Ausländer in Deutschland 1/2002, 18.Jg., 31. März 2002

INTERKULTURELLE ÖFFNUNG

Fehldiagnosen und Endlostherapien

Langsam öffnet sich das Gesundheitswesen für die Belange von MigrantInnen

Das Gesundheitszentrum für MigrantInnen in Köln

Eine Bedarfsanalyse in Köln kam 1995 zu dem Ergebnis, dass MigrantInnen aufgrund der Migrationserfahrungen und Lebensbedingungen besonderen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind, und dass sie mangelhaft über existierende öffentliche und nicht öffentliche Gesundheitsdienste und Angebote informiert werden. Hinzu kommen Sprachprobleme, Ängste und Unsicherheiten, die den Zugang zu präventiven, kurativen und rehabilitativen Leistungsangeboten im somatischen und psycho-sozialen Bereich erschweren. Daraufhin wurde das "Gesundheitszentrum für MigrantInnen" eingerichtet, dessen Ziel es ist, die medizinische und psychosoziale Versorgung der MigrantInnen zu verbessern und sie in die Regelversorgung und -dienste im Gesundheitswesen zu integrieren. Seine Aufgaben sind zum einen die Beratung, Information und Betreuung der MigrantInnen. Zum anderen soll es durch gezielte Maßnahmen die interkulturelle Öffnung der Regeldienste vorantreiben. (vk)

Kontakt: Gesundheitszentrum für MigrantInnen, Marsilstein 6, 50676 Köln, Tel. 0221/95 15 42 31, guerel-thol@paritaet-nrw.org 

 

Oftmals wird verallgemeinernd angenommen, dass MigrantInnen häufiger erkranken als Einheimische. Die gegenwärtigen Forschungen zum Thema Migration und Krankheit weisen jedoch darauf hin, dass es hier genauer hinzusehen gilt: Richtig ist, dass sich sowohl höhere als auch niedrigere Raten finden ließen, wenn man nach einzelnen Krankheitsbildern unterscheidet. Und dann wiederum ist es weniger das kritische Lebensereignis der Migration, das krank macht, als vielmehr die spezifischen Bedingungen der Lebensgestaltung in der neuen Umgebung.

Besondere Risikokonstellationen, die mit Migration verbunden sein können, sind etwa schwere Arbeitsbedingungen oder aber auch Arbeitslosigkeit, unzulängliche Wohnverhältnisse, das Fehlen eines engen familiären Netzwerkes, die Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung. Eine Sichtweise auf den Migrationsprozess und seine Folgen, die die Kultur überbetont, ist deshalb zu einseitig. Der Problemkreis Migration und Gesundheit muss vielmehr auch als ein Sonderfall des Themas "soziale Lage und Gesundheit" gesehen werden. Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung von MigrantInnen setzen deshalb sowohl die Stärkung der "interkulturellen Kompetenz" in den Institutionen und beim Personal voraus als auch den Abbau der strukturellen Benachteiligungen, die krankmachend wirken oder umgekehrt die Genesung verzögern.

Ein wesentlicher Faktor, den es hierbei zu betrachten gilt, ist die Sprache. Eine Studie an der Universität Osnabrück hat den Zusammenhang zwischen der Überrepräsentanz bestimmter Aussiedlergruppen in der stationären Behandlung und die Bedeutung der Ressource "Deutschkenntnisse" für die Entwicklung und Behandlung der Erkrankung herausgearbeitet. Dabei hat sich unter anderem gezeigt, dass die Behandlungsdauer bei geringer Sprachkompetenz bis zu doppelt so lang sein kann. Eine weitere empirische Untersuchung über Erfahrungen türkischer Migrantinnen in einer Berliner Frauenklinik offenbart große Mängel in der Kommunikation zwischen ÄrztInnen und Patientinnen: Dort, wo Übersetzungen notwendig sind, werden sie in der Regel durch "Zufallsdolmetscher" gewährleistet - vom Ehemann bis hin zu Reinigungskräften und Bettnachbarn. Der Anspruch von Patienten auf korrekte Information und medizinische Therapie kann auf diese Weise nicht immer eingelöst werden. Gerade in der Gynäkologie werden relevante Informationen bei der Vermittlung durch Angehörige oder Fremde möglicherweise durch Schamgefühle und Tabus verzerrt. Die "Sprachlosigkeit" zwischen medizinischem Personal und PatientInnen führt mitunter zu hilflosen Reaktionen, von Fehldiagnosen bis hin zur Übermedikation. Die Lösung dieses Dilemmas sehen die Fachleute auf der einen Seite in der Förderung der Sprachkompetenz von MigrantInnen und auf der anderen Seite im Einsatz professioneller DolmetscherInnen.

Gleichzeitig sind MigrantInnen oftmals nur unzureichend über die breitgefächerten Angebote des deutschen Gesundheitssystems informiert. Arif Ünal, Leiter des Gesundheitszentrums für MigrantInnen in Köln, hat immer wieder festgestellt, "dass sich etwa MigrantInnen aus der Türkei, auch wenn sie seit über zehn Jahren in der Bundesrepublik leben, und Kontingentflüchtlinge aus Russland zu wenig im Gesundheitssystem auskennen. Da sie keine ähnlich ausdifferenzierten Strukturen in ihren Heimatländern kennen, können sie sich unter vielen dieser Strukturen nichts vorstellen, wie etwa Beratungsstellen für Geschlechtskrankheiten, sozialpsychiatrische Zentren oder Selbsthilfegruppen." Das Beratungszentrum hat darauf reagiert, indem es einerseits PatientInnen an diese Institutionen vermittelt, andererseits aber auch gezielte Angebote selbst macht oder die Gründung von Selbsthilfegruppen initiiert.

Besonders gravierende Probleme sieht Ünal in der Psychiatrie und Geriatrie (Altersheilkunde). So berichtet er von einem Patienten, der in eine Klinik eingewiesen wurde und mit dem erst nach drei Wochen ein Anamnesegespräch geführt werden konnte, weil vorher kein Dolmetscher zu organisieren gewesen war - in der Zwischenzeit wurde er mit Medikamenten "ruhiggestellt". Diese weder ethisch noch wirtschaftlich vertretbaren Missstände basieren in den meisten Fällen auf mangelnden Ressourcen, mitunter aber auch auf fehlender Sensibilität und mangelndes Problembewusstsein.

Wenn bestimmte Gruppen von Menschen nicht mehr in ausreichendem Maße vom bestehenden Versorgungssystem mit seiner ausgeprägten "Komm-Struktur" erreicht werden, ist der öffentliche Gesundheitsdienst als dritte Säule des Gesundheitswesens neben ambulanter und stationärer Versorgung in der Pflicht, geeignete Maßnahmen zu treffen. Dass im Falle von MigrantInnen ein öffentliches Interesse besteht, liegt auf der Hand: Versorgungsstrukturen, die die Belange der MigrantInnen nicht berücksichtigen, wirken sich nicht nur ungünstig auf deren Gesundheit aus, sondern sie können sich auch als Kostenfaktoren niederschlagen. Ingrid Geiger vom Gesundheitsamt Heidelberg sieht deshalb eine Reihe von Handlungsfeldern für eine qualitätsorientierte interkulturelle Öffnung im Gesundheitsdienst: die Entwicklung einer migrationssensiblen Gesundheitsberichterstattung, die Förderung interkulturell kompetenter und muttersprachlicher Fachkräfte sowie der interkulturellen Teambildung, der schrittweise Abbau von Zugangsbarrieren, die Anregung einer regionalen Vernetzung zwischen Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens und die Sichtbarmachung der interkulturellen Öffnung nach innen und nach außen.

Letzteres kann sich zum Beispiel in einem Leitbild ausdrücken. Das Leitbild des öffentlichen Gesundheitsdienstes muss ein Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft und zur interkulturellen Orientierung der Dienstleistungen enthalten. So formuliert etwa die Landeshauptstadt München als Anforderung an die von ihr im Gesundheitswesen bezuschussten Einrichtungen, dass sie "die kulturellen Unterschiede zu respektieren hätten und nicht selektierend wirken dürften. Krankmachende Faktoren, die aus der Ausgrenzung, Missachtung oder der Nicht-Verständigung der Angehörigen verschiedener Kulturen resultieren, sollten im präventiven Sinne wie auch in der gesundheitlichen Versorgung besondere Berücksichtigung finden".


Autorin: Veronika Kabis

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