Ausländer in Deutschland 1/2002, 18.Jg., 31. März 2002

GESUNDHEIT INTERKULTURELL

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Macht Migration krank?

"Hoca Nasreddin", fragten die Leute, "wie geht es dir?" - "Oh," antwortete der Hoca, "kommt ganz darauf an, wer mich fragt." Die kleine Szene aus der türkischen Erzähltradition ist lehrreich: Gesundheit und Krankheit sind keine objektiven, von einem Individuum feststellbaren Tatbestände - weder von denen, die eine Beeinträchtigung mitteilen, noch von "ExpertInnen", die die Diagnose formulieren. Ebenso wenig allgemeingültig sind Annahmen und Kenntnisse über den besten Weg zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit. Dies gilt bereits innerhalb eines Kulturkreises, umso mehr im Hinblick auf verschiedene Kulturen bzw. Migrantenkulturen. Welche Anforderungen ergeben sich daraus für MigrantInnen und für Personal und Institutionen des Gesundheitssystems?


Medizinische Untersuchung bei der Anwerbung, 1973

In sozialmedizinischen Gutachten über türkische MigrantInnen finden sich häufig Aussagen wie: "Ihr Verhalten ist leidensbetont mit demonstrativen Schmerzangaben", "jede Bewegung des Körpers wird von Schmerzbekundungen begleitet" und Ähnliches. Die Gutachten beschreiben sogenannte parasprachliche Äußerungen wie Seufzen, schweres Atmen, dazu nonverbaler Ausdruck wie ein leidender Gesichtsausdruck. Was bedeutet das? Drücken solche PatientInnen besonders schlimme Schmerzen aus? "Übertreiben" sie? Vielleicht, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen? Wollen sie gar eine Krankheit nur simulieren? Oder sprechen sie einfach nicht ausreichend Deutsch? Fest steht zunächst nur: Solche Gutachten beschreiben Verhaltensweisen, die in der Kultur der Aufnahmegesellschaft unüblich sind. Wie gut ist medizinisches Fachpersonal ausgebildet und darauf vorbereitet, dahinter liegende Krankheiten zu identifizieren?

Von der Definitionsmacht des Fachpersonals hängt für Kranke vieles ab: nachvollziehbare Diagnosen, wirkungsvolle und akzeptable Behandlungsmethoden, evtl. die erforderliche "Krankschreibung", damit der Arbeitsplatz nicht verloren geht. Fachpersonal kann dies nur leisten, wenn es die Bedeutung der geäußerten Beschwerden versteht und wenn seine Nachfragen und Erklärungen verstanden und akzeptiert werden. Auf beiden Seiten, sowohl auf der Seite des Gesundheitssystems und seiner AkteurInnen, als auch auf der Seite der verschiedenen MigrantInnengruppen, besteht die Notwendigkeit, kulturelle Spezifika der jeweils anderen Seite zu (er-)kennen und sensibel damit umzugehen.

ExpertInnen verschiedener Disziplinen haben einige Beiträge für ein besseres Verständnis von Gesundheit und Krankheit in Migrantenkulturen erarbeitet. Zu den beschriebenen auffälligen Schmerzäußerungen etwa, die in traditionell orientierten Gruppen häufiger vorkommen, gibt es Erklärungsansätze aus der Ethnopsychologie. Soner Tuna führt solches Verhalten auf tief verwurzelte "traditionelle innere Zensur" zurück: Ein - aus hiesiger Sicht - "freier" Ausdruck von Wünschen und bestimmten Emotionen gilt in solchen Gruppen als unerwünscht; als Ersatz dienen nonverbale Ausdrucksformen, manchmal auch indirekte Aussagen und die Verwendung von Gleichnissen. Zudem ist die Definition von Krankheit eng mit dem Symptom körperlicher Schmerz verknüpft. Entsprechende Äußerungen stehen daher im Mittelpunkt einer Hilfesuche beim Arzt. Dies gilt auch dann, wenn die wahrgenommene Störung des Wohlergehens im psychischen Bereich liegt. Tuna verweist darauf, dass die traditionelle bäuerliche Kultur der Türkei, die viele MigrantInnen der ersten Generation geprägt hat, nicht zwischen Körper und Seele trennt. Zudem lehnen PatientInnen aus orientalischen Herkunftskulturen Hinweise auf möglicherweise "soziale" Ursachen von Krankheiten zunächst oft ab. Die starke Einbindung in soziale Gefüge fordert Achtung und Respekt vor Personen des eigenen Umfeldes und lässt Kritik kaum zu. Eine der Folgen: PatientInnen fordern medikamentöse Behandlung ein, wo diese eher schädlich, zumindest aber unangemessen ist.

Damit sind nur einige Quellen von Missverständnissen zwischen bestimmten Gruppen von MigrantInnen und "modernen" MedizinerInnen benannt. Sie lassen erkennen, dass Personen, deren Gesundheits- bzw. Behandlungskonzepte denen unseres Gesundheitssystems abweichen, überdurchschnittlichen Risiken der Fehldiagnose und Fehlbehandlung unterliegen, wenn sie nicht auf ExpertInnen mit sowohl fachlicher wie interkultureller Kompetenz treffen.

Integration hält gesund

Hinzu kommt, dass Migration allgemein bereits mit einem überdurchschnittlichen Erkrankungsrisiko verbunden zu sein scheint. Zieht man die mit Migration verbundenen einschneidenden Lebensereignisse, chronischen Belastungen und täglichen Ärgernisse in Betracht, so ist nach Auffassung von Jürgen Collatz von der Medizinischen Hochschule Hannover von einem zehnfachen gesundheitlichen Risiko auszugehen.

Allerdings verweisen mehrere AutorInnen darauf, dass aus den besonderen Anforderungen der Migration keineswegs Krankheit resultieren muss. Auch das Gegenteil kann der Fall sein: In vielen Fällen helfen gerade diese Anforderungen, persönliche und soziale Ressourcen und Bewältigungsmechanismen zu aktivieren, und das kann hohe Lebenszufriedenheit und besonderes Wohlergehen zur Folge haben. Wenn die stützende Wirkung von Familie und "Communities" aktiviert und genutzt werden können, wenn persönliche Anstrengungen zur Verbesserung der ökonomischen Situation erfolgreich sind, so sind dies wesentliche Faktoren der Bewältigung (coping) von Belastungen, also der Gesunderhaltung.

Informationsdefizite im Gesundheitsbereich auf beiden Seiten werden seit einigen Jahren diagnostiziert. Initiativen, Projekte und Wissenschaftler haben damit begonnen, Lösungen zu erarbeiten. Gewarnt werden muss davor, für ÄrztInnen und Pflegepersonal einfach zu handhabende Verhaltenskataloge für den Umgang mit ethnisch definierten Gruppen von MigrantInnen zu entwickeln und solches Material für die Lösung des Problems zu halten. Denn hier besteht die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerungen. Vergessen wir nicht: Ein Großteil der MigrantInnen hat umfangreiche interkulturelle Kompetenz und Sachkenntnis über die hiesige Lebenswelt erwerben müssen und erworben, nicht zuletzt, um in der Arbeitswelt und auch im Umgang mit Institutionen bestehen zu können. Da ist die muttersprachliche Begrüßungsformel nicht immer ein geeigneter Gesprächseinstieg, denn viele verstehen sich als bi-kulturell. Mehr noch: Unkritische Rückgriffe auf "ethnisch" orientierte Umgangsformen schaffen neue Fehlerquellen. Wenn PatientInnen vorschnell als "traditionell" oder "orientalisch" eingestuft werden, besteht die Gefahr, dass eine Ermutigung zu "modernen" Äußerungen über psychologische oder soziale Belastungen ausbleibt. Allgemein betrachtet muss berücksichtigt werden, dass die Mehrheit der MigrantInnen in Deutschland nicht in einer, sondern in zwei Kulturen lebt, mehr oder wenig intensiv und mehr oder weniger kenntnisreich. Für ärztliches und pflegerisches Personal gilt demnach, sensibel und flexibel agieren zu lernen. Und für MigrantInnen und ihre Selbstorganisationen gilt, Informationsdefizite und interkulturelle Verständnisprobleme auch auf der "eigenen" Seite aufzuspüren sowie an der Erarbeitung und Verbreitung von Wissen über Gesundheitssystem und Krankenversorgung mitzuwirken.

Bei all dem sollte die präventive Gesundheitsförderung nicht aus dem Blick geraten. Es sei wiederholt: Persönliche Anstrengungen im Verbund mit unterstützenden sozialen Strukturen und positiv verstärkt durch Erfolgserlebnisse - das sind wichtige Faktoren der Gesunderhaltung in der Migration. Nimmt man dies ernst, so geht es auch um mehr Bildung, Beschäftigung und Partizipation für MigrantInnen. Anders formuliert: Gesundheit ist eine Herausforderung für die Integrationspolitik.


Autorin: Marie-Luise Gries, isoplan

Tipp:
Dokumente der Fachtagung "Migration und Gesundheit - Perspektiven der Gesundheitsförderung in einer multikulturellen Gesellschaft" (1999) finden sich auf den Internetseiten des Deutschen Hygiene-Museums Dresden: www.dhmd.de (siehe Archiv)

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Deutsche Rheuma-Liga aktiv für kulturelle Öffnung

 

Rheuma ist in Europa die wohl weitest verbreitete chronische Erkrankung. Die Deutsche Rheuma-Liga will gemeinsam mit ExpertInnen und Betroffenen die Situation rheumakranker Migranten in Deutschland ins Visier nehmen. Austausch mit ExpertInnen soll "neue Impulse und Ideen für unsere Hilfe zur Selbsthilfe" bringen, so Christine Jakob, Präsidentin der 230.000 Mitglieder zählenden Organisation.

Unterstützt von Ausländerbeauftragten, Ärzten und Beratern, die fremde Sprachen beherrschen, will die Deutsche Rheuma-Liga 2002 rheumakranken Migranten besondere Unterstützung anbieten. Hierzu werden erstmals eine Reihe wichtiger Merkblätter in englisch, türkisch und russisch bereitgestellt. (mlg)

Kontakt: Deutsche Rheuma-Liga e.V., Bundesverband, Maximilianstr. 14, 53111 Bonn, Tel.: 02 28 / 7 66 06 11, Fax: 02 28 / 7 66 06 20, http://www.rheuma-liga.de 

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Kauhölzchen und Süßholz

 

Schlechte Nachrichten für die Zahnpasta-Industrie: Die in Asien, Afrika und den arabischen Ländern seit Jahrhunderten verbreiteten Kauhölzchen säubern die Zähne genauso gründlich wie eine Zahnbürste. Das jedenfalls hat Christine D. Wu von der University of Illinois in Chicago wissenschaftlich nachgewiesen. Die Kauhölzchen - Zweige bestimmter Baum- und Straucharten, die in Form und Dicke einem Bleistift entsprechen - werden bis auf die Fasern zerkaut. Mit den Fasern können dann die Zwischenräume zwischen den Zähnen gesäubert und das Zahnfleisch massiert werden. Antibakterielle Substanzen, die beim Kauen freigesetzt werden, töten Keime ab. Die von Wu untersuchten Kaustäbchen aus Namibia enthielten sechs verschiedene Antibiotika. Eine vergleichbare Studie der Weltgesundheitsorganisation hat gezeigt, dass bei Menschen, die ihre Zähne regelmäßig mit Kauhölzchen säubern, keine Karies und keine Entzündungen des Zahnfleischs auftreten. Aufgrund der Nachfrage vieler Migranten sind die Stäbchen auch in einigen arabischen Lebensmittelgeschäften bundesweit erhältlich. Doch Vorsicht: Sie sind leicht zu verwechseln mit Süßholz. Die Wurzeln dieses Strauches kann man zwar auch kauen, besser aber raspelt man sie: als Grundlage für die Herstellung von Lakritze oder eines Tees gegen Bronchitis und Magengeschwüre. Letzteres wußten schon die alten Ägypter. Dem Süßholz werden auch legendäre sexuell stimulierende Wirkungen nachgesagt. Aber Achtung: zuviel Süßholz raspeln treibt den Blutdruck gefährlich hoch. (esf)

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