Ausländer in Deutschland 1/2001, 17.Jg., 30. März 2001

INTERVIEW ZUR EU-OSTERWEITERUNG

Vom Auftauen eines Kühlschrankes

Die EU-Erweiterung aus östlicher Sicht - Ein Gespräch mit Csaba Hajdo


Csaba Hajdo (links)

Der 1975 geborene ungarische Rumäne Csaba Hajdo ist Rumänien-Koordinator des "Citizens Pact" der Balkanländer - eine Dachorganisation, die die Zusammenarbeit von zivilen Organisationen in Südosteuropa unterstützt. Zudem ist er Geschäftsführer der Jugendorganisation CIVITAS, forschte ein Jahr in Berlin zur Geschichte der DDR, war Präsident der 2.500 Mitglieder umfassenden ungarischen Studentenunion in Cluj und leitete etliche internationale Jugend- und Expertenkongresse zum Thema Balkan.

AiD: Bedeutete der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme 1989/90 für die Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE) eine "Rückkehr nach Europa"?

Hajdo: Ja, die "Rückkehr nach Europa" war für die mittel- und osteuropäischen Länder ein allgemeinpolitisches Phänomen, das einen entscheidenden Einfluß auf Wirtschaft und Kultur ausgeübt hat. Kulturell gesehen waren die MOEs gerade während der kommunistischen Herrschaft näher an der klassischen Kultur Europas als an der von Moskau auferlegten sogenannten "realistischen Sozialkultur". Nach Stalins Tod nahm zwar der kulturelle Druck auf die Satellitenstaaten ab, dafür verstärkte sich dieser auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene umso mehr. Wer vor 1990 östlich des eisernen Vorhangs gereist ist, konnte deutlich sehen, dass die Methode zur politischen und wirtschaftlichen Planung sowohl in Prag, Budapest und Ost-Berlin als auch in Moskau, Kiew und Minsk ein und dieselbe war. Allerdings war die kulturelle Entfernung zwischen diesen beiden Gruppen wesentlich größer als zwischen den osteuropäischen Hauptstädten der MOEs und zum Beispiel Wien, Paris oder Bonn. Gleichzeitig gab es aber auch Unterschiede in der Beeinflussung dieser Ländern durch die kommunistische Kultur: So war seit Mitte der 80er Jahre der kulturelle Abstand zwischen Bukarest und Budapest wesentlich größer als der zwischen Budapest und Wien.

Ist Europa mehr als nur geographischer Ausdruck oder eher eine Art Mythos für die Gesellschaft?

Es ist fast unmöglich auf eine Frage, die von vielen großen Denkern inner- und außerhalb Europas gestellt wurde und immer noch gestellt wird, kurz und konkret zu antworten. Für mich persönlich ist die Einigung Europas ein alter Mythos, der nach etlichen blutigen Versuchen (Römer, Napoleon etc.) friedlich und demokratisch wahr wurde. Und dies ist etwas Gutes. Europa ist definitiv mehr als nur ein geographischer Begriff; es definiert sich permanent von allein. So zum Beispiel bei Konflikten wie sozialer Wohlstand und (im Gegensatz) individuelle Rechte; Freiheit und dennoch notwendige Kontrolle. Dies alles ist eine Ideenwelt, die erst bei Konflikten sichtbar wird. Ist also Europa eine Geschichte der Vorstellung, Entwicklung und Institutionalisierung von alten Mythen?

In den MOE-Ländern weckt "Europa" vielleicht auch abstrakte Sehnsüchte und manche wirklichkeitsferne Hoffnung nach Wohlstand und sozialer Sicherheit?

Zweifellos gehörten in fast allen MOE-Staaten die Begriffe "Europa", "Integration" und "Euro conformism" zur allgemeinen Diskussion. Das ehemalige Jugoslawien bildete hierbei bis vor kurzem eine Ausnahme. Die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern wollte nie zu dem dazugehören, was als kommunistischer Block bekannt war. Sie glaubten, daß sie von den westlichen Siegermächten im 2. Weltkrieg Moskau überlassen wurden. Jetzt aber möchten sie zu Europa zurückkehren, da sie sich dazugehörig fühlen.

Was abstrakte Sehnsüchte und unwirkliche Hoffnungen angeht: Die westlichen Wohlfahrtsstaatenmuster sind für "Östler" ein ultimatives Ziel, das sie für ihre Länder erreichen wollen - obwohl ihnen bewußt ist, daß bestenfalls nur ihre Kinder diesen Wohlstand und Soziale Sicherung genießen können. Viele sind jedoch durch das langsame Voranschreiten des Integrationsprozesses sowie durch den Gedanken, daß ihre Nation wahrscheinlich niemals eine "führende Rolle" im neuen Europa spielen werde, enttäuscht.

Folgen des Beitrittsprozesses für die MOE-Staaten

Was sehen die Menschen als grössten Vorteil eines EU-Beitritts?

Wohlstand und die soziale Sicherung sind die wichtigsten Integrationspunkte, die mit einem Beitritt verbunden werden. Aber auch die Sicherheit, dass sie nie mehr unter die Einflußsphäre Moskaus kommen. Im Falle von Ungarn, Polen und Tschechien wurde der Punkt "Sicherheit" einst durch die Natomitgliedschaft gelöst.

Werden auch Nachteile gesehen? Sind sich die Menschen der Risiken bewußt - steigende Steuern und andere schmerzhafte Anpassungsmassnahmen?

Die Risiken oder mögliche Enttäuschungen durch die Mitgliedschaft werden noch - von der Mehrheit dieser Länder - nicht in Betracht gezogen. Noch wird die EU von ärmeren Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder dem ehem. Jugoslawien fast ausschließlich positiv bewertet. In den wirtschaftlich besser gestellten Ländern wie Tschechien, Ungarn und Polen gibt es jedoch auch kritische Stimmen. So beschrieb der ungarische Ministerpräsident letztes Jahr das Zögern im Setzen einer klaren Integrations-Agenda seitens des Europäischen Rats mit folgenden Worten: "Nach mehr als zehn Jahren ist Ungarn heute nur fünf Jahre von der Integration entfernt", sprich "außerhalb der EU ist auch Leben".

Welche gesellschaftlichen Gruppen sind gegen den EU-Beitritt?

In den MOE-Ländern gibt es lediglich einige wenige Gegenstimmen. Und die, die es gibt sind im allgemeinen extrem linke Flügel der ehemaligen kommunistischen Gruppierung. Es ist sehr interessant zu beobachten, wie fast alle extrem rechten Gruppierungen der Integration bzw. Mitgliedschaft zustimmen. Es gibt sogar Fälle, wo man sich sogar militant dafür einsetzt. Es stellt sich die Frage: Werden wir die Zeugen eines europäischen Nationalismus?

Und die Jugendlichen - was wissen sie über "Europa"? Was denken sie darüber?

Die heutigen Jugendlichen sind die Erwachsenen von morgen, die hoffentlich den Integrationsprozess vervollständigen werden. Deshalb ist ihre Rolle nicht zu unterschätzen. Es gibt eine ganze Menge von Programmen und Projekten für Jugendliche, die eine europäische Perspektive bieten. Dennoch sind wir vom nötigen Minimum weit entfernt. Diejenigen aber, die über die Integration im Bilde sind, begrüßen sie und hegen große Erwartungen. Dennoch fehlt nach wie vor die Brücke zwischen der Sprache der Politik so wie sie durch die Medien übertragen wird und der der Jugendlichen, die ihren eigenen Slang und ihre eigenen Erwartungen haben. Es gibt noch eine Menge zu tun...

Zwischen Ost- und Westeuropa besteht eine "Wohlstandskluft". Nach Schätzungen der EU-Kommission werden die Beitrittsländer erst in 40 Jahren das Wohlstandsniveau der heutigen EU-Staaten erreichen. Ist das nicht zu pessimistisch?

Nach dem 2. Weltkrieg schätzten viele amerikanische Wirtschaftswissenschaftler, daß Europa für den Wiederaufbau 50 Jahre benötigen würde. Dabei reichten 10 Jahre aus. Ich glaube an schnelle und schlagartige Lösungen - so wie der Marshallplan für Westeuropa. Die Frage ist jedoch, ob die EU heute den "Problemstaaten" dieselbe Hilfeleistung zukommen lassen muss wie es der Marshallplan tat. Die von der EU-Kommission geschätzten 40 Jahre würden nur zutreffen, wenn keine weitere externe Unterstützung vorgesehen ist.

Gab es eine Identitätskrise nach der Zeitenwende 1989/90? Oder waren das Aufbruchzeiten, und Identitätsfragen stellen sich erst jetzt, auf dem Weg zu stabilen demokratischen Gesellschaften?

Als die Mauer fiel, fühlten sich Osteuropäer den Westeuropäern ebenbürtig. Doch sie mussten schnell aufwachen: Von den "siegreichen Revolutionären", die einst die Balance der Weltmacht veränderten, wurden sie durch den Sieg der euroatlantischen Macht zum "armen östlichen Nachbarn" und "Menschen zweiter Klasse". Für viele war dies zu viel und eine Rückkehr unmöglich. Eines jedoch versprach Hoffnung: der Nationalismus. Politische Abenteurer und ehemalige kommunistische Führer nutzten und missbrauchten so (auch heute) Konflikte, die es nicht mehr geben dürfte. Diese Kräfte werden ihre Macht verlieren, wenn sich die sozioökonomischen Entwicklungen stabilisiert haben.

Nach einem EU-Beitritt werden sich die Beziehungen zwischen ost- und westeuropäischen Ländern erheblich verbessern/vertiefen. Wie aber werden sich die Beziehungen zwischen den MOE-Ländern entwickeln? Bis vor 10 Jahren waren sie "Bruderstaaten"...

Die "kommunistische Bruderschaft" fror zwar die regionalen Konflikte irgendwann um 1946, 1947 ein. Doch als der große "Kühlschrank" 1990 zusammen mit dem Fall des Regimes wegfiel, wurden die alten regionalen Konflikte wieder aufgewärmt und neue hinzugezogen. Bis heute sind kaum zwischenstaatliche Verhältnisse in Osteuropa zu finden, die nicht durch irgendwelche alten oder neuen Konflikte getrübt sind. Innerhalb der Bevölkerung setzte ein Konkurrenzgeist ein, statt sich für eine Zusammenarbeit zur Integration und sozioökonomischen Entwicklung einzusetzen. So konnte die EU als "großer überwachender Bruder " und manchmal sogar als Richter auftreten. Doch die Aufgabe der Union im Rahmen des Integrationsprozesses besteht in der Unterstützung der Zusammenarbeit und nicht im konkurrierenden Wettbewerb. Dies sollte auf die Stufe der strategischen Taktik angehoben werden und nicht nur auf der Stufe des politischen Diskurs bleiben.

Gibt es eine zivile Gesellschaft oder hängen die Menschen größtenteils noch in Autoritätsgläubigkeit und einem unzeitgemäßen patriarchalen Denken fest?

Eine Zivilgesellschaft entsteht zwar langsam, sie leidet aber an erheblichem Finanzmangel. So bleibt die gewünschte Wirkung aus. Das patriarchale Denken ist hauptsächlich in den Ländern mit einer christlich-orthodoxen Mehrheit anzutreffen. Pragmatismus innerhalb der Öffentlichkeit sowie in der Politik spielt zunehmend eine größere Rolle. Der Anstieg nationalistischer Bewegungen steht im starken Zusammenhang zu sozioökonomischen Entwicklungen und sind von Land zu Land unterschiedlich: Während z. B. sehr wenige nationalistische Stimmen in Tschechien gehört werden, wurde die extrem nationalistische "Groß Rumänien"-Partei nach den Wahlen im Jahre 2000 zur zweitgrößten politischen Macht im rumänischen Parlament.

Wie sehen osteuropäische Länder die Ergebnisse von Nizza? Beispielsweise werden Belgien und Portugal im Europäischen Parlament mehr Sitze haben als Tschechien und Ungarn, obwohl letztere größer sind als erstere.

Die vorherrschende Meinung in den MOEs sieht die Ergebnisse von Nizza als einen sehr wichtigen Schritt nach vorne. Obgleich nicht jeder mit der Verteilung der Sitze im EU- Parlament zufrieden ist, akzeptierten Regierung und die öffentliche Meinung die Resultate der Verhandlungen. Was die Öffentlichkeit angeht, so ist das Funktionieren Europäischer Institutionen noch etwas virtuelles - etwas ohne konkrete Erfahrung.

Die EU wird nach der Osterweiterung in der Welt mit einer Stimme für "Europa" sprechen. Befürchtet man in Osteuropa, dass spezifisch osteuropäische (außenpolitische) Interessen von denen der Westeuropäer dominiert werden?

Ich denke es finden sich nur einzelne mittel- und osteuropäische Politiker, die das so weit verstehen und an eine gemeinsame Außenpolitik denken. Wenn wir die Verhältnisse dieser Länder untereinander analysieren und wie sie die Außenpolitik heute begreifen, ist die Möglichkeit, dass sie diesbezüglich mit "einer Stimme" agieren, mit der eines Science-Fiction-Romans gleichzusetzen. Obgleich ich davon überzeugt bin, dass man der Notwendigkeit und Verpflichtung einer Zusammenarbeit nicht aus dem Wege gehen kann - so zum Beispiel Deutschland und Frankreich. Ob Europäer oder Antragsteller, für alle ist es eine Herausforderung.

Die Ängste des Westens

Der Osten Europas erfüllte für den Westen jahrzehntelang die Rolle des 'constituting other', also eines Gegenbildes, mit dessen Hilfe man seine eigene Identität formen konnte. Ist das umgekehrt ähnlich gewesen?

Der Kommunismus wurde im Ostblock als "die" entscheidende Stufe zur sozialen und menschlichen Entwicklung bewertet. Er definierte sich eindeutig gegen die "imperialistische und ungerechte " Kapitalistenwelt. Die Staatsmedien berichteten über eine katastrophale Situation im Westen, wo heimat- und arbeitslose Menschen lebten. Im Osten hingegen wurde gezeigt, wie Menschen Wohnungen in einem Blockgebäude beziehen, ihre Jobs auf ihre Ausbildung zugeschnitten bekamen und nach 5-6 Jahren Wartezeit sogar einen Trabant, Lada, Dacia oder irgendeine andere östliche Traumkarrose "kaufen" konnten. Die Schlüsselwörter hier waren "warten" und "empfangen" und nicht "arbeiten", "Geld" oder "kaufen". Eine gefälschte Identität, ein Spott auf menschliches Verhalten. Dies war die Wirklichkeit des Kommunismus, wie er sich gegen den Westen definierte. Das Negativ eines Farbbildes wurde als das wirkliche Bild verkauft.

In der EU gibt es die Befürchtung, mit der Osterweiterung könne es zu großen Ost-West-Wanderungsbewegungen kommen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ich glaube nicht, dass dies ein wirkliches Problem ist. Die Geschichte lehrt uns, dass wenn Frieden, Sicherheit und eine normale ökonomische Umwelt existieren, Menschen ihre Heimat nicht verlassen. Die Sizilianer sind noch immer in Sizilien und sie haben nicht alles aufgegeben, um ein besseres Leben in Mailand, Wien oder Frankfurt zu suchen. Menschen wandern normalerweise dann aus, wenn sie durch ihre Umwelt dazu gezwungen werden. Dann aber kommen sie nie wieder zurück. Ich glaube, die EU-Mitgliedschaft wird - mit der Garantie jederzeit auswandern zu können - ein starkes Gefühl der Sicherheit für die "Neulinge" bedeuten. Dieses Sicherheitsgefühl lässt die Menschen zu Hause bleiben. Auch wenn sie nicht genug verdienen. Diejenigen, die wirklich gehen wollen und dazu in der Lage sind, werden den Weg finden, um in der Union zu arbeiten. Die Wanderung in Richtung Westen ist besonders bei Experten - sprich bei Gebildeten - beliebt. Sie werden dann von EU-Firmen ausgewählt, für die Dinge wie Arbeitserlaubnis usw., nur noch eine Frage der Administration sind. Integration im eigenen Land aber bietet wesentlich mehr Möglichkeiten und bedeutet auch langfristig den "Brain-Drain" in westliche Richtung zu verlangsamen.

Seit es in einigen osteuropäischen Ländern wirtschaftlichen Fortschritt gibt und wieder Hoffnung auf eine bessere Entwicklung, zieht es einige Migranten aus Deutschland zurück in ihre Heimat, so zum Beispiel die Polen. Halten Sie eine solche West-Ost-Migration auch bei Angehörigen anderer Länder für möglich? Eine ähnliche Entwicklung hat es auch nach dem EU-Beitritt Portugals, Spaniens und Griechenlands gegeben.

Die Wanderbewegung der Leute ist richtungsunabhängig. Die Arbeitsbereiche ändern sich sehr schnell und setzen auch Beweglichkeit voraus. NeueTechnologien, mobile Kommunikation, Internet - Alle verlangen sie eine neue Auffassung von Raum und Zeit. Ich selbst könnte die gleiche Arbeit, die ich heute in Transsylvanien verrichte, nur mit einem Internet-Anschluß auch von einer griechischen Insel erledigen. Das ist eine Perspektive. Andererseits kann seit kurzem ein neues Phänomen beobachtet werden: Viele ehemalige Emigranten aus Osteuropa kehren zurück in ihre Heimatländer und investieren dort. Nicht nur weil sie dort mehr zu Hause sind oder sich zu einer Nation hingezogen glauben, sondern weil es für sie rentabler sein kann. So kann man zum Beispiel mit der gleichen Menge Geld dort - im Gegensatz zu Deutschland - ein Geschäft gründen. Deshalb wird heute dem geringen Kapital von Rückkehrern seitens der Volkswirtschaftler der MOEs eine große Rolle beigemessen.

Danke für dieses Gespräch!


Das Interview führten Semiran Kaya und Ekkehart Schmidt-Fink

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