Ausländer in Deutschland 3/2003, 19.Jg., 15. Oktober 2003

DAS BEISPIEL FRANKREICH

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Vieles anders, vieles gleich

Einwanderer in Frankreich

Wenn heute eine Annäherung der Einwanderungsrealitäten in den verschiedenen europäischen Ländern zu beobachten ist, so sind die historischen Unterschiede doch enorm. Vergleicht man die Geschichte der Einwanderung in Deutschland mit der Geschichte der französischen Immigration, so staunt man zunächst darüber, dass fast ein Drittel aller heutigen Einwohner Frankreichs von Einwanderern abstammen, wenn man vier Generationen zurückgeht. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Einwanderer aufgrund des wachsenden Arbeitskräftebedarfs kontinuierlich an. 1931 lag sie bereits bei 2,7 Millionen.

Heute zählt Frankreich ca. 4,3 Millionen Einwanderer. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die französische Statistik im Unterschied zur deutschen zwischen "Ausländern" und "Immigranten" unterscheidet: Als Immigrant gilt, wer im Ausland mit nicht-französischer Staatsangehörigkeit geboren ist; sie werden auch dann noch statistisch als Immigranten erfasst, wenn sie bereits eingebürgert sind - was auf rund eine Million der derzeitigen Immigranten zutrifft. Die Zahl der tatsächlichen "Ausländer" liegt somit bei 3,3 Millionen.

Verschiedene Einwanderungswellen haben ihre Spuren hinterlassen: so etwa die frühen Einwanderungsgruppen aus Polen, Italien und Spanien, die zwischen den Weltkriegen nach Frankreich emigrierten. In den sechziger Jahren war die Einwanderung von Arbeitnehmern aus Portugal, vor allem aber auch von Menschen aus den ehemaligen Kolonien Algerien und Marokko geprägt. Und dies ist ein zweiter Unterschied zur deutschen Einwanderungsgeschichte: über die Hälfte der Einwanderer seit dem Zweiten Weltkrieg stammen aus den Ländern des ehemaligen Kolonialreiches. So stieg die Zahl der Immigranten infolge der expandierenden Wirtschaftsentwicklung und der Kolonialkriege in Algerien und Indochina von 1,8 Millionen im Jahre 1954 auf 3,4 Millionen im Jahre 1975.

Die in jüngster Zeit Immigrierten nehmen statistisch gesehen einen vergleichsweise geringen Raum ein, jedoch nimmt die Zuwanderung aus Südostasien und der Türkei stetig zu. Vor allem aber sind die Einwanderungszahlen aus den subsaharischen Ländern Westafrikas seit 1990 kontinuierlich gestiegen; sie machen fast ein Zehntel der eingewanderten Bevölkerung aus. Wie in anderen europäischen Ländern auch, hat sich das Spektrum der Herkunftsländern also stark erweitert. Auch die Aufenthaltsgründe sind vielfältiger: Familiennachzug, Flucht und Asyl sowie die Suche nach Arbeitsplätzen veranlassen Menschen aus aller Welt, nach Frankreich auszuwandern.

Hinter dieser Vielfalt und der auf den ersten Blick größeren Selbstverständlichkeit im Umgang mit Einwanderern verbergen sich jedoch zahlreiche Widerstände und Widersprüche, die heute erst allmählich sichtbar werden. So bleiben die gesellschaftlichen Aufstiegschancen extrem begrenzt, die Arbeitslosigkeit betrifft Immigranten doppelt so stark wie die übrige Bevölkerung und dreimal mehr die Menschen aus dem Maghreb, der Türkei und Schwarzafrika. Die räumliche Segregation hat neue Konzentrationen im sozialen Wohnungsbau der Peripherien hervorgebracht. Auch verzeichnen die Kinder von Immigranten nach wie vor weniger erfolgreiche Schullaufbahnen, und selbst wenn sie höhere Abschlüsse erlangen, müssen sie mit zahlreichen Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt rechnen. Ausgrenzung und sozialer Abstieg kennzeichnen die Erfahrungen vieler junger Immigranten der "zweiten Generation", die die Versprechungen des französischen Integrationsmodells auf eine harte Probe stellen.

Dieses hat lange Zeit assimilationistische Ziele verfolgt. So sollte die Bindung an spezifische Ausdrucksformen - Sprache, Religion, kulturelle und soziale Praktiken - mit der Zeit aufgelöst werden, und Einwanderer sollten "unauffällige" Mitglieder der französischen Gesellschaft unter dem gemeinsamen republikanischen Dach werden. Der Übergang von einer Assimilations- zu einer Integrationspolitik vollzog sich während der achtziger Jahre. 1989 formulierte der Hohe Integrationsrat Elemente der neuen französischen Einwanderungspolitik. Er forderte auf der einen Seite die Anerkennung der republikanischen Grundwerte ein und auf der anderen Seite einen Umbau der französischen Gesellschaft, der es erlauben sollte, "Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen".

Vor dem Hintergrund sowie der immer deutlicher zu Tage tretenden rassistischen Diskriminierungen erfolgte Ende der neunziger Jahre eine neuerliche Wende in der Integrationspolitik: Nun geht es "nicht mehr nur darum, kulturelle oder soziale Hürden zu überwinden, sondern die Gleichheit der Rechte zwischen Individuen wieder herzustellen, auf die sie ungeachtet ihrer vermeintlichen und tatsächlichen Differenz denselben Anspruch haben. Das Problem wird nicht mehr in dem vermuteten Versagen der Einwanderer gesehen - ihrer Unfähigkeit, sich zu integrieren - sondern in der Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, allen dieselben Rechte zuzuerkennen und zugänglich zu machen, und zwar jenseits des Herkunftskriteriums" (Patrick Simon in "die tageszeitung" vom…). Diese Erkenntnis fand ihren Ausdruck in einer Verstärkung der französischen Antidiskriminierungspolitik, die schon Anfang der siebziger Jahre die rechtlichen Grundlagen zur Bekämpfung rassistischer Diskriminierung schuf. Die von der Europäischen Union vor drei Jahren gesetzten Impulse zur Verbesserung des Rechtsschutzes gegen Diskriminierung sind denn auch in Frankreich, anders als in Deutschland, recht schnell zur Umsetzung gelangt.

Betrachtet man die aktuellen, in großer Schärfe zwischen Politik und Zivilgesellschaft ausgefochtenen Diskussionen in Sachen Einwanderung und Integration, so lässt sich erahnen, welch fundamentale Bedeutung die heute zu treffenden Richtungsentscheidungen für die französische Gesellschaft haben: Die seit Jahren währende Kopftuch-Debatte hat selbst die fortschrittlichen Kreise gespalten, weil sie an das Prinzip der Laizität rührt, die als Garant für Freiheit und Gleichheit in der französischen Republik steht; die Bewegungen der "Sans papiers" haben eine Vielzahl von Franzosen aktiviert, die an die Prinzipien der Bürgernation appellieren und nicht gewillt sind zu akzeptieren, dass das Fehlen von Aufenthaltspapieren Rechtlosigkeit bedeuten soll; die Forderungen nach der Abschaffung der "double peine" - also der doppelten Bestrafung von jugendlichen Straftätern, die nach Verbüßen der Haft ins Herkunftsland der Eltern abgeschoben werden - reiben sich am scharfen innenpolitischen Regierungskurs, der sich die Bekämpfung der "insécurité" auf die Fahnen geschrieben hat. Auch in der Integrationspolitik hat sich der Ton verschärft, wobei eine generelle Annäherung zwischen den Modellen in anderen EU-Mitgliedsstaaten zu verzeichnen ist. So wurde in Ergänzung zum jüngsten Gesetzentwurf des französischen Innenministers Sarkozy über den "Umgang mit der Einwanderung und den Aufenthalt von Ausländern in Frankreich" ein Integrationsprogramm entworfen, das die Einrichtung von Integrationsverträgen vorsieht. Auch hieran scheiden sich die Geister: Migranten- und Menschenrechtsorganisationen fordern selbst seit geraumer Zeit die Schaffung eines "Rechts auf Sprache", verbunden mit umfassenden Sprachförder- und Alphabetisierungsprogrammen, wehren sich aber gegen Verpflichtungen und Sanktionen. Parallelen zur deutschen Einwanderungsdiskussion sind also unverkennbar.


Autorin: Veronika Kabis, 
Leiterin des Zuwanderungs- und Integrationsbüro der Stadt Saarbrücken

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Die Malaussène-
Romane

 

Benjamin Malaussènes Hund "stinkt dermaßen, dass sein Schatten sich weigert, ihm zu folgen: Er geht ihm voraus". Mit dieser schnodderigen Sprache ist Daniel Pennac in Frankreich zum Kultautor avanciert. Mittlerweile sind beim Verlag Kiepenheuer & Witsch ein halbes Dutzend seiner "Malaussène-Romane" in neuer Übersetzung erschienen, zuletzt "Wenn alte Damen schießen" (ISBN: 3-462-03157-0). Malaussène, der offiziell als Verlagslektor arbeitet, wird gerne als Sündenbock benutzt. Diese Rolle hat er schon in einem Kaufhaus perfektioniert. Ob Beschwerden von Kunden oder Fehler der Verlagsleitung - immer, wenn es Ärger gibt, hat er zur Stelle zu sein. Zuhause, im Zuwandererstadtteil Paris-Belleville, hat der maghrebinische Familienvater mehrere Opas aufgenommen: depressive Greise, die Heroin spritzen. Einer, "Verdun", zieht seit 1915 Regenwasser auf Flaschen wie andere Wein. Manch besonders trockenen Tropfen Brackwasser entkorkt er zu besonderen Anlässen. "Risson", ein anderer Greis, fixt, um den Malaussène-Kindern Literatur weitergeben zu können. Damit sein Gedächtnis sprudelt, braucht der ehemalige Buchhändler eine Spritze. In der Familie ist nichts so, wie es sich gehört. Aber auch das Viertel selbst ist in Aufruhr. Mehrere alte Damen sind ermordet worden und mehrere Polizeiinspektoren nehmen parallele Ermittlungen auf. Nach einem Mordversuch an einer Journalistin gerät der Sündenbock Malaussène ins Visier der Beamten.

Pennac hat en passant eine große Geschichte über das Altern geschrieben, über die Einsamkeit, die Erinnerungen, die Passivität und die Angst vor dem Tod. Er ist dabei so originell und witzig, dass man süchtig werden kann. Phantastische Konstruktionen wie die, dass städtische Wohnungsaufkäufer die Alten mit Drogen voll pumpen, um ihre Wohnungen zwecks Luxussanierung in die Hand zu bekommen, erscheinen keineswegs wie an den Haaren herbeigezogen. Und natürlich gibt es zum Finale überraschende Wendungen, die nur aus der Feder eines Pennac stammen können. Der in Casablanca geborene Autor lebt in Belleville. Das von sozialen Problemen und Kriminalität geprägte Viertel beschreibt er bei aller Sprachakrobatik und Handlungsphantasterei sehr lebensnah. Die Zuwanderer übrigens sind weder Opfer noch Täter der Kriminalhandlung. (esf)

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"Ni putes, ni soumises"

 

Die Lebensgeschichte der 29-jährigen Samira Bellil, Tochter algerischer Migranten, ist die Geschichte eines von Gewalt geprägten Lebens in einem der Vororte von Paris, in denen fast nur noch maghrebinische und schwarzafrikanische Einwanderer wohnen. Ihr Buch mit dem Titel "Durch die Hölle der Gewalt" wurde 2003 beim Züricher Pendo Verlag auch auf Deutsch veröffentlicht. 2002 stand es in Frankreich mehrere Wochen auf den Bestsellerlisten. Mit ihrer Lebensgeschichte wurde Bellil zur Symbolfiguren einer neuen Bewegung, die nach einem Marsch durch verschiedene Städte mit einer Kundgebung in Paris zum Weltfrauentag ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Unter dem Motto "Ni putes, ni soumises" - Weder Hure noch Unterdrückte - machte diese Bewegung Anfang 2003 auf die Gewalt gegen junge Frauen in französischen Vorstädten aufmerksam. Allzu oft müssen Frauen ihren Ausbruch aus traditionellen und religiös verbrämten repressiven Verhaltensmustern mit dem Verlust ihrer körperlichen Integrität und Würde bezahlen.

Genau dies erlebt Samira. Der Vater schlägt und beschimpft sie. Mit Beginn der Pubertät wird sie zum Problemkind, schwänzt die Schule, stiehlt, treibt sich auf der Straße herum, um der unerträglichen familiären Atmosphäre zu entfliehen. Sie verliebt sich in den Anführer einer Clique aus ihrem Viertel und geht mit ihm ins Bett. Bei den Jugendlichen des Viertels gilt sie von nun an als Schlampe, und im Alter von 14 wird sie von Mitgliedern der Clique ihres "Freundes" mit dessen Einverständnis vergewaltigt. "Tournantes" - das Herumreichen von Mädchen, wie diese Gruppenvergewaltigungen im Slang der Vorstädte genannt werden - scheinen in einigen Vierteln zur alltäglichen Gewalt zu gehören. Sie sind Ausdruck eines brutalen Machismo von Halbstarken, die Frauen entweder als Heilige oder als Huren betrachten. Bellil erlebt kurze Zeit später eine zweite Vergewaltigung und wird mit 16 Jahren im Urlaub am Strand von Algier schließlich ein drittes Mal vergewaltigt. Ihre Familie reagiert mit Beschimpfungen und Verachtung. Zwar unterstützen die Eltern sie darin, gemeinsam mit anderen Opfern die Täter anzuzeigen, aber schließlich setzt der Vater sie vor die Tür. Bellil lebt in den folgenden Jahren zum Teil auf der Straße, in der ständigen Angst vor Rache, sie quält sich mit Schuld- und Schamgefühlen und richtet die erlebte Gewalt nun gnadenlos gegen andere, aber vor allem gegen sich selbst. Um sich zu betäuben trinkt sie exzessiv, raucht und nimmt Drogen. Erst nach einer langen Psychotherapie ist sie 13 Jahre später in der Lage, ihre Geschichte aufzuschreiben und dadurch ihre qualvollen Erlebnisse ein Stück weit zu verarbeiten.

Bellils Buch, geschrieben in der derben und unverblümten Sprache der Jugendlichen aus den Vorstädten, ist eine Anklage der Täter. Leider wirkt ihre diese Sprache oft unreflektiert und plakativ. Die tatsächliche Gewalt, auch ihre eigene, wird dem Leser aufgrund der sich wiederholenden Phrasen nicht immer deutlich. (esf)

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