Ausländer in Deutschland 2/2001, 17.Jg., 30. Juni 2001

DIE AID-KARTE

Eroberer und Arbeiter

Arabische Migranten im Mittelmeerraum

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Das Mittelmeer verbindet und trennt Südeuropa von Nordafrika. Politisch, wirtschaftlich und kulturell halten sich die Beziehungen beider Regionen zwischen Abgrenzung und Annäherung die Waage. Drei Weltreligionen und Kulturschätze von unermesslichem Wert sind hier entstanden - in einer Zeit, als die Kulturen über den Seeweg in engem Kontakt standen und sich befruchteten. Heute belastet der Gegensatz von hier Wirtschaftskraft und dort Armut die Versuche zum Aufbau einer neuen Mittelmeer-Partnerschaft. Ein besonderer Konfliktpunkt bildet dabei die illegale Migration in die EU. Dennoch sind die arabischen Migranten ein wichtiges verbindendes Element - in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. (esf)


Beispiel kunstvoller arabisch-islamischer Kalligraphie:
Die "Galeere des Glaubens"

Rumpf und Ruder stellen die sieben Glaubensartikel des Islam dar (Allah, seine Engel, seine Bücher, seine Propheten, der Jüngste Tag, die Vorbestimmung, das Gute und Böse, die Wiederauferstehung nach dem Tod). Die Schahada, das Glaubensbekenntnis, bildet das Segel.

Orient und Okzident

Der Orient ist der Raum der aufgehenden Sonne (von lat.: oriente sole) gegenüber dem Okzident als Raum der untergehenden Sonne (von lat.: occidente sole), seit Luther durch Morgenland und Abendland übersetzt. Die Araber leben im Vorderen Orient (oder auch Naher Osten) sowie in Nordafrika.

Semiten

Die Semiten bilden eine Sprachgemeinschaft, kein Volk. Zu ihr gehören das Hebräische, das Aramäische und das Arabische. Das Hocharabisch des Koran wird als Sprache der akademischen Elite heute nur in Literatur und Medien benutzt, während das Volk unterschiedliche Dialekte spricht.

Araber

"Araber" ist die ursprüngliche Bezeichnung für die semitischen Stämme der Arabischen Halbinsel. Mit der Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert und der Arabisierung der unterworfenen Länder wurde der Begriff übertragen auf alle Arabisch-Muttersprachler (heute über 150 Millionen). Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches wurden fast alle arabischen Länder Objekte und Schauplatz europäischer Kolonialpolitik, ehe sie Mitte des 20. Jahrhunderts die Unabhängigkeit erlangten.

Maghreb und Maschrik

Das arabisch besiedelte Gebiet wird unterteilt in den Maghreb (=Westen) von Mauretanien bis Libyen und den Maschrik (=Osten) von Ägypten bis zum Irak sowie der südlich gelegenen Arabischen Halbinsel. Aus europäischer Sicht wurde der Maghreb durch den römischen Einfluss in der Antike zu Europas "Süden".

Berber und "Mauren"

Die Berber haben Nordafrika schon vor dem Eindringen der Römer und Araber bevölkerten. Eine einheitliche Kultur oder gemeinsame Nation bildeten sie jedoch nie. Sie werden daher eher als Sprach-, denn als Völkerfamilie bezeichnet. Trotz starker Vermischung ähneln sich ihre Sprachen noch heute. Rund 10 Millionen Menschen sprechen Berberdialekte. Heute dient der Begriff "Berber" als Sammelname für die Nachfahren der Urbevölkerung Nordafrikas von den Kanarischen Inseln bis Ägypten. Die meisten Berber sind stark arabisiert, rebellieren aber immer wieder gegen Assimilierungsversuche. Der Name "Mauren" geht auf die Berbertruppen zurück, die 711 von Marokko nach Spanien übersetzten, wo sie als "moros" bekannt waren. Sie leiteten die arabische Eroberung der Iberischen Halbinsel ein.

Der Islam in Europa

Fast 800 Jahre lang (711-1492) war der Islam politisch und kulturell auf der Iberischen Halbinsel präsent. Bis 1031 herrschten die Omaijaden-Kalifen von Cordoba. Die später herrschenden Almohaden-Kalifen vollendeten die politische und kulturelle Einheit von al-andalus. Die wichtigsten Bauwerke dieser glanzvollen Epoche Andalusien sind die Moschee von Cordoba (Mezquita), die Residenz Alcazar in Sevilla und die Alhambra von Granada. Im 13. Jahrhundert setzte der Verfall des Kalifats ein, was die christliche Rückeroberung (Reconquista) der islamisch beherrschten Gebiete begünstigte. Anders als in Spanien leben im benachbarten Portugal trotz der geographischen Nähe heute nur rund 15.000 Muslime aus Nordafrika - vor allem in der Algarve (von arab.: al-gharb = der Westen).

Landarbeiter in El Ejido

Die beeindruckende Entwicklung der exportorientierten Gewächshauskulturen in Andalusien wäre ohne die billige Arbeitskraft von rund 10.000 marokkanischen Zuwanderern nicht denkbar. Diese arbeiten und leben unter quadratkilometerweiten Plastikplanen der Treibhäuser von El Ejido. Unter unwürdigen Lebensbedingungen und hohem Einsatz von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln ziehen und ernten sie einen Großteil der in Westeuropa angebotenen Frühgemüse. Weltweit Aufsehen erregte im Februar 2000 eine pogromähnliche dreitägige Welle der Gewalt der Einheimischen gegen die "Moros".

Marseille

Wie andere Mittelmeerhäfen von Tanger bis Piräus hat Marseille seit je einen multikulturellen Charakter. Von 800.000 Einwohnern sind heute 110.000 ausländischer - vor allem arabischer - Herkunft, wobei die Hälfte eingebürgert ist. Anders als noch in den krisenhaften 70er und 80er Jahren mit vielen maghrebinischen Arbeitslosen leben die Ethnien relativ friedfertig zusammen. Als rotes Tuch für Rechtsextreme gilt aber das Quartier de Belsunce - bunt, lebendig und hektisch wie ein nordafrikanischer Suk. Es gibt rassistische Übergriffe, aber insgesamt ist die Integrationskraft der Stadt groß genug. Die meisten arabischen Migranten gingen hier an Land, per Schiff über das Mittelmeer kommend, wenige Jahre nachdem der Hafen im 2. Weltkrieg eine Etappe für tausende Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich war.

Algerien

Obwohl Algerien nach der Kolonisierung ab 1830 als Teil Frankreichs galt, wurden den Algeriern die französischen Bürgerrechte verweigert. Während der Kolonialzeit emigrierten mehr als 1 Million Franzosen - vorwiegend landlose Bauern - nach Algerien und vertrieben die Einheimischen von den besten Böden. Im Unabhängigkeitskrieg von 1954 - 1962 kehrten die meisten dieser sogenannten "pieds noirs" nach Frankreich zurück. Eine Minderheit unter den Algeriern (die sogenannten "Harkis") unterstützten Frankreich, weil sie auf eine rechtliche Gleichstellung hofften und Algerien als Teil Frankreichs zu erhalten wünschten. Heute suchen große Teile der Bevölkerung Algeriens und anderer nordafrikanischer Staaten, die am westlich geprägten Fortschritt nicht teilhaben und verarmt sind, in einer Rückwendung zum Islam ihr Heil. Autoritär regierende Regime, meist nur pseudodemokratisch legitimiert, erwehren sich der Gefahr mit Militärgewalt und Repression. Nicht nur Algerien wird innerlich zerrissen durch die Auseinandersetzung zwischen Staat und Islamismus. Aber hier hat diese in zehn Jahren bereits über 100.000 Todesopfer gefordert und große Fluchtbewegungen ausgelöst.

Auswanderungsland Marokko

Etwa die Hälfte der 30 Millionen Einwohner Marokkos ist jünger als 20 Jahre, ebenfalls die Hälfte sind Analphabeten - auf dem Lande sogar zwei Drittel und bei den Frauen 90 Prozent. Die Arbeitslosenquote liegt bei weit über 20 Prozent. Ein Drittel der Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze und die Schere zwischen Arm und Reich öfffnet sich immer weiter. So hält die Landflucht in die Großstädte seit Jahrzehnten an. 2 bis 3 Millionen haben bereits im Ausland ihr Glück gesucht, wobei die große Welle der Auslandsmigration heute vorbei ist. 1999, nach dem Tod von König Hassan II, standen die Zeichen zunächst auf Veränderung. Doch die von Thronfolger Mohammad VI angekündigten Reformen sind ins Stocken geraten. So hält die - auch illegale - Abwanderung nach Spanien und damit in die EU weiter an. Jährlich werden allein 5 - 7.000 illegale Einwanderer an spanischen Küsten festgenommen, hunderte kommen bei der Überfahrt ums Leben.

Süd-Nord-Wanderungen

Der mediterrane Raum war schon immer ein Migrationsraum - und zwar in beide Richtungen. Doch heute dominiert die Süd-Nord-Wanderung. Ausgelöst wird sie durch das wachsende demografische Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd. Die Mehrzahl der Bevölkerung im Süden ist jung und findet kaum Arbeit. Das führt unter anderem zu kaum kontrollierbaren inneren und grenzüberschreitenden Wanderungen. Aus Sicht des Nordens besteht an den Südgrenzen der EU ein "Wanderungsdruck", dessen einzige Ventile die Familienzusammenführung und die illegale Zuwanderung sind. Die spanische, griechische und italienische Wasserpolizei kann die Schengenländer nur unzureichend vor Booten mit Flüchtlingen und Arbeit suchenden Migranten schützen. So wird die Zahl der "illegalen" Zuwanderer - das heißt Zuwanderer ohne Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung - allein in Griechenland und Italien auf 1 - 2 Millionen geschätzt. Auslöser ist die ausgedehnte Schattenwirtschaft mit ihrer hohen Nachfrage nach Migranten, da die Einheimischen schlecht bezahlte und saisonabhängige Arbeiten nicht mehr leisten wollen.

Palästinenser

Seit Gründung des Staates Israel 1948, vor allem aber durch die israelisch-arabischen Kriege ab den 60er Jahren sind rund 80 % der arabischen Bewohner Palästinas ("Palästinenser") aus ihrer Heimat geflohen. Mitte 2000 betrug die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge mehr als 3,7 Millionen. Sie leben vor allem in Jordanien, Syrien und dem Libanon sowie in den palästinensischen Gebieten. Hinzu kommen mehrere hunderttausend Menschen, die 1967 innerhalb Israels und des Libanon vertrieben wurden. Im Zuge des 16-jährigen Bürgerkrieges im Libanon verliessen seit 1975 Hunderttausende Menschen den Libanon: Kurden, Palästinenser und Libano-Palästinenser.

Der Islam und die Araber

Im 7. Jahrhundert wurde dem arabischen Propheten Mohammed (570 - 632) der Koran offenbart, das heilige Buch der Muslime. Von Mekka und Medina im heutigen Saudi-Arabien breitete sich die jüngste monotheistische Religion schnell aus. Nach Mohammeds Tod spaltete sich die Gemeinschaft in Sunniten und Schiiten. Weltweit gibt es heute über eine Milliarde Muslime. Die nach der Zahl der Muslime sechs wichtigsten Länder sind Indonesien (170 Millionen Muslime), Pakistan (130), Indien (120), Bangladesh (104), Iran (64) und Türkei (61). Erst auf Rang sieben findet sich mit Ägypten (56) das erste arabische Land.

Süd-Süd-Wanderungen

Die ökonomischen Ungleichgewichte in der Einkommensverteilung, der Wirtschaftsstruktur und der Verfügbarkeit der Erdölressourcen haben seit den 50er-Jahren eine spektakuläre Arbeiterwanderung im Nahen Osten ausgelöst. Wichtigster Auslöser waren die fehlenden einheimischen Arbeitskräfte in den Erdölstaaten. Ab den 60er Jahren verloren arabische Länder wie Syrien oder Ägypten einen Großteil ihrer wissenschaftlichen und technischen Elite, aber auch Lehrer an die reichen Ölstaaten. Gab es zu Beginn der 70er-Jahre erst 650.000 Arbeitsmigranten, so schwoll ihre Zahl seit der "Ölkrise" auf über 5 Millionen an und erreichte Anfang der 90er-Jahre mit 9 Millionen ihren Höhepunkt. In den Emiraten Qatar, VAE und Kuweit stellten die Arbeitsmigranten einen Anteil von über 80 % der Erwerbspersonen, in Saudi-Arabien und Bahrein über 45 %. Die durch den Golfkrieg erzwungene Rückwanderung von mindestens 2,5 Millionen Migranten stellte die Herkunftsländer vor enorme Probleme.

Kopten

Die 6 - 7 Millionen Kopten sind die größte christliche Minderheit im Nahen Osten. Sie betrachten sich als die Nachfahren der Pharaonen und insofern als die "wahren Ägypter". Ihren Ursprung sehen sie im Jahr 42 n. Chr., als der Apostel Paulus die erste Kirche in Alexandria gründete. Bis zur Eroberung durch die Araber (640 n. Chr.) wurden alle Bewohner Ägyptens "Kopten" (nach griech. Aigyptoi) genannt.

Sudan

Der seit 1983 andauernde Bürgerkrieg und dessen wirtschaftliche Folgen trieben rund eine halbe Million Sudanesen zur Flucht ins Ausland, etwa 4 Millionen wurden im Inneren des Landes vertrieben. Im Krieg stehen sich der arabisch-muslimische Norden und der größtenteils von Christen und Anhängern von Naturreligionen bewohnte Süden mit seinen um Autonomie kämpfenden nilotischen Völkern gegenüber. Über 2 Millionen Menschen sind im Verlauf der Kämpfe und durch Hungersnot und Epidemien infolge des Krieges gestorben.


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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