Ausländer in Deutschland 1/2001, 17.Jg., 30. März 2001

EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,

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"Die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist einer der sensiblen Aspekte im Rahmen der Erweiterung der EU" ... erklärte Staatssekretär Dr. Werner Tegtmaier (BMA) kürzlich anlässlich der Veröffentlichung einer Studie des ifo-Instituts zum Thema "EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration" und legte damit erstmals ein Zahlenwerk vor, das die von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Rahmen seiner "Europa-Rede" in Weiden/Oberpfalz am 18. Dezember 2000 formulierte Forderung nach einer angemessenen Übergangsregelung der Freizügigkeit untermauert. "Wir haben", so Schröder im Dezember, "in Deutschland ein zeitlich begrenztes arbeitsmarktpolitisches Übergangsproblem. Die richtige Lösung für ein Übergangsproblem kann nur eine befristete Übergangsregelung sein."

Angesichts von immer noch rund 4 Millionen Arbeitslosen kann die Prognose des ifo-Instituts in der Tat beunruhigen. In den ersten fünf Jahren, so ifo, sei bei sofortiger Freizügigkeit mit jährlich etwa 200.000 bis 250.000 Zuwanderern aus den fünf größten Ländern der geplanten Osterweiterung zu rechnen (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumänien), die geschätzte Nettozuwanderung aus den genannten Ländern nach 15 Jahren wird auf ca. 2,3 bis 4 Millionen relativ hoch qualifizierte Personen geschätzt. Damit würde, so die Prognose, der jetzige Bestand der ausländischen Wohnbevölkerung von rund 7,3 Millionen auf weit über 10 Millionen ansteigen. Da die demografisch bedingte Verringerung des derzeitigen Erwerbspersonenpotenzials jedoch erst ab 2010 deutlich spürbar wird, gibt es aus deutscher Sicht zweifellos Grund genug für die Einführung flexibel gestalteter Übergangsfristen. Grund gäbe es auch für die Beitrittskandidaten selbst, da diese ein Interesse daran haben müssten, die massive Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zu verhindern. Diese freilich sehen, wie das deutsch-französisch-polnische Gipfeltreffen an Fastnachtdienstag in Neustadt zeigte, die Dinge etwas anders: Das Thema "Freizügigkeit" wird zur noch ungeklärten Verhandlungsmasse im Austausch gegen die Einhaltung anderer Beitrittskriterien.

Wie immer das Tauziehen ausgehen mag: Tröstlich ist der Gedanke, dass sich Prognosen wie die des ifo-Instituts, die doch eher Modellrechnungen sind, in der Vergangenheit (etwa nach dem Beitritt Spaniens und Portugals) aus tausend Gründen nie bewahrheitet haben. Von daher sollte das Hauptgewicht der angestrebten Regelung in der Tat auf ihrer Flexibilität liegen. Und auf der Klarstellung der positiven Effekte der Freizügigkeit innerhalb der (erweiterten) EU.

Wir sollten, denke ich, keine Angst haben, dass sich Europa verändert. Wir sollten uns eher an Berthold Brechts wunderschöne "Geschichten von Herrn Keuner" erinnern oder diese einmal nachlesen. "Ein Mann", heißt es darin, "den Herr Keuner lange nicht gesehen hatte, begrüßte diesen mit den Worten: ‚Sie haben sich aber gar nicht verändert!' ‚Oh!', sagte Herr Keuner und erbleichte."

In diesem Sinne grüßt Sie

Ihr

Dr. M. Werth, Herausgeber


Autor: Dr. Manfred Werth, isoplan

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