Ausländer in Deutschland 2/2001, 17.Jg., 30. Juni 2001

INTEGRATIONSPOLITIK

Wendepunkte

"Deutschland ist ein Einwanderungsland" 


Ohne ihn wird das Regierungsviertel nie fertig: Irakischer Betonarbeiter in Berlin

"Die Bundesrepublik Deutschland braucht Zuwanderung, denn das Boot ist nicht voll, sondern es wird immer leerer." Solche Sätze formulieren Wissenschaftler und kritische Beobachter seit Jahrzehnten, jedoch ohne ein entsprechendes Echo in Politik und Medien zu finden. Jetzt schreibt dies wortwörtlich Peter Müller (CDU), Ministerpräsident des Saarlandes und Vorsitzender der Zuwanderungs-kommission der CDU Deutschlands. Ein wahrlich revolutionärer Wandel ist offensichtlich zu verzeichnen, nachdem sich vor allem die Union jahrzehntelang die Legende vom "Nicht-Einwanderungsland" auf die Fahnen geschrieben hatte.

Ein Rückblick auf den langen Marsch zum Bekenntnis "Deutschland ist Einwanderungsland" macht die Wende deutlich: die erste Phase der Ausländerpolitik, in der die Ausländerbeschäftigung als vorübergehende Erscheinung gesehen und davon ausgegangen wurde, dass die sogenannten "Gastarbeiter" über kurz oder lang wieder heimkehren würden, dauerte immerhin von 1955 bis 1973. Ausländerpolitik war in dieser fast zwanzigjährigen Nachkriegszeit in erster Linie deutsche Arbeitsmarktpolitik. In der Wirtschaftskrise der Jahre 1966/67 sorgte Bundeskanzler Ludwig Erhard für Schlagzeilen mit dem Ausspruch, wenn jeder Deutsche eine Stunde in der Woche länger arbeite, brauche man die ausländischen Arbeitskräfte nicht. Ausländer mussten schon bald als Sündenböcke herhalten, eine Funktion, die sich des öfteren in schlechten wirtschaftlichen Zeiten und in Wahlkämpfen wiederholen sollte. Schon früh wurde der Eckpfeiler der Ausländerpolitik eingerammt, der bis vor kurzem galt: "die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland."

Die zweite Phase der Ausländerpolitik dauerte von 1973 bis 1979 und stand unter dem Motto "Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung". Die Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile der Ausländerbeschäftigung setzte Anfang der 70er Jahre vor allem deshalb ein, weil immer mehr "Gastarbeiter" ihre Familien nachholten und erkennbar wurde, dass die Ausländerbeschäftigung eben doch kein vorübergehendes Phänomen sein konnte. Die Diskussion über Kosten und Nutzen der Arbeitsmigration sowie die Furcht vor sozialen Konflikten schlug sich im Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte nieder, der am 23. November 1973 verhängt wurde. Gleichzeitig wurde damals eine erste Eingliederungspolitik für die ausländischen Familien angekündigt, die langfristig in der Bundesrepublik bleiben wollten. Der Anwerbestopp forderte allerdings den Familiennachzug geradezu heraus und führte dazu, dass diejenigen, die schon da waren, auf Dauer blieben, denn es gab ja keine Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland mehr.

In einer kurzen dritten Phase von 1979 bis 1980 standen Integrationskonzepte im Mittelpunkt der Ausländerpolitik. In dieser Zeit legte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn (SPD), ein Memorandum vor. Kühn kritisierte die bisherige Ausländerpolitik, die zu sehr von arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geprägt worden sei. Er forderte die Anerkennung der "faktischen Einwanderung" und beispielsweise ein Kommunalwahlrecht für Ausländer. Die damalige SPD/FDP- Bundesregierung blieb aber mit ihren ausländerpolitischen Beschlüssen weit hinter den Forderungen ihres Ausländerbeauftragten zurück und lehnte seinen Vorschlag für ein Ausländerwahlrecht oder Einbürgerungserleichterungen für die ausländischen Jugendlichen ab.

Die vierte Phase der Ausländerpolitik dauerte von 1981 bis 1990 und läßt sich unter das Motto "Wende in der Ausländerpolitik" und "Kampf um das neue Ausländergesetz" stellen. Aus einem kurzen Wettlauf um Integrationskonzepte wurde 1981 plötzlich ein Rennen um eine Begrenzungspolitik. Die Bundesregierung geriet immer mehr unter den Druck der CDU/CSU-Opposition, der von den unionsregierten Bundesländern noch verstärkt wurde. Unter Zugzwang gesetzt, formulierte die Bundesregierung selbst eine Begrenzungspolitik. Zur Begründung führte sie die Furcht vor sozialen und politischen Spannungen an, die den gesellschaftlichen Frieden in der Bundesrepublik gefährden könnten. Die Regierung brachte noch Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer auf den Tisch. Nach dem Regierungswechsel zur CDU/CSU/FDP-Koalition, der mit durch den ausländerpolitischen Feldzug herbeigeführt wurde, verabschiedete die Bundesregierung schließlich Rückkehrmaßnahmen für ausländische Arbeitnehmer. Erklärtes Ziel dieser Rückkehrpolitik war es, die Zahl der Türken in Deutschland zu verringern. Die jahrelange Debatte um ein neues Ausländergesetz wurde schließlich 1990 beendet.

Eine fünfte Phase in der Ausländerpolitik begann 1990 und dauerte bis 1998, dem Jahr in dem nach dem Regierungswechsel zu Rot/Grün eine erneute Wende in der Ausländerpolitik erfolgte. In den 90er Jahren stand zunächst die Asylpolitik im Vordergrund, die "Gastarbeiter" gerieten in Vergessenheit, die Aussiedler kamen als neue Einwanderungsgruppe hinzu. 1990 und in den folgenden Jahren wiederholte sich die Diskussion um die Zuwanderung nach Deutschland, wenn auch mit veränderten Rollen. Waren es vor zehn Jahren die Türken, die im Brennpunkt einer Begrenzungspolitik standen, konzentrierte sich die Debatte nun auf die Asylbewerber, deren Zahl im Jahre 1992 mit rund 440 000 ihren Höhepunkt erreichte. Die politische Auseinandersetzung und die Schlagzeilen in den Medien sind fast austauschbar. Man braucht nur "Türken" durch "Asylbewerber" zu ersetzen. In beiden Fällen drohte das "volle Boot Deutschland" durch die angeblich zu hohen Zahlen der - damals Türken - bzw. jetzt Flüchtlinge und Asylsuchenden zu kippen. Wiederum gelang es der CDU/CSU das "Ausländerthema" zu besetzen und damit zeitweise die Basis der Sozialdemokraten zu unterminieren. Schließlich stimmte die SPD - wieder mit dem Rücken zur Wand - der Grundgesetzänderung im sogenannten Asylkompromiß zu.

Im Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg im Jahre 1996 wiederholte sich sogar die Einwanderungsdebatte, die früher um Türken und Asylbewerber geführt wurde. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit, so argumentierten diesmal die Sozialdemokraten, sei es unverantwortlich über 200 000 Aussiedler ins Land hereinzulassen. Diese Argumentation brachte der SPD jedoch keine Wählerstimmen. Im Gegenteil, sie erreichte ein denkbar schlechtes Ergebnis im Südwesten. Die Aussiedlerpolitik markiert aber auch einen deutlichen Widerspruch in der Politik der alten CDU/FDP-Bundesregierung: seit 1993 wurde der Zuzug durch eine klare Quote und durch die Einführung von Sprachtests 1996 eindeutig gesteuert. Ein Einwanderungsgesetz, von der Regierung Kohl und vor allem vom damaligen Innenminister Kanther immer strikt abgelehnt, bestand damit bereits beim Zuzug von Spätaussiedlern.

Obwohl die Bundesregierung nicht müde wurde, vor den hohen Zuwanderungszahlen zu warnen, vollzog sich seit der deutschen Vereinigung ein stiller Wandel hin zu einer neuen Ära der "Gastarbeiterpolitik". So wurden in den Jahren 1992 bis 1994 jeweils über eine Million Arbeitserlaubnisse für Ausländer erteilt. Mit ausländischen Saisonarbeitnehmern, Werkvertragsarbeitnehmern oder Gastarbeitnehmern boomte die Ausländerbeschäftigung wie seit ihrem Höchststand Anfang der 70erJahre nicht mehr. Weltweit wurden die höchsten Zuwanderungszahlen verzeichnet, aber die Realität eines Einwanderungslandes weiterhin geleugnet.

In der sechsten Phase der Ausländerpolitik, die noch andauert und die man unter das Motto "Bekenntnis zum Einwanderungsland" stellen könnte, sollte dies anders werden. So jedenfalls kündigten es SPD und Bündnis90/Grüne in ihrem Koalitionsvertrag an. Das Jahr 1999 stand auf Bundesebene ganz im Zeichen von Integrationspolitik - fast wie vor 20 Jahren in der dritten Phase der Ausländerpolitik. Die mit dem Regierungswechsel verbundenen Hoffnungen auf eine gezielte Einwanderungspolitik wurden jedoch vorerst enttäuscht. Die überaus deutliche Ablehnung weiterer Zuwanderung durch Bundesinnenminister Schily stieß auf Kritik, besonders seine Äußerung, die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung sei bereits überschritten. Schließlich rückte die Bundesregierung von ihren Plänen ab, generell doppelte Staatsangehörigkeiten bei den geplanten Einbürgerungserleichterungen in Kauf zu nehmen. Die Unterschriftenkampagne der CDU/CSU gegen diesen sogenannten "Doppelpass" und der unter anderem damit erzielte Wahlerfolg der Union in Hessen am 7. Februar 1999 hatten maßgeblich zu diesem Rückzieher geführt. Die schließlich verabschiedeten erleichterten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für "Ausländerkinder" stellen jedoch einen Wendepunkt in der "Ausländerpolitik" dar. In der 1999 veröffentlichten Broschüre der Bundesregierung zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht wird denn auch zum ersten Mal regierungsamtlich festgestellt: "Deutschland ist schon längst zum Einwanderungsland geworden."

Ein weiterer Markstein der Ausländerpolitik war der 24. Februar des Jahres 2000, als Bundeskanzler Schröder auf der Technologiemesse CeBit in Hannover verkündigte, über eine sogenannte Green-Card-Regelung ausländische Computer-Spezialisten ins Land zu holen und damit den Forderungen der Wirtschaft Rechnung zu tragen. In der Folge setzte ein regelrechter Wettlauf um eine Einwanderungspolitik ein. Die Rechnung des CDU-Spitzenkandidaten bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers mit einer ausländerpolitischen Kampagne, diesmal mit dem Slogan "Kinder statt Inder", wiederum dem politischen Gegner das Wasser abzugraben, scheiterte dabei kläglich.

Die Bundesregierung - jetzt eindeutig in der Offensive - setzte eine unabhängige Kommission "Zuwanderung" unter dem Vorsitz der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) ein. Die CDU konterte mit einer eigenen "Zuwanderungs-Kommission". Die CSU, die sich offensichtlich als einzige Partei an die "Nicht-Einwanderungslegende" klammert, zog mit einer eigenen Kommission nach. Der Endspurt um ein Einwanderungsgesetz läuft auf vollen Touren. Die Grünen triumphieren und nehmen für sich in Anspruch, die Bundesregierung auf dem Weg zur Einwanderungspolitik entscheidend vorangebracht zu haben und fordern gar eine Rückkehr zur Asylpolitk vor der Grundgesetzänderung von 1993. Die SPD will abwarten, bis die Kommission voraussichtlich im Juli ihren Bericht vorlegt. Die CDU gerät mit ihrem teilweisen Beharren auf den alten Positionen unter den Druck und die Kritik der Wirtschaft, die weitergehende Einwanderungsregelungen nicht nur für Computerfachleute fordert und auf den Arbeitskräftemangel hinweist. Die FDP hatte bereits 1997 einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt. Im Juni 2000 veröffentlichte sie Grundzüge eines Zuwanderungs- und Integrationskonzeptes. Im Prinzip sind sich eigentlich alle Parteien darüber einig, die Zuwanderung gebündelt durch ein Gesetz zu regeln und für die Zukunft zu gestalten. Es geht jetzt um die konkrete Ausgestaltung, über die man streiten kann. Scheindebatten über "Leitkultur" und "Nationalstolz" sind in diesem Zusammenhang allerdings wenig hilfreich.

Deutschland steht offensichtlich an einem Wendepunkt seiner Nachkriegsgeschichte und bekennt sich endgültig zu seiner Rolle als Einwanderungsland. Alle Hoffnung auf eine All-Parteien-Koalition der Vernunft in der Einwanderungsfrage darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die Vergangenheit der Ausländerpolitik lehrt, wie schnell sich wieder der Wind drehen und wieder ein restriktiver Kurs eingeschlagen werden kann. Die Oppositionsparteien von CDU/CSU versuchen auf jeden Fall die Bundesregierung mit Forderungen nach weiteren - in der Realität aber kaum noch möglichen - Einschränkungen in der Asylpolitik unter Druck zu setzen.

Eines allerdings hat sich jetzt entscheidend geändert: bei allen Parteien setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir aufgrund der Bevölkerungsentwicklung auf Einwanderer angewiesen sind. An den Daten und Fakten der Bevölkerungsentwicklung kommt keine Partei mehr vorbei, wobei klar ist, dass Einwanderung die Entwicklung zum "Altersheim Deutschland" gar nicht mehr rückgängig machen , sondern höchstens noch abfedern kann. Wer den Wirtschaftsstandort Deutschland sichern will, muß die Wähler auf Einwanderung einstimmen und stößt dabei jenseits aller Parteigrenzen auf die gleiche Schwierigkeit: wie soll man jetzt für mehr Einwanderer werben, nachdem jahrzehntelang Parolen wie "Das Boot ist voll" verbreitet wurden?


Autor: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, SWR-International

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