Ausländer in Deutschland 3/2003, 19.Jg., 15. Oktober 2003

DAS BEISPIEL NIEDERLANDE

Vom Minderheiten-Deal zur individuellen Anpassung

Einwanderer in den Niederlanden

Grüppchen meist dunkelhäutiger Menschen, die unter Anleitung Bahn fahren üben, so berichteten vor Jahren die Fernsehsender über die Einführung des niederländischen Integrationsprogramms.1998 besiegelten die Nachbarn ihre langjährige Debatte über die richtige Integrationspolitik mit einem in Europa einmaligen Gesetz: WIN (Wet Integratie Nieuwkomer). Damit wurden die neu ankommenden Einwanderer zur Teilnahme an Sprach- und Orientierungskursen verpflichtet.

Seit den 80er Jahren akzeptiert die niederländische Gesellschaft die Tatsache, dass die Eingewanderten sich auf Dauer niederlassen, und bekennt sich zum Multikulturalismus. 1985 bekamen die Ausländer das kommunale Wahlrecht. Trotz Antidiskriminierungspolitik blieb die Arbeitslosigkeit unter Migranten jedoch sehr hoch. Deshalb wurde der Schwerpunkt in den 90ern auf deren Eingliederung in den Arbeitsmarkt, auf die Schule und Erwachsenenbildung gelegt. Die Wissenschaftler empfahlen der Regierung in Den Haag zahlreiche Maßnahmen: kostenlose Sprachkurse, Auffangklassen für Migrantenkinder, erweiterter Niederländisch-Unterricht in der Grundschule u.a. Schon vor Inkrafttreten von WIN organisierte die damalige sozial-liberale Regierung landesweit Einbürgerungsprogramme. Mit dem Gesetz wurde die Praxis juristisch verbindlich und lückenlos. Da dieses Modell dem deutschen Zuwanderungsgesetz Pate stand, beauftragte des Landeszentrum für Zuwanderung (LZZ) NRW das niederländische Landesbüro zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung mit einer Studie über das Konzept und die vorläufigen Ergebnisse von WIN. Die Studie "Mehr als Sprachförderung" erschien 2001. Gegenwärtig arbeitet Uwe Berndt von der Universität Freiburg im LZZ-Auftrag an einer weiteren Analyse.

WIN ist mehr als nur Sprachförderung, obwohl das Erlernen der niederländischen Sprache die meiste Unterrichtszeit einnimmt. Dazu kommen Grundkenntnisse über Staat und Gesellschaft sowie soziale und berufliche Orientierung. Jeder Neuankömmling hat den Rechtsanspruch auf eine maßgeschneiderte Eingliederung, und die Gemeinde hat dafür zu sorgen. Bei der Eingangsuntersuchung werden daher die Vorkenntnisse, die Ausbildung und die Berufserfahrung sowie die Wünsche des Einwanderers festgestellt und schriftlich festgehalten. Während der ganzen Zeit kümmert sich ein Betreuer um den Ausländer. 600 Unterrichtsstunden hat der durchschnittliche Neuankömmling innerhalb eines Jahres zu absolvieren. Je nach Ausgangsniveau dürfen es jedoch mehr oder weniger sein. Das Unterrichtsprogramm wird mit einer Prüfung in Sprache und gesellschaftlicher Orientierung abgeschlossen. Am Ende wird der Einwanderer nicht mit seinem Zertifikat allein gelassen, sondern in Berufsfortbildung oder in ein Arbeitsverhältnis vermittelt.

Die Teilnahme ist in Holland Pflicht, sonst droht die Kürzung der Sozialhilfe oder ein Bußgeld. Allerdings, schreiben die Studienautoren, werden selten Sanktionen verhängt. Einige Kommunen setzen stattdessen auf Belohnung für gute Mitarbeit. Nach dem Konzept sollen alle volljährigen Migranten mit Daueraufenthalt in den Genuss von WIN kommen, sobald ihnen die ersten Aufenthaltspapiere ausgehändigt worden sind. In der Praxis gibt es viele Ausnahmen. So sind alle EU- und USA-Bürger von vornherein ausgeschlossen, ebenfalls Diplomaten, Mitarbeiter internationaler Organisationen und Manager. Je nach Bildungsabschluss oder Gesundheitszustand können Einzelne sich vom Unterricht zeitweise oder ganz freistellen lassen.

Ob der Anspruch auf hochwertige, individuell angepasste Eingliederung verwirklicht wird, hängt von mehreren Faktoren ab. An erster Stelle nennen die Autoren die Qualität der Prozessbegleitung. Die "Prozessbetreuer" begleiten den Neuankömmling persönlich von der Anmeldung bis zur Abschlussprüfung, notfalls auch eine Zeit lang danach. Sie helfen bei Problemen, motivieren, koordinieren die verschiedenen Phasen und Akteure des Prozesses. Die Betreuer sind in der Regel Mitarbeiter des Sozialamts, haben Sozialarbeit studiert und praxisorientierte Fortbildungen erhalten. Doch in kleinen Gemeinden müssen sie nebenher viele andere Aufgaben wahrnehmen. In den Großstädten gibt es eigenständige Betreuerbüros, doch müssen sie sich oft um zu viele Personen gleichzeitig kümmern. Hier haben die Betreuer meist selbst einen Migrationshintergrund. Je kleiner die Kommune, desto seltener trifft das zu. Die über diese Arbeit hinausgehende soziale Betreuung, die Alltagsdinge wie eben Bahnfahren, Arztvisiten, Kontakte zu Migrantenvereinen und Ähnliches einschließt, wird oft von Ehrenamtlichen übernommen.

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist die Zusammenarbeit zwischen den WIN-Akteuren: die Kommune, das Regionale Bildungszenter (ROC) und das Arbeitsamt. Letzteres soll die Chancen des Einwanderers auf dem Arbeitsmarkt begutachten und nach Abschluss der Kurse zügig weitervermitteln. Die ROCs haben quasi eine Monopolstellung als Bildungsträger. Dies und auch finanzielle Kürzungen führten dazu, so die Studie, dass vielerorts Standard- statt Individuallösungen angeboten wurden. Für die Integrationskurse von rund 22.000 Neuankömmlingen pro Jahr gibt die Regierung in Den Haag 150 Mio. Euro aus.

Es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit einer Integrationspolitik. Kritisiert werden eher die Details der Umsetzung. So eignet sich das Programm vor allem für Niedrigqualifizierte, da es auf dem Sprachniveau der Berufsschule endet. Für die Belange der Akademiker reicht das nicht. Gefordert wird auch mehr berufsbezogene Fachsprache und Kinderbetreuung während der Unterrichtszeit. Niederländische Migrantenorganisationen beklagen, dass das Gesetz sich ausführlich mit den Pflichten und mit der Bestrafung der Migranten beschäftige. Auf der anderen Seite sei die Ausgestaltung der Einbürgerungsprogramme weitgehend den Kommunen überlassen. Sanktionen für Städte und Gemeinden, die ihren gesetzlichen Pflichten nicht oder nur unzureichend nachkommen, sind im WIN nicht vorgesehen.

Nach Angaben von Uwe Berndt bricht etwa ein Drittel vorzeitig ab. Deshalb will die neue Mitte-Rechts-Regierung den Zwang verstärken. Denkbar sind aufenthaltsrechtliche Konsequenzen, wie sie z.B. die Stadt Amsterdam anwendet. Es gebe auch Pläne, die Teilnehmer eine gewisse Summe als Kaution hinterlegen zu lassen. Zudem wolle man Familiennachzügler - das sind etwa 60 % der Neueinwanderer - verpflichten, schon vor der Einreise Niederländischkurse zu absolvieren. Das wurde von den Medien als wenig sinnvoll kritisiert.

Den Bedarf an Integrationsprogrammen gibt es übrigens nicht nur bei den Einreisenden, sondern auch bei länger im Land Lebenden. Das haben einige Städte, etwa Rotterdam, erkannt. Andererseits bedeutet die Politik der Erstintegration ("Inburgering" hat mit dem deutschen Begriff "Einbürgerung", Annahme der Staatsangehörigkeit, wenig gemeinsam), dass sich der Staat aus anderen Bereichen zurückzieht. Die seit den 80er Jahren übliche großzügige Förderung der Minderheiten-Selbstorganisation werde, so Berndt, zurückgefahren. Statt auf den "Minderheiten-Deal" setze man mehr auf die individuelle Anpassung. Insgesamt, urteilt er, werde das niederländische Modell immer französischer.


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

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