Ausländer in Deutschland 3/2001,17.Jg., 30. September 2001

RELIGIONEN

Islam-Feindbildern entgegenwirken


Aleviten mit heiliger Fahne auf dem 1. Mai-Umzug in Berlin 1994

Seit den Terroranschlägen in den USA haben viele Menschen - auch in Deutschland - Angst. Nicht nur vor Terroristen und "Schurkenstaaten", sondern vor allem, was fremd erscheint. Dazu gehören auch die 2,8 bis 3,2 Millionen Muslime in Deutschland. Angesichts möglicher islamistischer Urheber der Attentate und Täterspuren, die auch nach Deutschland führen, ist es nun enorm wichtig, zu den Muslimen nicht auf Distanz zu gehen, sondern den Dialog zu verstärken.

Zu den innenpolitischen Reaktionen nach den Anschlägen in den USA erklärte die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, Marieluise Beck, am 14.09.2001: "Mit größter Sorge verfolge ich die feindlichen und ablehnenden Reaktionen gegenüber muslimischen Menschen nach den Terroranschlägen... Bei allem Verständnis für Erschütterung und Wut über die abscheulichen Anschläge dürfen die Reaktionen nicht in eine pauschale Verurteilung islamischer oder arabischer Menschen in unserem Lande münden. Führende islamische Verbände in Deutschland haben gemeinsam mit den christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften eindeutig ihr Entsetzen über diese grausamen Taten geäußert. Statt Gräben des Hasses auszuheben, sind Besonnenheit und Dialog auf allen Seiten gefragt. Denn die Grenzziehung verläuft nicht zwischen den Religionen, nicht zwischen Christentum und Islam, sie verläuft zwischen Zivilität und Respekt vor menschlichem Leben und einem politischen Fundamentalismus, der sich der Religion bedient."

Schon der Süssmuth-Bericht hatte davor gewarnt, "die bloße Existenz von Moscheen und Koranschulen fälschlicherweise immer wieder als Ausdruck von Fundamentalismus und Desintegration der muslimischen Bevölkerung" zu werten. Verallgemeinernde Ängste vor muslimischen Einrichtungen seien fehl am Platze. Zweifellos gebe es hier islamische Organisationen, die sich den freiheitlich-demokratischen Werten unserer Gesellschaft nicht verbunden fühlen. Doch "der pauschale Verdacht des Fundamentalismus gegenüber islamischen Organisationen in Deutschland ist falsch".

Gretchenfrage

Abneigungen gegen Menschen anderen Glaubens bei EU-Bürgern wies eine im März 2001 von der "Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" vorgestellte Studie nach. Die Frage "Empfinden Sie die Anwesenheit von Menschen anderer Religion als störend?" bejahte jeder sechste Deutsche. Die Umfrage zeigte auch, dass nur sehr wenige der Gretchenfrage "Wie hältst du's mit der (fremden) Religion" gleichgültig gegenüberstehen. Die Ergebnisse verwundern kaum. Gerade die Wahrnehmung der Muslime und des Islam in der deutschen Öffentlichkeit ist geprägt durch tief verwurzelte Vorurteile. Die Rede von der islamischen Bedrohung, die Gleichsetzung des Islam mit fundamentalistischem Denken, aber auch das Vorführen orientalischer Herrscher als irre Machthaber - all das sind vielleicht auch Elemente eines gefährlichen Feindbildes vom Islam. Den Westen schockierende Ereignisse - von der islamischen Revolution im Iran 1979 bis zu den frauenfeindlichen Dekreten der Taliban in Afghanistan - begünstigen dessen Entstehung. Die zugrunde liegenden Vorurteile haben sich jedoch seit einem Jahrtausend entwickelt. Kaum jemand hat ein fundiertes Wissen zum Islam, aber jeder hat schon einmal etwas gehört von den "Sarazenen" als Gegner der Kreuzzüge, von meuchelmordenden "Assassinen" oder von der Bedrohung des Abendlandes durch die "Türken" vor Wien. Und Hadschi Halef Omar kennt man als muslimische Kontrastfigur zu Karl Mays christlichem Helden Kara Ben Nemsi. Wenn nun in den Nachrichten plötzlich von Usama Bin Ladens Terrortruppen gesprochen wird, glaubt man, ihn in diesen Kontext einordnen zu können.

"Wie bei jedem Feindbild spiegelt sich auch im Islam-Bild in Deutschland mehr die eigene Befindlichkeit als die Realität der Abgebildeten wider" - sagte Marie-Luise Beck schon 1997. Schon damals, wenige Jahre nach dem zweiten Golfkrieg von 1990, machten sich Experten verstärkt Sorgen um die Entstehung eines Feindbildes Islam als Ersatz für die irrelevant gewordene kommunistische Bedrohung. Erklärt wird dies unter anderem dadurch, dass verschiedene tatsächliche oder vermeintliche Phänomene so miteinander in Beziehung gebracht werden, dass ein bedrohliches Szenario entsteht. Lutz Hoffmann von der Universität Bielefeld benennt diese Facetten: "Aggressive und/oder antiwestliche Politik islamischer Staaten wie Iran, Irak, Libyen, Syrien und Afghanistan; die Auslegung des 'Dschihad' als Lehre vom heiligen Krieg und damit als Beweis für die aggressive Intention des Islam; islamisch-theologische Legitimation der Politik in diesen Staaten; Menschenrechtsverletzungen; Zitate des Koran und Aussagen islamischer Theologen, die als Ablehnung von Menschenrechten interpretiert werden können; muslimische Einwanderung nach Europa; Indizien für eine Erweiterung der Einflusssphäre des Islam (Moscheen, Kopftücher); Assimilationswiderstände und Segregation bei islamischen Einwanderern sowie Sozialisations- und Integrationsdefizite bei Kindern islamischer Einwanderer." Durch die Fiktion einer Ganzheit Islam werden diese eigentlich zusammenhanglosen Erscheinungen und Merkmale miteinander kombiniert und zu einem Gesamtphänomen Islam verschmolzen. Natürlich sind einzelne Facetten dieses Bildes zutreffend, es ist jedoch eine groteske Fehlinterpretation, sie derart zu verallgemeinern, wie es mancher Stammtisch seit dem 11. September formuliert: "Und jetzt wollen die hier auch noch mit Islamunterricht anfangen!"

Peter Heine hat in seiner Publikation "Konflikt der Kulturen oder Feindbild Islam" die historischen Wurzeln der Versatzstücke freigelegt, die sich seit Ende der Ost-West-Konfrontation zu einem "Feindbild Islam" zu verdichten drohen, das seine wissenschaftliche Rechtfertigung in Samuel P. Huntingtons Theorie vom "Zusammenprall der Zivilisationen" zu beziehen meint. Der US-Politologe sagte für das 21. Jahrhundert einen "Zusammenprall der Zivilisationen" voraus und identifizierte die islamische Zivilisation als Hauptkonkurrenz des Westens, weil diese mit westlicher Modernität nicht vereinbar sei. Islam und Westen, meint dagegen Michael Lüders, sind "wie verfeindete Zwillinge. Im jeweiligen Bild des Anderen entdecken sie das verdrängte Unbewußte des eigenen Ichs und reagieren angstvoll: mit kulturellen Stereotypen." Beide Seiten haben ganz ähnliche Schwierigkeiten miteinander. Carsten Colpe beschreibt sie durch das psychologische Begriffspaar "Abwehr und Annahme". Gleichzeitig mit der Übernahme vieler westlicher Ideen und Werte ist im Orient ein "Feindbild Westen" entstanden. Auch nach der Unabhängigkeit "mußte der intelligente und feinfühlige Araber die weiter bestehende Unterordnung seiner Kultur unter die des Westens spüren", schreibt Bernard Lewis. Weiterhin benötigte man westliche Technologien und Waffen, auch die Ideologien ("selbst die antiwestlichen") und die Forschungen über die arabisch-islamische Kultur blieben abhängig vom Westen. "Selbst ... die Geräte und Annehmlichkeiten seines Alltagslebens waren Symbole der Knechtung durch eine fremde und dominante Kultur, die er hasste und bewunderte, nachahmte, aber nicht teilen konnte." So wurde der Westen zum "großen Versucher", was nach islamischer Lehre eine der Eigenschaften Satans ist, schreibt Lewis. Dazu kommt die schwierige Rolle der USA im Nahostkonflikt. Vielleicht wird hier verständlich, wie bei einer Minderheit ein solcher Hass entstehen konnte, der selbst Terror zu rechtfertigen scheint.

Fundamentalismen

Heine betont, dass nur der Dialog und die enge Kooperation zwischen beiden Welten der gefährlichen Situation wechselseitiger Feindbilder entgegenwirken kann. Das erfordert zunächst Wissen über neuere soziale und politische Entwicklungen in der islamischen Welt. Seit den 70er-Jahren kommt es hier zu einer Rückbesinnung auf den traditionellen Islam. Zur wichtigsten Konfliktlinie innerhalb des Islam entwickelte sich seitdem der Gegensatz zwischen Säkularismus und Integrismus ("Fundamentalismus"), das heißt zwischen auf Verweltlichung zielenden Tendenzen (Trennung von Kirche und Staat) und konservativ dogmatischer Gegenreformation (unter anderem Forderung nach Wiedereinführung der Scharia). Der islamische Fundamentalismus ist vor allem als Abwehr gegen den Säkularismus zu verstehen. Dahinter steht die grundlegende Frage, wie sich Islam und Moderne miteinander versöhnen lassen. Ein Problem ist die Nationalstaatlichkeit und die von ihr geforderten Loyalitäten - auch der Religion - gegenüber dem Staat. Ein anderes ist die nur schwerfällig sich modernisierende Wirtschaft dieser Länder. Beide bilden gegenwärtig das "islamische Dilemma".

Zum Verständnis des Fundamentalismus-Phänomens trug Mitte der 90er-Jahre auch ein Projekt der American Academy of Arts and Sciences in Chicago bei. Analysiert wurde der Kampf radikaler amerikanischer Christen, ägyptischer Muslime und Juden in Israel gegen die Moderne. Fundamentalismus ist also kein islamisches Phänomen, er ist in den Zusammenhang ähnlicher religiöser Bewegungen einzuordnen. Auch der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel hat das Erstarken radikaler Strömungen in den drei monotheistischen Religionen seit den siebziger Jahren untersucht. Seit dieser Zeit des Umbruchs im Verhältnis von Religion und Politik streben alle drei Strömungen eine gesellschaftliche Umwälzung auf sakraler Grundlage an. Ihr gemeinsamer Gegner ist der aufgeklärte Staat moderner westlicher Prägung.

Das Dialog-Erfordernis

Obwohl die meisten muslimischen Migranten diesen Fundamentalismus ablehnen, erscheinen sie vielen Deutschen bewusst oder unbewusst als bedrohlich. Udo Steinbach, Leiter des Orient Instituts, betont, dass die Herausforderung der Anwesenheit ausländischer Migranten in der Frage liegt "Wie wird aus dem Fremden, der als Migrant oder in anderer Eigenschaft hier ist, der deutsche Bürger muslimischen Glaubens?" Er erinnert daran, dass der Islam, der Muslim und die islamische Kultur bislang in der Perzeption weiter Kreise "das Fremde, das Andere schlechthin" waren. Zu stereotyp ist oft das Bild, das sich Experten, Journalisten und Reisende vom Islam machen. Ins Zentrum von Berichten rücken oftmals allein die Bilder und Vorstellungen vom Islam, also das Feindbild, nicht der Islam selbst. Dennoch kann man optimistisch sein. Der Islam wird schon seinen Weg im Land der Dichter und Denker finden, schließlich schrieb schon Goethe: "Wer sich selbst und andere kennt, wird erkennen, Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen." Auf dieser Erkenntnis aufbauend sollte man wieder stärker in Dialog miteinander treten.

Ein Beispiel für den Erfolg eines solchen Dialoges war die 1. Bremer Islam-Woche 1997. Sie fand bundesweite Beachtung, denn selten zuvor war es gelungen, die unterschiedlichsten politischen und kulturellen Traditionen des Islam zusammenzubringen und eine Veranstaltung zu organisieren, an der die Kirchen, die Universität, Museen und Firmen mitarbeiteten. Hier wurde nicht nur deutlich, woran es stark mangelt - an einer öffentlichen Anerkennung als drittstärkste Religionsgemeinschaft in Deutschland -, sondern auch, dass die vermeintlichen Unterschiede in den Wertvorstellungen gar nicht so groß sind. Kritische Themen müssen freilich im Dialog und nicht in der Konfrontation gelöst werden. Gelegenheiten gibt es viele. Ob in Flensburg, Pforzheim oder in Mannheim - diesen Herbst finden einige Dialogveranstaltungen statt. In Gießen bemüht sich die 3. Interreligiöse Woche Mitte September darum, die Begegnung, das Gespräch und die Verständigung zwischen Juden, Christen und Muslimen zu fördern - zum Beispiel durch gegenseitige Besuche in ihren Gotteshäusern. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland lud Anfang Oktober zu einem bundesweiten "Tag der offenen Moschee" ein. Wenn der Dialog nur zeigt, wie groß die Spannbreite zwischen Bin Laden und türkischen säkularen Muslimen ist, so ist schon viel gewonnen.


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

Literaturtipps:

  • Colpe, Carsten: Problem Islam; Beltz Athenäum Verlag, Weinheim, 2. erg. und verb. Aufl 1994

  • Graf, Peter/Antes, Peter: Strukturen des Dialogs mit Muslimen in Europa; Peter Lang Verlag 1998

  • Hannemann, Tilmann/Meier-Hüsing, Peter (Hg.): Deutscher Islam - Islam in Deutschland, diagonal-Verlag, Marburg 2000

  • Heine, Peter:Konflikt der Kulturen oder Feindbild Islam. Alte Vorurteile - neue Klischees - reale Gefahren; Herder Verlag, Freiburg 1996

  • Hippler, Jochen/Lueg, Andrea (Hg.): Feindbild Islam, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1993

  • Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. btb/Goldmann Verlag, München 1998 (ISBN: 3442755069)

  • Kepel, Gilles: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch; Piper Verlag, München 1991

  • Marty, Martin E./ Appleby, R. Scott: Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne; Campus Verlag, Frankfurt a. M. 1996

  • Piest, Uli (Hg.): Muslimisches Leben in Deutschland; Inter Nationes, Bonn 2000

  • Rotter, Gernot: Allahs Plagiator: die publizistischen Raubzüge des 'Nahostexperten' Gerhard Konzelmann; Palmyra Verlag, Heidelberg 1992 (ISBN 3-9802298-4-X)

  • Said, Edward: Orientalismus, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1994

  • Tibi, Bassam: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden; Primus Verlag, Darmstadt 2000

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