Ausländer in Deutschland 1/2001, 17.Jg., 30. März 2001

Glosse

Russen in Berlin.

 

"So viele Russen wie jetzt gab es in Berlin seit 1945 nicht mehr," sagte neulich meine Nachbarin Frau Moll. "Sie kamen nach Gorbatschow," meinte sie. Als er 1989 die Schönhauser Allee runterfuhr, waren die Dächer in der Umgebung voll von neugierigen Einheimischen, alle wollten dem ersten sowjetischen Generalsekretär mit menschlichem Antlitz zuwinken. Gorbatschow winkte freundlich zurück: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Die Einheimischen dachten, dass Gorbi mit diesem Spruch sie meinte: Sie sollten sich schnell mit dem Westen vereinigen. Aber eigentlich waren Gorbatschows Worte nicht an die Deutschen, sondern an die Russen gerichtet.. "Kommt nach Europa," lud Gorbatschow seine Landsleute ein, "Es ist schön hier!" Die Russen überlegten nicht lange - und kamen massenhaft nach Deutschland. In den nächsten 10 Jahren ist in Berlin ein großes russisches Kommunikationsnetz entstanden. Es gibt sogar ein eigenes Fernsehprogramm in russischer Sprache auf dem Spree-Kanal. Der Name des Senders: RKPB, lässt einen gleich an die Revolution und den Kommunismus, denken dabei heißt es ausgeschrieben nur "Russisches Kulturelles Programm Berlins". Die Sendung wird von einem alten Mann gemacht, der seine kleine Einzimmerwohnung in Charlottenburg zu einem Fernsehstudio umgebaut hat. Als Moderatoren treten entweder er selbst oder seine Frau auf, manchmal auch sein Hund, wenn Frauchen gerade einkaufen gegangen ist. Und dann gibt es noch eine russische Redaktion beim Sender SFB 4 Radio Multikulti - Jeden Tag sendet sie eine halbe Stunde lang und hat eigene Korrespondenten in fast allen Bundesländern. Von besonderem Interesse sind solche Radio-Programme wie die "Ratschläge eines Doktors" und der "juristische Ratgeber". Der Mediziner bekämpft die allgemein verbreitete russische Paranoia - alle Lebensmittel im Westen seien von Chemikalien vergiftet. Er erzählt, wie man sich hier trotz der komplizierten Lage gesund ernähren kann. Der Jurist berät die Neuankömmlinge bei ihren Rechtsproblemen. "Ich habe vor kurzem einen jungen Deutschen geheiratet und bin zu ihm gezogen," erzählt eine Russin aus Celle, "und nun habe ich eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre von der deutschen Behörde bekommen. Wenn meinem Mann plötzlich etwas zustößt, wenn er z.B. bei einem Autounfall ums Leben kommt, wird mir dann mein Aufenthaltsrecht entzogen oder nicht?" "Sehr geehrte Frau aus Celle," antwortet der Jurist, "Ihnen wird in dem Fall nicht Ihr Aufenthaltsrecht entzogen, aber es wäre trotzdem besser, wenn Ihr Mann noch ein paar Jahre länger leben würde."


Autor: Wladimir Kaminer

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.