % vergleichsweise hoch). Seit fünf Jahren, seitdem verstärkt portugiesische Arbeitskräfte als Kurzzeitmigranten vor allem für die Landwirtschaft und Bauwirtschaft engagiert werden, ist wieder Bewegung in die Wanderungsbilanz gekommen. Der Stamm der alteingesessenen portugiesischen Wohnbevölkerung beträgt heute rund 105.000, dazu pendeln seit 1995 jährlich etwa 20.000 - 30.000 Arbeiter zwischen Portugal und Deutschland. Anfang 2000 lebten 132.623 Portugiesen in Deutschland.

Wohnprobleme und Rassismus

Aufgrund des Wohnungsmangels zogen auch die neuen Migranten der 90er-Jahre in die Slums und die wenigen heruntergekommenen Neubausiedlungen. Die kleinen Wohnblocks der 70er- und die oft gigantischen Wohnblocks der 90er-Jahre stehen oft Seite an Seite mit den barracas. Diese belegen meist jedes ungenutzte Stückchen Land im Stadtinneren wie in der Umgebung - oftmals an Abhängen oder entlang von Verkehrsadern. Mangels alternativem Wohnraum wurden sie von den Behörden bis in die jüngste Vergangenheit geduldet. Die Wohnblöcke wiederum werden von den Barrackenbewohnern oft "Viertel der Strohwitwen" genannt, weil dort viele Frauen allein mit ihren Kindern leben, während die Männer auf deutschen oder schweizer Baustellen arbeiten und nur ein- oder zweimal im Jahr nach Hause kommen. Seit 1999 ist mit EU-Unterstützung begonnen worden, die insgesamt 150.000 registrierten Barackenbewohner in neue Siedlungen mit guter Infrastruktur umzusiedeln.

Eine "TV-Reconquista", eine heimliche Rekolonisierung des Mutterlandes durch seine ehemaligen Kolonien, gibt es bereits: Via Satellitenschüsseln kommen tägliche mehrere brasilianische "Telenovelas" in portugiesische Wohnstuben. Diese Seifenoper-Serien haben die Portugiesen ähnlich süchtig gemacht, wie hierzulande die "Lindenstrasse". Mit Folgen für die portugiesische Sprache: immer mehr brasilianisch-portugiesische Ausdrücke finden Eingang in den normalen Wortschatz. Doch dies ist sicher nicht der Grund für einen unter unterprivilegierten Portugiesen aufkeimenden Rassismus. Dieser außert sich beispielsweise in Aufklebern, in denen es heißt: "Portugal darf keine afrikanische Kolonie werden". Dahinter stehen irrationale Ängste vor einer Art "umgekehrter Reconquista". Obwohl es in Portugal europaweit einen der niedrigsten Anteile bekennender Rassisten gibt (nur 3% der Bevölkerung im Vergleich zu 22% in Belgien und 8% in Großbritannien), kommt es doch hin und wieder zu rassistischen Übergriffen. Es gab bereits einige gewalttätige Angriffe auf Schwarze, vorwiegend von Skinheads verübt. Da die derzeitige Ära eines relativen Wohlstands die sozialen Unterschiede verschärft, müssen Zuwanderer wahrscheinlich in Zukunft mit größeren Ressentiments in der Bevölkerung rechnen.


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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