Ausländer in Deutschland 4/2000, 16.Jg., 1. Dezember 2000

SEXUALPÄDAGOGIK

"Mädchenlast - Mädchenlust"

Junge Migrantinnen und Sexualität

Migrantinnen haben in der Pubertät zunächst einmal genau die gleichen Sorgen wie deutsche Mädchen: Welche Veränderungen gehen in mir vor? Wie habe ich Erfolg in der Liebe? Dafür gibt es Rat. Doch befriedigt die Sexualpädagogik, die in Schulen und Jugendarbeit angeboten wird, auch die Bedürfnisse von Mädchen, die aus muslimischen Familien stammen und deren Eltern keine Deutsche sind? Das fragte die Sexualpädagogin Meral Renz Mitte November 2000 bei einer Fachtagung, organisiert unter anderem von Pro Familia und der Stadt Wuppertal.

"Mädchen mit muslimischem Hintergrund, also z.B. marokkanische oder türkische Mädchen, können ungewollt schwanger geworden sein. Dann haben sie meistens das Problem, dass die Eltern noch nicht mal wußten, dass die Töchter Freunde hatten. Sie sind davon ausgegangen, dass ihre Tochter Jungfrau ist, und jetzt ist sie schwanger. Und dann gibt es wirklich ein Problem!"

Im Lore-Agnes-Haus der Arbeiterwohlfahrt in Essen arbeitet Meral Renz seit acht Jahren als Fachberaterin für Migration. Die größte Schwierigkeit, so hat sie es bei ihren Klientinnen erlebt, besteht häufig darin, den Eltern überhaupt von der Schwangerschaft zu erzählen. Die Mädchen befürchten Druck auf sich selbst und auf ihre Eltern von Seiten der Umgebung. Außerdem haben sie Angst davor, dass sie dadurch, dass sie schon Geschlechtsverkehr hatten, für manche Männer als Freiwild gelten könnten. Deswegen wäre es vielen Mädchen am liebsten, einen Schwangerschaftsabbruch machen zu lassen, ohne dass jemand davon erfährt. Andere Mädchen, die Meral Renz berät, wollen das Kind ohne Erlaubnis der Eltern austragen: "Es gibt Mädchen, die von ihren älteren Schwestern unterstützt werden. Mütter sind in der Regel gar nicht dabei, sondern ältere Schwestern oder eine jüngere Tante. Und nach dem Abbruch wird dann auch die Frage gestellt: kann man alles wiederherstellen? Kann man das Jungfernhäutchen nähen?"

Wenn man(n) in der Hochzeitsnacht keine Spuren auf dem Laken entdeckt, ist es vorbei mit der Ehre: zumindest bei vielen Mädchen aus muslimischen Familien. Denn muslimische Männer sind schwach und können die vermeintliche Schande nicht aushalten - so empfinden es jedenfalls viele Mädchen. Die 19jährige Arzu, mit türkisch-muslimischem Hintergrund meint: "Bei den Moslems und besonders bei den Türken ist das eben so eingeprägt, dass man jungfräulich in die Ehe gehen, beziehungsweise, dass die Mädchen jungfräulich in die Ehe gehen müssen!" Daher stehen die Mädchen in der Pubertät unter besonderem Stress, wissen Arzu und ihre Freundinnen: "Die meisten Mädchen kennen ihre Grenzen eigentlich ziemlich gut. Sie schüchtern sich ein, sie engen sich ein, und sie halten halt diese Grenze ein." Küssen, Knutschen, Petting ist für manche o.k., Penetration für viele nicht.

Dabei gibt es intakte Jungfernhäutchen, die unsichtbar nach innen bluten, und gerissene Jungfernhäutchen, die von einem Arzt so zusammengenäht werden können, dass kein Bräutigam etwas merkt. Es handelt sich um eine kleine Operation, die unter Narkose, oder auch nur unter örtlicher Betäubung ambulant durchgeführt werden kann. Arzu meint: "Meine Freundin würde das auch machen lassen, wenn sie mit ihrem Freund auseinander ist. Und ich würde das auch machen, weil ich mich von vornherein dreckig fühlen würde." Auch die 19jährige Gymnasiastin Ayse, die sehr religiös ist und sich schon als Mädchen entschlossen hat, ein Kopftuch zu tragen, kennt diese Möglichkeit: "Ich habe eine Freundin, die das hat machen lassen. Sie hatte einen Freund, und da ist es schon mal passiert, dass sie geschlechtlichen Kontakt hatten. Da ist sie vor diesem gesellschaftlichen Druck hingegangen und hat das Jungfernhäutchen wieder nähen lassen."

Bei vielen Mädchen, Jungen und Eltern ist das Unwissen über körperliche Zusammenhänge noch groß, egal ob sie muslimisch sind oder nicht. Meral Renz weiß: "Manche Mädchen dürfen nicht Fahrrad fahren oder keinen Sport treiben, weil die Eltern befürchten, das Jungfernhäutchen könnte dadurch reißen." Sie setzt auf Wissensvermittlung. Doch Informationen, wie sie zum Beispiel die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auch in verschiedenen Sprachen zur Verfügung stellt (unsere Abbildungen), reichen ihr nicht aus. Meral Renz hat Folien erstellt und Materialien vergrößert, die sie zu Gesprächen über Sexualität in Frauen - und Mädchengruppen mitbringt. "Ich habe zum Beispiel ein sehr schönes Bild, das ich Mädchen zeigen kann, wo unterschiedliche Hymen, also Jungfernhäutchen abgebildet sind. So kann ich Mädchen zeigen, wie unterschiedlich die sind und dass manche ziemlich offen aussehen und andere wie ein Sieb. Damit kann ich den Mädchen erklären, was beim Geschlechtsverkehr kaputtgehen kann, und welcher Typ zum Beispiel blutet. Sie können erfahren, dass manche Jungfernhäutchen überhaupt nicht bluten und dass man nicht davon ausgehen kann, dass die Frauen dann keine Jungfrauen waren. Das ist sehr wichtig."

Deutsche Mädchen haben im Schnitt eher sexuelle Kontakte als muslimische Mädchen, deren Eltern zum Beispiel aus der Türkei und aus Marokko kommen. Kenntnisse über Verhütungsmittel sind für sie oft aus aktuellem Anlass wichtiger. Dennoch plädiert Meral Renz für einen gemeinsamen, interkulturellen Sexualkundeunterricht. Doch der müßte stärker auf die Bedürfnisse muslimischer Mädchen eingehen: "Es gibt diese Verhütungskoffer mit so einem großen hölzernen Penis, der ist für meine Arbeit überhaupt nicht geeignet. Wenn Mädchen sowieso Angst vor dem ersten Mal haben, dann kann ich nicht mit diesem überdimensionierten Penis auftauchen. Dadurch würde ich ihnen noch mehr Angst machen."

Angst spürte sie nicht, eher ein Wechselbad von Belustigung und Scham, erzählt Ayse von ihrem Sexualkundeunterricht. Hier kam der Lehrer mit einem Besenstiel in die Klasse, um das Überstreifen eines Kondoms zu erklären. Und zum Thema Jungfernhäutchen riet er, es am besten frühzeitig selbst zu zerreißen, um sich die ganze Aufregung später zu ersparen. "Zeitweilig wollte ich am liebsten unter dem Tisch verschwinden, so peinlich war mir das Ganze," erinnert sich die Schülerin der 13. Klasse. Trotzdem schrieb sie eine "Eins" in der Biologiearbeit und bewies damit Kenntnisse, die die Klassenkameraden einer Kopftuchträgerin nicht zugetraut hatten.

Getrennt werden sollte im Sexualkundeunterricht, zumindest zeitweise, zwischen Mädchen und Jungen. Das meinen nicht nur Beraterinnen, sondern auch Schülerinnen. Die 18jährige Alma aus Bosnien kann sich "nicht erinnern, im Sexualkundeunterricht je eine Frage gestellt zu haben - weil die Atmosphäre, wenn die Gruppe aus Mädchen und Jungen besteht, so gespannt ist, dass man ausgelacht wird. Oder Angst hat, irgendwas Falsches zu sagen." Frage man zum Beispiel, ob irgendein Gerücht stimmt, das man gehört habe, kämen Reaktionen, die lächerlich machen und verächtlich wirken: "So etwa. Wie konntest du so etwas überhaupt glauben." Schon aus einem gewissen 'Wohlfühlgefühl' beim Thema Körper plädiere ich deshalb für getrennten Unterricht."

Infos und links:
Tagung "Mädchenlast, Mädchenlust" bei: Britta.Jobst@gb2.wuppertal.de oder Tel. 0202-563-2101 · Lore-Agnes-Haus, AWO, Lützowstr. 32, 45141 Essen · Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - hier ist u.a. eine Aufklärungs-CD-Rom erhältlich - www.sexualaufklaerung.de  · Sexualpädagogische Mädchenarbeit: www.meine-sache.de .


Autorin: Marianne Lange

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.