Ausländer in Deutschland 3/2003, 19.Jg., 15. Oktober 2003

EUROPÄISCHE UNION

Die Osterweiterung der EU

Arbeitskräfte-
wanderung und Entwicklungen des Arbeitsmarktes

Mit den Europaabkommen von Anfang der 90er Jahre wurde die Grundlage für die wirtschaftliche Integration und auch schon für eine Erweiterung der Europäischen Union (EU) auf die mittelosteuropäischen Staaten (MOE) geschaffen. Unterstützungen durch die EU im Rahmen von PHARE und bilaterale Aktivitäten zu den Anpassungsmaßnahmen in den MOE-Staaten haben den Integrationsprozess erfolgreich vorangetrieben. Handel und Kapitalverkehr zwischen EU und den heutigen Beitrittsländern unterliegen kaum mehr Beschränkungen und haben sich hinsichtlich Volumen und Strukturen in den Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs wesentlich verändert. Insofern ist in wirtschaftlicher Hinsicht die Integration bereits Realität. In dieser Hinsicht wird die Erweiterung der EU im Mai 2004 nichts wesentlich Neues mehr bringen.

Von diesem Prozess ausgenommen ist bisher der Austausch von Arbeitskräften (ähnlich auch bei den Dienstleistungen). Erst mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU wird die Arbeitnehmerfreizügigkeit - eine der wesentlichen Grundfreiheiten der EU - schrittweise auf die Beitrittsländer ausgedehnt. Auch die Dienstleistungsfreiheit wird in der Übergangsfrist zunächst mit gewissen Einschränkungen eingeführt werden.

Dennoch hatte die bisher erfolgte wirtschaftliche Integration bereits spürbare Arbeitsmarkteffekte: Die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen - dies zeigen die Erfahrungen in der EU - wirken sich deutlich auf den Arbeitsmarkt und auf die Beschäftigungsentwicklung aus. So hat beispielsweise die Ausweitung des Außenhandels eine Verstärkung des Trends der Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften und eine tendenziell verringerte Nachfrage nach geringer qualifizierten Arbeitskräften zur Folge. In einem gewissen Umfang hat die Intensivierung des Handels mit den östlichen Nachbarländern auch Arbeitsplätze gesichert.

Wanderungseffekte bei Arbeitskräftefreizügigkeit

Schon bisher hat einiges an Beschäftigung von MOE-Angehörigen stattgefunden:

  • überwiegend in Deutschland und Österreich (in diesen beiden Ländern arbeiten 80% aller in der EU beschäftigten MOE-Arbeitskräfte),

  • bei einer Größenordnung in Deutschland von ca. 200.000 bis aktuell (2002) 360.000 Personen pro Jahr (Programmarbeitnehmer, v.a. Saison-, Werkvertrag-, Grenz- und "Neue" Gastarbeitnehmer),

  • aber in stark reguliertem Rahmen, innerhalb bilateraler Verträge/Vereinbarungen,

  • v.a. in einzelnen, festgelegten/definierten Wirtschaftszweigen (Landwirtschaft, Bau, Hotel-/Gaststättengewerbe).

Dies wird sich im Rahmen einer EU-Mitgliedschaft und bei Wirksamwerden der Arbeitskräfte-Freizügigkeit sicherlich zwangsläufig anders entwickeln. Zumindest bisher hat sich die stark zunehmende Beschäftigung von Saisonarbeitnehmern in der Landwirtschaft auf die Arbeitsmarktsituation auch für Inländer in diesem Sektor eher positiv ausgewirkt.

Mit dem Beitritt ist nicht die sofortige Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit verbunden, vielmehr wurde mit den Beitrittsländern eine Übergangsfrist von bis zu 7 Jahren vereinbart. Die sogenannte "2+3+2"-Regelung ermöglicht es, die Arbeitnehmerfreizügigkeit aufgrund von arbeitsmarktpolitischen Überlegungen für bis zu 7Jahre einzuschränken. Ein Teil der heutigen EU-Mitgliedsländer (wohl auf jeden Fall Deutschland und Österreich) wird diese Möglichkeit in Anspruch nehmen.

In zwei aktuelleren umfassenden Studien zu arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Auswirkungen der EU-Osterweiterung des European Integration Consortium (DIW, IAB u. a., für die Europäische Kommission) und des ifo-Instituts (für das damalige Bundesministerium für Arbeit) wurden Schätzungen des Wanderungspotenzials von Arbeitskräften aus ausgewählten Kandidatenländern nach Deutschland vorgenommen. Als Haupteinflussgrößen für die Projektion des Wanderungspotenzials wurden die Komplexe Wohlfahrts-/Einkommensunterschiede, wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsmarktsituation und -perspektiven in die Analyse einbezogen. Die Ergebnisse beider Studien sind in der folgenden Tabelle dargestellt.

Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung ist in den verschiedenen Beitrittsländern sehr unterschiedlich verlaufen. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts lagen jedoch in den letzten Jahren fast durchgängig wesentlich über denen Deutschlands und der EU. Insofern haben sich die Einkommensunterschiede schon deutlich reduziert, wenn sie auch immer noch beträchtlich sind: Allerdings relativieren sich diese Unterschiede mittlerweile in einem gewissen Umfang, wenn man die Kaufkraftparitäten in die Berechnungen einbezieht. Auch die Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten sind sehr differenziert zu betrachten: einzelne Länder (insbesondere Polen) haben hier derzeit mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, zum Teil aus demographischen Gründen, zum Teil wegen der Folgen von Strukturanpassungen in verschiedenen Wirtschaftszweigen (Landwirtschaft, Bergbau, Schwerindustrie). Andere Länder wie Ungarn und Slowenien weisen insgesamt ein recht positives Erscheinungsbild auf. Aktuell scheint dies auf einen gewissen Wanderungsdruck hinzudeuten.

Für die Einschätzung des zukünftigen Wanderungsanreizes ist aber zu berücksichtigen, dass mit den momentanen Wachstumsraten in den Beitrittsländern, die deutlich über den Wachstumsraten Deutschlands liegen, positive Erwartungen auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft verbunden sind. Bei den Vergleichen des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf bzw. der Nominallöhne in Deutschland und in den Beitrittsstaaten müssen zudem die beträchtlichen Kaufkraftunterschiede berücksichtigt werden. Dies sind Faktoren, die die Wanderungsneigung erheblich verringern.

Im Ergebnis ist zwar auch für die kommenden Jahre noch von signifikanten Wanderungsanreizen auszugehen. Diese liegen jedoch durchaus im Rahmen der Größenordnungen, wie sie derzeit in Deutschland gegeben sind.

Qualifikationsstrukturen und regionale Orientierungen der Arbeitskräftewanderung

Da in Deutschland eine Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitkräften besteht, hätte deren Zuwanderung einen durchaus positiven Effekt. Jedoch ist davon auszugehen, dass nach der siebenjährigen Übergangszeit die Volkswirtschaften in den Beitrittsländern so gewachsen sein werden, dass sie selbst ihre qualifizierten Arbeitskräfte benötigen. Die aktuelle Arbeitsmarktsituation zeigt schon jetzt in diese Richtung. Wanderungsdruck wird daher eher im Bereich der niedrig qualifizierten Arbeitskräfte ausgeübt werden, bei denen die Arbeitslosenquote in den Beitrittsländern in ähnlicher Weise hoch ist wie auch in Deutschland.

Hinsichtlich der räumlichen Verteilung ist zu erwarten, dass sich die Zuwanderung auf die Ballungsräume konzentrieren wird, da dort die größte Nachfrage an Arbeitskräften besteht. Die Hoffnung, dass mit der Osterweiterung das Problem des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland behoben werden kann, wird wohl enttäuscht werden.

Saisonarbeitnehmer - eine Stütze der Landwirtschaft

Wie erwähnt werden in Deutschland bereits heute in nicht unerheblichem Umfang Arbeitskräfte aus den Beitrittsländern insbesondere als Saisonarbeitnehmer (SAN) beschäftigt. Dabei konzentriert sich die SAN-Beschäftigung in mehrfacher Hinsicht:? über 90% aller SAN sind in der Landwirtschaft bzw. verwandten Bereichen tätig; ebenfalls über 90% der SAN arbeiten in Westdeutschland und? ca. 80% aller SAN kommen aus Polen.

Die Vermittlung (und Beschäftigung) von SAN ist seit 1974 kontinuierlich und zum Teil sehr deutlich angestiegen, wohingegen die Erwerbstätigkeit in der Landwirtschaft - einem langjährigen Trend folgend - stetig zurückgegangen ist. Die Zahlen am aktuellen Rand verdeutlichen die mittlerweile immense Bedeutung der SAN-Beschäftigung für die Landwirtschaft (278.000 SAN-Vermittlungen bei einer Gesamterwerbstätigkeit in der Landwirtschaft von ca. 684.000 Personen). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass SAN nur bis zu drei Monaten pro Jahr arbeiten dürfen. Dies reduziert rein rechnerisch das durchschnittliche Jahresvolumen der SAN-Beschäftigung auf ca. 70.000 Personen. Doch auch dies ergäbe einen recht hohen Beschäftigungsanteil der SAN an der Erwerbstätigkeit in der Landwirtschaft von knapp 10%.

Diese Entwicklungen und der hohe Anteil der SAN könnten die Frage aufwerfen, ob nicht hierdurch ungünstige Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation inländischer Arbeitskräfte entstanden sein könnten, dass Inländer also in diesem Kontext in größerem Umfang arbeitslos geworden sein könnten. Ein Vergleich der Tendenzen von Erwerbstätigkeit, Arbeitslosigkeit und SAN-Vermittlung scheint jedoch eher positive Effekte der SAN-Beschäftigung anzudeuten: gleichgültig, auf welcher regionalen Ebene diese Zusammenhänge betrachtet werden (etwa Westdeutschland insgesamt oder für Rheinland-Pfalz oder auch Brandenburg), ist nirgendwo eine Auswirkung in Richtung Erhöhung der landwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit zu erkennen. Im Gegenteil: trotz des deutlichen Anstiegs der SAN-Beschäftigung ist die Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft in den letzten Jahren eher zurückgegangen. Insbesondere gilt diese Aussage für Rheinland-Pfalz mit einem über dem Bundesdurchschnitt liegenden Anteil der SAN-Vermittlung (bzw. -beschäftigung). Es scheint eher so zu schein, dass die Landwirtschaft durch die Verfügbarkeit von relativ günstigen Arbeitskräften aus den Beitrittsländern gestützt wird.

Spezifische Problematik der Grenzregionen

Besondere Probleme können sich in den Grenzregionen zu den Beitrittsstaaten ergeben. Derzeit spielt zwar die Beschäftigung von Grenzpendlern (mit ca. 1,5% der Gesamtbeschäftigung im bayerischen Grenzraum zur Tschechei) u.a. wegen der sehr restriktiven Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt quantitativ keine besondere Rolle. Für Tagespendler stellen aber die immer noch recht hohen Nominallohnunterschiede (weniger die geringeren Kaufkraftunterschiede) weiterhin einen monetären Anreiz dar, in Deutschland zu arbeiten. Die daraus entstehende Problemlage muss aber nach den Charakteristika der einzelnen Regionen differenziert werden: Probleme sind eher dort zu erwarten, wo eine hohe Bevölkerungsdichte besteht, verbunden mit relativ ungünstiger Arbeitsmarktlage, wie z.B. im Grenzgebiet Böhmen-Sachsen. In anderen Regionen könnten zusätzliche Arbeitnehmer benötigt werden, um sich bis dahin möglicherweise entwickelnde Engpässe auszugleichen, wie z.B. in den mittleren und südlichen Regionen des bayerisch-tschechischen Grenzgebiets. Eine Studie zu den möglichen Grenzpendlerpotenzialen kommt daher auch zu relativ moderaten Größenordnungen für diesen Grenzraum.

Osterweiterung und EU-Migrationspolitik

Schon jetzt können die Wanderungsprozesse nur noch begrenzt gesteuert werden. Asylbewerberzugang und Familiennachzug sind in weiten Bereichen durch internationales Recht bzw. humanitäre Vereinbarungen geregelt. Die nicht unerheblichen Größenordnungen der Aussiedlereinwanderung unterliegen in ihrer Beeinflussbarkeit starkem politischem Druck, so dass eine Gestaltung nur sehr behutsam vorgenommen werden kann. Und die Wanderungen zwischen Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) können wegen der Arbeitskräftefreizügigkeit letztlich nicht reguliert werden.

Zu letzterem kommen Überlegungen zur anstehenden EU-Erweiterung hinzu. Nach einer Übergangsfrist von längstens sieben Jahren (entsprechend der im Juni 2001 vom Europäischen Rat auf dem Gipfel von Göteborg festgelegten 2+3+2-Regel, siehe oben) werden Arbeitskräfte der heutigen Beitrittskandidaten ebenfalls einen freien Zugang zu den Arbeitsmärkten der übrigen EU haben. Damit werden ausgehend vom Beitrittsdatum Mai 2004 spätestens im Laufe des Jahre 2011 die osteuropäischen Arbeitskräfte das Recht auf Freizügigkeit - auch nach Deutschland - erhalten. In weniger als einer Dekade wird der Arbeitsmarkt in der EU somit um mindestens 50 Millionen Personen anwachsen. Gerade für das geographisch nahe gelegene Deutschland wird damit ein zusätzliches Arbeitskräftepotenzial verfügbar werden. Diese Größenordnungen sollten jedoch nicht überschätzt werden (vgl. Tabelle). Allerdings werden es weniger die gut qualifizierten Arbeitskräfte sein, die in einem größerem Umfang mobil sein werden, da der Bedarf an ihnen in ihren Heimatländern in ähnlicher Tendenz wie bei uns wächst.

Bei der Ausgestaltung einer nationalen Einwanderungspolitik und der Orientierung an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes darf eines nicht vergessen werden: Heute schon gibt es innerhalb der EU de facto keine autonome deutsche Migrationspolitik mehr, gerade hinsichtlich Arbeitskräftewanderungen. Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte nach Artikel 39ff. EU-Vertrag erlaubt EU-Bürger(innen) seit langem (1968) einen ungehinderten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Eine autonome Zuwanderungspolitik ist derzeit nur noch gegenüber Angehörigen aus Drittstaaten möglich. Und auch hier steht zu erwarten, dass in absehbarer Zeit die Gemeinschaftspolitik weitere Kreise ziehen wird und der nationale (deutsche) Handlungsspielraum kleiner werden dürfte. Die Weiterentwicklung der EU-Migrationspolitik auf den Gebieten Asyl und Flüchtlinge, Drittstaatsangehörigenzugang und -aufenthalt, Familienzusammenführung und freier Personenverkehr (vergleiche hierzu die Mitteilungen und Richtlinienvorschläge der EU-Kommission v.a. aus den Jahren 2001 und 2002) wird den nationalen Gestaltungsspielraum im Gesamtbereich der Wanderungspolitik wesentlich reduzieren.


Autor: Elmar Hönekopp, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), Nürnberg

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