Ausländer in Deutschland 1/2001, 17.Jg., 30. März 2001

Interview

Heimat im Kopf

Ein Gespräch mit Vural Öger

Öger-Tours gehört zu den meistgefragten Reiseunternehmen in Deutschland (vgl. AiD 1/00). Sein Gründer Vural Öger kam vor 40 Jahren, noch vor der Anwerbung türkischer Arbeitnehmer, nach Deutschland und blieb. Als Sponsor in Sachen deutsch-türkische Verständigung, für soziale Projekte und auch für deutsche Kultur ist er seit langem aktiv. Nun ist Öger Mitglied der Zuwanderungs-kommission der Bundesregierung. Ein Migrant mit deutschem Pass, ein äußerst erfolgreicher Unternehmer, der von sich sagt: "Ich werde respektiert." Welche Impulse und Erfahrungen bringt Vural Öger in die Zuwanderungskommission ein?

AiD: Als Sie 1961 zum Studium nach Berlin kamen, waren Sie dort türkischer Zu-wanderer Nr. 31. Wie lebte diese Minderheit?

Öger: Die 31 Türken in Berlin, das waren ein paar Studenten, ein, zwei Ärzte, ein paar Handelsleute und ein pensionierter Professor, also keine Menschen mit sogenannten Arbeiterberufen. Damals gab es den Typus Gastarbeiter noch nicht. Da die Ausländer zu den gebildeteren Schichten gehörten und ein höheres Einkommen hatten, hatten sie in der Bevölkerung den Ausländern generell ein höheres Ansehen. Das hat sich natürlich gewandelt.

Wie haben Sie persönlich das erlebt?

Ich bin in Ankara geboren, dort und in Istanbul aufgewachsen - Metropolen, in denen überwiegend die türkische Mittelschicht wohnte. Erst in Deutschland merkte ich, dass im Osten Menschen wohnten, deren Muttersprache nicht Türkisch war, dass es sehr viele Dialekte gab, und auch die bäuerliche Schicht habe ich erst in Deutschland kennen gelernt. Da habe ich gelernt, dass es zwischen der Großstadt, der bürgerlichen Türkei und der ländlichen enorme kulturelle und soziale Unterschiede gibt, viel größer, als man sich hier vorstellen kann. Viele wagten zum Beispiel nicht, Flugzeuge zu benutzen. Als ich mit den Direktflügen in die Türkei anfing, bin ich anfangs jedes Wochenende mitgeflogen, bis das irgendwann über meine Kräfte ging.

Dabei haben Sie wohl einiges von den frühen Rückkehrträumen mitbekommen?

Oh ja! Sie sagten damals immer: "Zwei, drei Jahre in Deutschland werde ich schon durchstehen, und dann geh ich in die Heimat zurück. Eines Tages kommt mein Teskere, meine Befreiung." Teskere, das ist das heißersehnte Papier, das einen vom Militär in allen Ehren entlässt, man singt und feiert dann in den Kasernen. Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis sie merkten, dass sie wohl nicht mehr zurück gehen können und wollen. Ich selbst hatte ja auch geplant, nach fünf, sechs Jahren zurückzugehen. Geblieben bin ich erst einmal aus privaten Gründen.

L'amour...

(lacht) Ja, l'amour. Und danach kam das Geschäft. Mit meinem Vater gab das Konflikte, er wollte, dass ich nach dem Studium sofort zurückkomme: Der Staat brauche solche Leute wie mich, ich sollte in einen ehrenvollen Staatsdienst und so weiter. Aber letzten Endes hat mein Vater sich einverstanden erklärt, dass es ist, wie es ist.

Später sind Sie dann Deutscher geworden. War das für ihn quasi noch schlimmer?

Ach Gott, dafür hat er dann Verständnis gehabt. Wenn man in einem Land länger als sechs, sieben Jahre lebt, soll man Konsequenzen ziehen: Entweder man geht zurück, oder, wenn man bleibt, muss man Bürger des Landes werden, in dem man lebt. Ausländer bleiben, das ist nicht gut, weder für die Gesellschaft noch für den Betroffenen. Das schafft eine innere Zerrissenheit, und auf Dauer ist man selber nicht glücklich. Ich kann nicht Pflichten haben und keine Rechte in Anspruch nehmen. Auch die Gesellschaft ist nicht glücklich mit Menschen, die nicht nur im Herzen, sondern auch im Kopf ihre Heimat haben und die nie dazu gehören können oder wollen. Ich sage das auch den Menschen aus dem Land, aus dem ich komme, die hier leben: Die müssen deutsche Staatsbürger werden - mit einem großen türkischen Herzen wohl, ja, aber die müssen sich in diese Gesellschaft hier integrieren, die Regeln dieses Land akzeptieren, sie müssen sich um bessere Berufe bemühen. Sie leiden darunter, dass sie kein Ansehen genießen. Aber man muss auch selbst etwas dazu tun.

Stattdessen haben wir heute viele Negativmeldungen: Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildungsbeteiligung - wie kam es dazu?

Die Menschen merkten, es gab zwar Toleranz, aber die hat nicht zur Anerkennung geführt. Die Kultur dieser Leute wurde als etwas Fremdartiges wahrgenommen; die Aufnahmegesellschaft hat sie nur geduldet, am Rande. Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber viele haben dieses Gefühl gehabt, und sie haben gesagt: "Die Deutschen mögen uns nicht, da bleiben wir halt unter uns." Damit fing dieser Prozess der Gründung von Parallelgesellschaften an. Man hätte die Leute gleich von Anfang an in die Gesellschaft einweisen müssen, sie nicht alleine lassen dürfen. Das waren ja Menschen ohne ausreichende Schulbildung; sie haben kaum Zeitungen gelesen. Wo sollten sie eigentlich über die deutsche Gesellschaft Unterricht bekommen? Spätestens nach 10 Jahren, als die Familien und die Kinder kamen, hätte man sagen müssen "Aha, wir sind ein Einwanderungsland geworden." 

Aber - es ist lächerlich! - heute wird immer noch aus dem Süden gesagt: "Wir sind kein Einwanderungsland." So manche Regierung in der Vergangenheit hat diese Menschen für ihre konservativen Vorstellungen missbraucht, damit meine ich: Fremdenangst geschürt. Die Hessenwahlen haben sie damit gewonnen! Das ist natürlich kontraproduktiv für die Gesellschaft. Diese Politiker haben sehr kurzsichtig gehandelt.

Lässt sich da noch gegensteuern?

Ich kann Ihnen versichern, aufgrund meiner Tätigkeit in der Einwanderungskommission stelle ich fest, dass sehr viele Menschen sensibilisiert sind für das Thema. Auch die Kommission besteht ja aus drei Gruppen: Einwanderung, Integration und Asyl. Ich bin in der Gruppe Integration. Wir arbeiten an Konzepten, um die zweite, die dritte Generation hier zu integrieren. Das geht über die Berufsausbildung und über Bildung als solche. Wenn Menschen mit zwanzig Jahren arbeitslos sind, nicht geliebt und akzeptiert werden, muss man sich nicht wundern, dass sie für extreme Ideen aufnahmefähig werden, sei es von Fundamentalisten oder Ultranationalisten, wie auch immer. Es ist bei Menschen gleich welcher Nationalität so: Sprengstoff ist da, wo Menschen keinen Beruf, keine Arbeit haben.

Neu zuwandern dürfen nur gut Qualifizierte. Das wird so oft betont, dass sich dadurch die hier Lebenden fast negativ davon abheben als die schlechter Qualifizierten. Ist das nicht auch kontraproduktiv?

Einwanderung ist eigennützig! Übrigens: Asyl ist für mich keine Einwanderung, das ist eine humanitäre Verpflichtung, das sollte man nicht verwechseln. Aber Einwanderung lässt man zu weil a) die Wirtschaft sie braucht, vielleicht b) aus demografischen Gründen die Gesellschaft sie braucht. Insofern müsste das Land, das die Leute braucht, auch das Recht haben, auch die Leute auszusuchen.

Lassen Sie mich aber hinzufügen: Man hätte in den Ländern, in denen Migrationsdruck besteht, etwas mehr tun müssen, einen Teil des Bruttosozialprodukts dort investieren. Man hat nämlich die Rohstoffländer, die Drittländer, im wahrsten Sinne des Wortes ausgenutzt. Bloß, was würde es bringen, wenn nun Zehntausende Menschen hierher kommen würden, die keinen Beruf haben? Einfaches manuelles Arbeiten ist nicht mehr gefragt, und solche Menschen, die hätten heute hier doch keine Chance! Allerdings, auch das möchte ich deutlich sagen: Ich glaube nicht an kluge Völker oder dumme Völker, es gibt nur Menschen, die Chancen haben, und Menschen, die sie nicht haben. Was wäre aus mir - mit den gleichen Genen - geworden, wenn ich nicht aus dem türkischen Mittelstand gestammt hätte und keine vernünftige Schulbildung gehabt hätte? Wenn ich aus dem fernen Anatolien gekommen wäre? Ich weiß es nicht.


Das Interview führte: Marie-Luise Gries, isoplan

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