Ausländer in Deutschland 4/2000, 16.Jg., 1. Dezember 2000

EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,

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"Zuwanderer" - sagte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, im Oktober - "müssen sich der deutschen Leitkultur anpassen". Er löste damit eine hitzige Debatte aus. Im November fand der Begriff der "Leitkultur" Eingang in das sogenannte Eckpunktepapier der CDU/CSU für ein Einwanderungsgesetz, - trotz heftigem Widerstand in den eigenen Reihen einschließlich des Vorsitzenden der Zuwanderungskomission, Saar-Ministerpräsident Peter Müller, der sich nach eigener Aussage dem charmanten Druck seiner Vorsitzenden beugte. Kaum ein prominenter Politiker ist noch zu finden, der sich nicht berufen fühlte, einen Kommentar zum Thema Leitkultur abzugeben. Nun mag man wie ich "Leitkultur" in der Tat als Begriffsungetüm ansehen, als Worthülse, die - gerade weil so diffus und Dominanz suggerierend - gefährlich ist.

"Oberflächlich gesehen ist das ganz einfach: Für jeden Einwanderer, der in ein fremdes Land kommt, ist die dort herrschende Kultur die Leitkultur. Er nimmt teil an den Gegebenheiten, die hier herrschen", schreibt der Historiker Justus Ulbricht von der Friedrich-Schiller-Universität Jena (taz vom 28.10.00). Ulbricht weist jedoch sogleich darauf hin, dass der Begriff der "deutschen Leitkultur", wie er in der Debatte verstanden wurde, etwas anderes beinhalte. Der Begriff behaupte eine "Dominanzkultur", vor dem Hintergrund eines "ethnopluralen Konzeptes", - der "Vorstellung von verschiedenen Kulturen, die zwar nebeneinander existieren können, aber abgegrenzt voneinander oder in einer Hierarchie zueinander stehen". So verstanden unterlaufe der Begriff, wenn man ihn ernst nehme, den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes.

Befürworter des "Leitkultur-Begriffs" bestreiten solcherlei Hinweise natürlich heftig als böswillige Unterstellung. Andere sehen in der ganzen Debatte den positiven Efekt, dass Bewegung kommt in die überfällige Diskussion zur Zuwanderungspolitik. Wie dem auch sei. Vielleicht wäre es wesentlich sinnvoller, nicht über die "Leitkultur", sondern über die Alltagskultur in Deutschland zu sprechen und darüber nachzudenken, in welchem Umfang diese bereichert wurde durch den Zuzug von Ausländern.

Unseren Schwerpunkt "Alltagskultur" haben wir schon vor der Merz'schen Äusserung konzipiert. Als Experiment: Wir wollen versuchen, mit einigen Beispielen aus dem deutschen Alltag zu zeigen, inwiefern Migranten unser gemeinsames Alltagsleben positiv beeinflußt haben. Wüßte man schon vorher, wie Experimente ausgehen, machte es keinen Sinn, sie zu unternehmen. Lassen Sie sich also überraschen. Wir haben nichts Besonderes gefunden. Nichts, was einen vom Hocker reisst. Alltägliches eben. Mit dem Thema "Leitkultur" hat das wenig zu tun. Oder?

In diesem Sinne grüßt Sie

Ihr

Dr. M. Werth, Herausgeber


Autor: Dr. Manfred Werth, isoplan

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