Ausländer in Deutschland 1/2002, 18.Jg., 31. März 2002

Mobilität und integration

Bosnien-
Herzegowina

Gebremste Entwicklung, instabiler Frieden

"Bosnien ist 'out', jetzt ist bei Ihnen Afghanistan 'in'," sagt Ana Stefani (Foto) ironisch. Ähnlich äußern sich viele Menschen in Bosnien-Herzegowina. Nach jahrelanger Berichterstattung über den Krieg von 1991 bis 1995 hat sich die internationale Fernsehöffentlichkeit anderen Themen zugewandt: Aktualität zählt, und Krieg ist heute andernorts. Die meisten Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina mussten in die Heimat zurückkehren, nur etwa 40.000 waren Anfang 2001 noch in Deutschland - meist mit dem Status "geduldet" (siehe Box). Was ist das für ein Frieden in Bosnien-Herzegowina heute, und wie leben RückkehrerInnen und dort Gebliebene?


Ana Stefani (84) Sarajewo: Krieg, Flucht und Rückkehr, dazu den Verlust vieler Freunde und Verwandten hat die über 80Jährige mit beeindruckender geistiger Klarheit überstanden. Ihr Appell: "Schauen Sie nach Bosnien! Vergessen Sie vor allem unsere Jugendlichen nicht"

Bevölkerung aus Bosnien-
Herzegowina in Deutschland

Wohnbevölkerung: 156.300

In Deutschland Geborene: 25.500
Aufenthaltsdauer:
1 bis 4 Jahre: 12.300
4 bis 8 Jahre: 50.800
8 bis 10 Jahre: 43.500
über 10 Jahre: 49.800

Flüchtlinge: 40.000 (davon 34.300 mit Duldung, 6.400 mit Aufenthaltsbefugnis)

Der stärkste Zuzug von Bosniern fand im Jahr 1993 statt, dem zweiten Kriegsjahr (107.000 Zuzüge, 10.300 Fortzüge).

Seit 1996 überwiegen die Fortzüge im Vergleich zu den Zuzügen bosnischer Staatsbürger; seither hat die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland rapide abgenommen (1997: 243.000, 2000: 40.000)

Einbürgerungen in 2000: 500

(Stand: 31.12.2000; Quellen: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen: Daten und Fakten zu Ausländersituation 2/2002; Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge)

 


Zerstörtes Oslobodenje-Gebäude und UNO-Fahrzeuge in Sarajewo

Das Olympiastadion in Sarajevo ist umgeben von weit ausgedehnten Grabfeldern, dreigeteilt: "Unsere Toten sind ethnisch separiert," kommentiert eine Frau, " wie wir Lebenden und das ganze Land: muslimisch, serbisch, kroatisch." Die so genannte Minderheitenrückkehr - in Gebiete, in denen Angehörige anderer Ethnien die Mehrheit stellen - ist nach wie vor problematisch; Menschenrechtsorganisationen berichten bis heute von Übergriffen und Gewalt. Erkundungen im Vorfeld solcher Vorhaben sind nach wie vor dringend zu empfehlen, von deutscher Seite werden sie zum Beispiel von CIMIC, einer Spezialeinheit der deutschen SFOR-Truppen (Security Force) durchgeführt. Doch auch bei Rückkehr in sozusagen ethnisch unproblematische Nachbarschaften bleiben gravierende Probleme zu meistern: Es fehlen Arbeitsplätze, und da werden Dagebliebene den Zurückkehrenden bzw. Angehörige der eigenen Ethnie denen der anderen vorgezogen.

Offiziell - allerdings nicht vollständig erhoben - liegt die Arbeitslosigkeit bei 55 %. Ein System zur Erfassung von Arbeitslosigkeit und von offenen Stellen wird im Kanton Tuzla und in Sarajevo gerade erst etabliert, mit Hilfe der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Vorsichtige Schätzungen sprechen derzeit von etwa 75 % Arbeitslosigkeit. Zwar stiegen nach dem Dayton-Abkommen die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP), doch das Ausgangsniveau war niedrig: Die Produktion machte vor dem Krieg noch 30% des BiP aus, am Ende nur noch 5%. Nach einem anschließenden Wachstumsschub bis zu 40% in 1997 sind derzeit immerhin noch (geschätzte) 5% Wachstum zu verzeichnen. Allerdings führt dies nicht zu einer entsprechenden Zunahme von Arbeitsplätzen.

Eine Reihe von großen Unternehmen liegt seit dem Krieg brach oder arbeitet unrentabel, meist staatseigene Betriebe aus sozialistischer Zeit. ExpertInnen setzen auf Durchsetzung marktwirtschaftlicher Strukturen, doch eine sehr zähe Bürokratie, die noch geprägt ist durch ältere, "sozialistische" Kader, erweist sich als Hemmnis-Faktor. Hinzu kommt, dass sich im Laufe von Privatisierungsbemühungen recht gut Geschäfte machen lassen: Korruption, Begünstigung und Bestechung sowie Spekulationsgeschäfte mit angeblich "wertlosen" Betrieben gehören zum aktuellen Umwandlungsprozess hinzu.

Zusätzlich erschwert wird die Entwicklung in allen Bereichen durch ethnisch definierte Uneinigkeiten. Bosnien-Herzegowina wurde in zwei Einheiten, so genannten Entitäten, etabliert: die Republika Srbska und die Föderation Bosnien und Herzegowina, beide in starkem Maße politisch unabhängig. Bis heute behindern sich die "ethnisch" unterschiedlich zusammengesetzten Entitäten gegenseitig, wenn gemeinsame Entscheidungen gefordert wären. Ähnliches gilt für unterschiedliche Kantonalverwaltungen und setzt sich bis in einzelne Institutionen hinein fort - eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Internationale Institutionen leisten bei den wirtschaftlichen und vielen anderen Umbaumaßnahmen in Bosnien-Herzegowina noch immer gezielte und systematische Unterstützungsarbeit, in abnehmender Tendenz und mit unterschiedlich schnellem Erfolg. Immerhin wurde die so genannte "kleine Privatisierung" kleiner und mittlerer Betriebe vor allem im Dienstleistungsbereich abgeschlossen. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) gibt sich optimistisch: Die Privatisierung der "großen und staatseigenen Betriebe" könne in 2002 Erfolg haben.

Für Existenzgründer und für Personen, die einen kleinen Betrieb übernehmen oder sanieren wollen, gibt es Lichtblicke im Kreditwesen: Eine Reihe von Banken vergibt inzwischen relativ günstige und handhabbare Kredite. Möglich wurde dies durch Maßnahmen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Sie stellt seit 1998 Kreditmittel für ausgewählte Partnerbanken bereit und führt begleitende Ausbildungs- und Beratungsmaßnahmen bei diesen Banken durch. Ziel ist der Wiederaufbau der Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Rückzahlungsquoten der Kredite sind hoch - allerdings sind auch die Voraussetzungen entsprechend gestaltet: Eigenmittel, Finanzierungs- und Managementplan sind notwendige Voraussetzungen. Bis Juli 2001 wurden durch die Kredite 852 neue Arbeitsplätze geschaffen und 1.967 bestehende erhalten.

Augenscheinlicher Aufbaubedarf besteht nach wie vor bei Gebäuden und Wohnraum. Nach dem Krieg war ein Drittel aller Häuser und Wohnungen stark beschädigt oder vollständig zerbombt. Doch in den letzten Jahren haben die Überlebenden des Krieges, Rückkehrer wie Dagebliebene, Erstaunliches geleistet, - mit eigenen Mitteln und mit internationaler Hilfe. Selten arbeiten dabei auch die "großen" Hilfsorganisationen ausschließlich mit eigenem Geld. So konnte die IOM (International Organization of Migration) für rückkehrende Flüchtlinge aus Deutschland Bundesmittel aus den Programmen REAG und GARP verwenden. Mitte 2001 sind diese Programme ausgelaufen; nur einige Bundesländer fördern weiterhin die Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina.
Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung, auch der zurückgekehrten Flüchtlinge, konnte bzw. muss sich selbst behelfen. Kreditmöglichkeiten für den Wohnungsaufbau, ähnlich wie für Existenzgründer geschildert, mussten erst geschaffen werden. Die Partnerbanken der KfW vergeben Kredite in einem eigenen Wohnungsbau-Kreditprogramm von Juni 1998 bis Juni 2001 wurden 25 Millionen Euro bewilligt. Etwa ein Viertel der Kreditnehmer sind Rückkehrer. Die Rückzahlungsquote ist außerordentlich hoch: Sie liegt bei 99 %. Voraussetzung für diese Kredite ist allerdings ein regelmäßiges Monatseinkommen von mindestens 350 Euro, nur in Ausnahmefällen weniger.

Die Kreditfähigen dürften insgesamt betrachtet eher in der Minderheit sein. Denn die Einkommen derer, die eine Anstellung finden, variieren auf niedrigem Niveau, sie sind in der bosnischen Föderation etwas höher als in der Republika Srbska, in Städten höher als auf dem Land. In Sarajevo bringen es GymnasiallehrerInnen auf 300, 350 Euro; hohe Verwaltungsangestellte auf 400 Euro - Großverdiener. Die überwiegende Mehrheit dürfte unter 200 Euro verdienen, sofern überhaupt regelmäßige Einkommen gezahlt werden. Eine vierköpfige Familie verbraucht allein an Lebensmitteln etwa 250 bis 350 Euro. Renten liegen bei etwa 100 Euro. Die Kosten für medizinische Behandlung zahlt man derzeit selber und bar - sonst wird man auch als Versicherter nicht behandelt, da die Kassen die Rechnungen der Ärzte und Krankenhäuser nicht begleichen.

Wie kann man das schaffen? Die Frage wird oft nur mit Kopfschütteln beantwortet. Hier ein kleiner Job, da eine Aushilfstätigkeit, verbliebenen Besitz verkaufen. Und oft ist zu hören: "Mein Bruder, meine Schwester schickt manchmal Geld aus Deutschland, der Großvater bezieht eine Rente aus Deutschland...". MigrantInnen in Deutschland spielen eine wichtige Rolle beim schlichten Erhalt ihrer Verwandten in Bosnien-Herzegowina. "Deutschland, so komisch das klingt, ist nach all den Jahren dort meine Heimat. Und doch ist meine Heimat auch hier." Klagen hört man als Besucherin eher selten.

Es ist schwer, allgemein von den Perspektiven Bosnien-Herzegowinas zu sprechen. Die Jugendlichen vor allem sehen wenig Chancen für die Zukunft. "Alle denken an Weiterwanderung," sagen die Eltern und Großeltern. "Sie sind oft nicht einmal hier zur Schule gegangen, sondern nur in Deutschland. Manche haben bei der Rückkehr eine Ausbildung dort abbrechen müssen. - Wenn die Jugend keine Arbeit hat und nicht hier bleiben will, wer soll dieses Land aufbauen?"

Argumente für mehr Optimismus sind schwer zu finden. Wirtschaftliche Probleme und Konkurrenz um die wenigen Einkommensquellen in einem "ethnisch" nur oberflächlich befriedeten Land - zumindest mit Blick auf den instabilen Frieden im Land drängt sich die Frage auf: Was würde geschehen, wenn Bosnien-Herzegowina nicht nur in unseren Medien "out" wäre, sondern auch bei den Aufbauhelfern der internationalen Gemeinschaft?


Autorin: Marie-Luise Gries, isoplan

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