Ausländer in Deutschland 4/2002, 18.Jg., 30. Dezember 2002

Glosse

Die Baumschule

 

"In unserer Baumschule lernen Sie, meine Damen und Herren, innerhalb von drei Monaten, was eine deutsche Eiche ausmacht: Standfestigkeit, Bodennähe und...". Die Kursleiterin blickte in die Runde. Die Arbeitslosen klappten eifrig ihre Notizblöcke auf und begannen hineinzukritzeln: "Eine deutsche Eiche..." .

Die AB-Maßnahme war heiß begehrt - schließlich gab es im Jahr 2020 kaum reguläre Arbeitsplätze mehr. Nur wenige Privilegierte, vor allem Einheimische, hatten noch einen Vollzeitjob mit Kündigungsschutz und Rentenversicherung. Kommunen, Länder und Bund überlegten hin und her, wohin mit den vielen frustrierten Müßiggängern. Vor fünf Jahren hatte sich dann die Stadt Niederpöpelsdorf mit einer bahnbrechenden Initiative hervorgetan: Die Arbeitslosen wurden anstelle von Bäumen als Alleen aufgestellt. Das sparte die Kosten für das Gartenamt und war obendrein schmückend. Denn die heimische Flora war zu dieser Zeit auch knapp geworden. Die Initiative fand viele Nachahmer, sie wurde sogar im Ausland übernommen. Um in den Genuß einer solchen ABM zu kommen, mussten die Bewerber allerdings die entsprechende Qualifikation nachweisen. Die vielen Migranten, die in ihrer Heimat Pinie, sibirische Zeder oder Palme gelernt hatten, wurden, wenn sie in eine Allee und nicht im untertariflich bezahlten Botanischen Garten landen wollten, vom Arbeitsamt zu einem Umschulungskurs geschickt.

"Schreiben Sie: Als erstes müssen Sie Ihre Nadeln abwerfen. Zweitens, sich Laub zulegen und in die Breite gehen. Im Sommer machen Sie Schatten. Aber passen Sie auf: nicht zuviel Schatten, sonst beklagen sich die umliegenden Geschäfte, dass man ihre Schaufenster nicht mehr sieht. Im Herbst werfen Sie Laub ab - aber nicht zuviel, muß ja entsorgt werden. Die Eicheln? In der Stadt gibt es bekanntlich keine Wildschweine, aber Eicheln müssen sie auch werfen - wegen der DIN-Norm. Kinder sammeln sie für das Basteln im Kindergarten, wissen Sie... Darum bekommen Sie vom Amt ein Eimerchen voll. Aber grau ist jede Theorie, und ewig grünt der güldene Baum... oder so ähnlich." Die Kursleiterin kicherte vergnügt: "Na ja, Goethe kennen Sie sicherlich nicht. So, und jetzt fangen wir mit der Praxis an. Die erste Übung lautet: drei Stunden unbeweglich an einer Stelle ausharren. Ach, das haben Sie als Pinie auch schon gelernt, Herr Cardoso? Hmmh, ich bin mir sicher, das wurde in Ihrem Land lascher gehandhabt. Sie durften sich dort bestimmt im Wind wiegen und mit den Blättern rascheln, wie? Und - mit Verlaub - pinkeln sind Sie in der Arbeitszeit bestimmt auch gegangen? Na, dachte ich es mir doch! Eine deutsche Eiche tut so was nicht".


Autorin: Matilda Jordanova-Duda (nach einer Idee von Maurizio Libbi und anderen Teilnehmern der Zukunftswerkstatt - vgl. Rubrik " Ausbildungsprojekte")

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