Ausländer in Deutschland 4/2003, 19.Jg., 31. Dezember 2003

STADTPORTRAIT

Von Kuzorra bis Ünlü

Gelsenkirchen - ein Stück Migrationsgeschichte

In der Geschichte der Ruhrgebietsstadt drehte sich immer vieles um Fußball, Kohle, Migranten ... das ist bis heute so.

Mit dem "Schalker Kreisel" wurde in den 30er Jahren in Gelsenkirchen Fußballgeschichte geschrieben. Von 1933 bis 1942 konnte die Mannschaft des FC Schalke 04 insgesamt sechs Mal die deutsche Fußballmeisterschaft für sich entscheiden. Fußballidole wie Ernst Kuzorra, der 1985 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt wurde, und Fritz Szepan, aber auch andere wie Herbert Burdenski, Otto Tibulski oder Ernst Kalwitzki prägten damals das Team der "Königsblauen". Die Namen vieler damaliger Mitspieler waren ein Hinweis auf ihre Herkunft - Masuren, Schlesien und Posen. Dies war ein Merkmal, das dem Verein den nicht unbedingt respektzollenden Beinamen "Polackenverein" einbrachte. Die Geschichte des FC Schalke 04 spiegelt aber nicht nur die damaligen Erfolge wieder, sondern ist auch Teil der Migrationsgeschichte in Gelsenkirchen.

Diese ist geprägt von der Entwicklung des heutigen Ruhrgebiets von einem dünn besiedelten, landwirtschaftlich geprägten Landstrich zur dicht besiedelten, hochtechnisierten Industrieregion. Zuwanderung spielte immer eine erhebliche Rolle. Gelsenkirchen war bis zur Mitte des 19. Jahrhundert eine unbedeutende Gemeinde mit wenigen tausend Bewohnern. Doch mit der Entdeckung der Kohlevorkommen sowie der technischen Lösung des Kohleabbaus und der verkehrsmäßigen Erschließung durch die Köln-Mindener Eisenbahn in der Zeit nach 1850 begann die Industrialisierung. Gleichzeitig stieg der Bedarf an Arbeitskräften, der anfänglich noch durch Zuwanderer aus nahegelegenen Regionen wie Westfalen, Rheinland, Siegerland später dann auch aus Holland und Hessen gedeckt werden konnte. Spätestens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts überstieg der Bedarf das Arbeitskräfteangebot und die Zechengesellschaften schickten ihre Werber in die Ostgebiete des damaligen Deutschen Reichs. Der Großteil der angeworbenen zumeist jungen Polen - im übrigen deutsche Staatsbürger - kam aus West- und Ostpreußen, Schlesien sowie Posen und fand Arbeit in den großen Zechen. In Gelsenkirchen siedelten sich viele Masuren an, zu deren Nachfahren auch viele der Schalker Fußballspieler zählten. In den Gemeindeteilen der heutigen Stadt Gelsenkirchen wuchs die Bevölkerung bis 1910 auf fast 170.000 Menschen und im damals noch eigenständigen Buer auf 62.000. Der polnischsprachige Bevölkerungsanteil lag in Gelsenkirchen bei ca. 9 % und in Buer bei fast 12 %.

Die Integration der polnischen Zechenarbeiter verlief alles andere als sanft. Insbesondere ihre Sprache wurde unterdrückt und fand weder bei den bergbaupolizeilichen Vorschriften noch in den Gewerkschaften Berücksichtigung. 1899 kam es aufgrund dieser Verhältnisse zu einer blutigen Auseinandersetzung. Der als Herner Polenrevolte bekannt gewordene Streik weitete sich schnell auf Gelsenkirchen aus und wurde nach zwölf Tagen durch Polizei und Militär niedergeschlagen. In der Konsequenz gründete sich im Ruhrgebiet 1902 die polnische Gewerkschaft Zjednoczenie Zawodowe Polskie (ZZP). Auch ein lebendiges Vereinswesen entwickelte sich mit fast 1.500 Organisationen und weit über 100.000 Mitglieder kurz vor dem ersten Weltkrieg. Doch die Diskriminierung der Ruhrpolen hielt weit bis in die 20er Jahre an. Nach dem Ersten Weltkrieg wanderten viele in den neu gegründeten polnischen Staat ab und zusätzlich in die belgischen und französischen Kohlegebiete. Schließlich wurde das polnische Vereinswesen unter der Nazi-Diktatur zerschlagen.

In der Nachkriegszeit zog die wiederaufgebaute Stahl- und Kohleindustrie abermals Arbeitskräfte in die Stadt. Viele Vertriebene fanden so kurz nach Kriegsende eine neue Heimat in Gelsenkirchen. Doch schon in den 50er Jahren wurde das Arbeitskräfteangebot knapp. Daher wurden seit 1955 ausländische Arbeitnehmer aus Ländern wie Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko oder Jugoslawien angeworben.

Strukturwandel

Mit dem Anwerbestopp 1973 und dem Einsetzen des Strukturwandels entschlossen sich viele "Gastarbeiter" zur Rückkehr in ihr Heimatland. Andere hingegen blieben und holten ihre Familien nach Gelsenkirchen. Dadurch und durch eine höhere Geburtenrate nahm die Zahl der nichtdeutschen Bevölkerung kontinuierlich zu. Von 1975 bis 1994 stieg die Anzahl der nichtdeutschen Personen von 24.372 auf ihren Höchststand von 41.569 an. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich ihr Anteil von 8 % auf 16,4 %. Der Niedergang der Montanindustrie hinterließ nicht nur brachgefallene Industrieflächen und eine hohe Arbeitslosigkeit, sondern führte auch zur Abwanderung vieler Menschen. Seit Mitte der 90er Jahre nahm die Bevölkerungszahl stetig ab.

Im September 2003 lebten knapp 34.900 Personen ohne deutschen Pass in Gelsenkirchen. Dies entspricht 12,7 % der Gesamtbevölkerung.

Die weitaus größte Gruppe stellt mit fast 60 % die türkische Bevölkerung. Das Stadtbild vieler Ortsteile ist geprägt durch türkische Einrichtungen und Läden. 900 Unternehmen türkischstämmiger Eigentümer stellen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Insgesamt elf Vereine widmen sich sozialen Aufgaben und dem interkulturellen Austausch zwischen Deutschen und Türken. Gläubige Türken versammeln sich in vierzehn Moscheevereinen. Ein Symbol türkischer Migration ist die nicht ohne Widerstand erbaute El-Aksah Moschee in Gelsenkirchen-Hassel. Sie gehört zu den prächtigsten islamischen Gotteshäusern in Deutschland.

Integrationsaktivitäten

Das Leben in der Stadt wird durch viele Integrationsaktivitäten geprägt, wie die folgenden Projekte beispielhaft verdeutlichen:

  • Der "Interkulturelle Arbeitskreis Moschee und Kirche in unserer Stadt" sorgt für das gegenseitige Kennenlernen und Verstehen. Auf Grund seiner Bemühungen konnte auf dem Friedhof Gelsenkirchen-Hassel ein muslimisches Gräberfeld errichtet werden.
  • Die Stadt fördert im Modellprojekt "Interkulturelle Erziehung" das Erlernen der deutschen Sprache in Kindertagesstätten.
  • Eine Besonderheit in Deutschland ist die Möglichkeit am Ricarda-Huch-Gymnasium im Ortsteil Bulmke-Hüllen Türkisch als Leistungskurs zu wählen.
  • Der Aufbau eines internationalen Migrantenzentrums soll die sozialen Angebote für Migranten in den besonders benachteiligten Stadtteilen Bismarck/Schalke-Nord verbessern.
  • Die Koordinierungsstelle für deutsche und ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen fördert das Zusammenleben zwischen Ausländern und Deutschen und unterstützt den Ausländerbeirat in seiner Arbeit.

Jedes einzelne Projekt steht für viele weitere Projekte in Gelsenkirchen, das nicht nur die Stadt der "tausend Feuer" ist, sie ist auch die Stadt der hundert Kulturen ... vielfältig, lebendig und weltoffen.

An die erfolgreichen Jahre des "Schalker Kreisels" konnte Schalke 04 bislang nicht mehr anknüpfen. Aber die Geschichte der Migration setzt sich im Verein fort. So spielen die in Gelsenkirchen geborenen Türken Hamit Altintop und Volkan Ünlü heute für die "Königsblauen" auf Schalke.


Autor: Arne Lorz, isoplan

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