Integration in Deutschland 3/2004, 20.Jg., 28. September 2004

SEGREGATION

Die Wechselwirkung von ethnischer Segregation und Integration

 

Der Integrationsgedanke bildet neben der Steuerung von Zuwanderung das Leitmotiv der aktuellen migrationspolitischen Debatte. Verbunden damit ist stets der Blick auf die andere Seite der Integration: die ethnische Segregation. Voraussetzung für das Verständnis dieser, nur zum Teil gegensätzlich wirkenden Phänomene ist eine anschauliche Definition der Begriffe Integration und ethnische Segregation. Erst die Einbeziehung der zugehörigen Wechselwirkungen ermöglicht einen vorurteilsfreien gesellschaftlichen Diskurs und die Vermeidung von Fehlinterpretationen.

Integrations- und Segregationsvorgänge spielen sich fortwährend in allen Gesellschaften und Bevölkerungen ab. Integration ist dabei sowohl als Prozess als auch als Resultat der gesellschaftlichen Annäherung von Zuwanderern und ihren Kindern an die einheimische Bevölkerung zu verstehen. Integration bezieht sich auf die Abnahme von Unterschieden in den Lebenslagen der beiden Gruppen sowie auf die Art und Weise, wie die neuen Bevölkerungsgruppen mit dem bestehenden System sozio-ökonomischer, rechtlicher und kultureller Beziehungen verknüpft werden. Sie kann als erfolgreich betrachtet werden, wenn Zuwanderer und ihre Nachkommen gleichrangig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Integration richtet sich nicht nur an die verschiedenen Zuwanderergruppen, sondern an die Gesamtbevölkerung und hängt wesentlich von der Offenheit der Aufnahmegesellschaft für diese Gruppen ab. Nicht nur die Struktur und die kulturellen Eigenheiten der Zuwanderergruppen allein, sondern auch die der Aufnahmegesellschaft werden durch die Integrationsprozesse beeinflusst.

Nach heutiger Auffassung (z.B. Esser, Heckmann) vollzieht sich die Integration von Migranten auf vier verschiedenen Ebenen:

Strukturelle Integration: Zunächst beinhaltet Integration den Erwerb eines Mitgliedsstatus in den Kerninstitutionen der Aufnahmegesellschaft, wie Wirtschaftsleben und Arbeitsmarkt, Bildungs- und Qualifikationssysteme, Wohnungsmarkt und politische Gemeinschaft. Die Migranten werden damit in die Sozialstruktur der Aufnahmegesellschaft integriert.

Kulturelle Integration: Sie schließt die Verinnerlichung von Werten, Normen und Einstellungen ein. In Bezug auf kulturelle Fähigkeiten im Integrationsprozess kommt dem Spracherwerb eine herausragende Bedeutung zu. Auch die Mediennutzung ist dabei von Belang. Besonders im Rahmen dieses Integrationsprozesses findet auch auf Seiten der Aufnahmegesellschaft eine kulturelle Anpassung und Veränderung statt (z.B. Essgewohnheiten).

Soziale Integration: Der Integrationsprozess bezieht sich hier auf die sozialen Kontakte und Gruppenmitgliedschaften des Individuums (z.B. Freundschaften, Vereinsmitgliedschaften). Die Frage ist, ob diese Kontakte und Gruppenmitgliedschaften primär innerhalb einer ethnischen Gruppe bestehen, oder ob sie interethnischen Charakters sind. Hohe Eheschließungszahlen zwischen Deutschen ohne Migrationshintergrund und Zuwanderern deuten beispielsweise auf ein hohes Maß an sozialer Integration hin.

Identifikatorische Integration: Sie schließt die subjektiven Gefühle der Zugehörigkeit einer Person zu einer ethnischen, nationalen oder auch lokalen Gemeinschaft ein. Diese lassen sich auch in Begriffen wie "Heimat", "Einstellung zum Herkunftsland der Eltern" und "Einstellung zur deutschen Gesellschaft" ausdrücken. Die Identität zeigt sich u.a. in der Haltung zur Einbürgerung.

Konträr zum Begriff der Integration wird unter ethnischer Segregation die - meist auch räumlich zu beobachtende - Abkehr der zugewanderten Bevölkerung von der übrigen, aufnehmenden Gesellschaft verstanden. Sie ist die Antwort auf die Bedürfnisse der Migranten in der Minderheitensituation und ermöglicht die "Verpflanzung" und Fortsetzung sozialer Beziehungen und Strukturen, die bereits in der Herkunftsgesellschaft existierten. Daneben ist die räumliche Segregation teilweise auch Folge des Problems der Migranten, bessere Wohnungen in anderen Wohngegenden zu finden.

Das Phänomen der Segregation sollte jedoch nicht grundsätzlich als ausschließlich negativ angesehen werden. Insbesondere bei der ersten Migrantengeneration kann sie den Beginn des Integrationsprozesses einläuten und sogar fördern, indem sich Formen sozialer, kultureller, religiöser und politischer Selbstorganisation unter den Migranten in gemeinsamen Wohnbezirken herausbilden. Sozialwissenschaftler (u.a. Heckmann) bezeichnen diese Vorgänge als Entstehung einer ethnischen Kolonie und schreiben dieser verschiedene positive Funktionen für die Migrantenpopulation zu:

Neueinwandererhilfe: Durch Existenz einer ethnischen Kolonie werden Neuankommende nicht mit einer völlig unbekannten Umgebung konfrontiert; sie finden - in modifizierter Form - Elemente des Vertrauten aus Ihrem Herkunftskontext wieder. Der "Kulturschock" wird reduziert und den Neuankommenden zugleich Anpassungshilfen gegeben.

Stabilisierung der Persönlichkeit: Migration ist stets mit großen Unsicherheitsmomenten verbunden, mit der Destabilisierung von Verhaltensweisen und Selbstverständnissen. Die Strukturen der ethnischen Kolonie sind ein Angebot an die Migranten, nicht in Isolation zu leben. Die Möglichkeit der Praktizierung der Herkunftskultur und die Zugehörigkeit zu eigenkulturellen Gruppen sind auch in der neuen Heimat wichtige Elemente einer zunächst notwendigen Identitätssicherung.

Selbsthilfe: Sie ermöglicht die kollektive Bewältigung von (materiellen) Notlagen. Zwar entfällt in entwickelten Sozialstaaten die Notwendigkeit der Solidarselbsthilfe in Fällen von Krankheit oder Arbeitslosigkeit; aber als "Lückenschließer" oder Ergänzung zu sozialstaatlichen Organen in Form der Unterstützung durch Familienarbeit oder Kranken- und Kinderbetreuung haben inner-ethnische Sozialbeziehungen auch weiterhin einen hohen Stellenwert.

Soziale Kontrolle: Die Mitgliedschaft in ethnischen Gemeinschaften und Vereinigungen bedeutet schließlich eine Form der sozialen Einbindung, die im positiven Fall dazu beitragen kann, ein sowohl in der Minderheiten- als auch in der Mehrheitsgruppe unerwünschtes Verhalten des Einzelnen zu vermeiden.

Segregation wird allerdings dann zu einem gesellschaftlichen Problem, wenn die Abschottung der Migranten anhand der ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Orientierung und Gruppenzugehörigkeit über Generationen hinweg handlungsleitend und bestimmend für alle Lebensbereiche wird.

Besonders bei einem relativ hohen Grad an institutioneller Vollständigkeit und kultureller Selbstorganisation der ethnischen Kolonien (sog. "Parallelgesellschaften") besteht zum einen die Gefahr einer Selbstgenügsamkeit, die das für die soziale Mobilität notwendige Aufnehmen außerethnischer Kontakte sowie den Eintritt in einen gesamtgesellschaftlichen Wettbewerb behindert. Insbesondere die Kenntnisse der deutschen Sprache leiden darunter. Diese sind wiederum die wichtigste Voraussetzung für die Integration in den grundlegenden Bereichen der Bildung, der Beschäftigung und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben außerhalb der ethnischen Kolonie. Zum anderen resultiert daraus ein sozial fest gefügtes Schichtungsverhältnis: Positions- und Statuszuweisungen erfolgen ausschließlich auf der Basis von ethnischer Zugehörigkeit. Soziale und berufliche Aufstiegsmöglichkeiten sowie Chancengleichheitsvorstellungen, die für moderne, demokratische Gesellschaften konstitutiv sind, werden durch diese sog. ethnische Mobilitätsfalle (ethnic mobility trap) in starkem Maße limitiert. Dies verhindert wirkliche Integration und wirkt sich besonders gravierend für die nachfolgenden Generationen der Migrantengruppen aus. Deren durch die feste Sozialstruktur und die fehlenden Entwicklungschancen hervorgerufene Perspektivlosigkeit kann zu einem von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Verhalten führen. Um Kriminalität, Hinwendung zu Extremismus und ganz allgemein ethnische Konflikte zu vermeiden, müssen speziell dort, wo es über mehrere Migrantengenerationen hinweg zu einer problematischen Verfestigung von (räumlichen) Segregationsprozessen kommt, die zu Grunde liegenden Ursachen abgebaut werden.

Im Vergleich zu vielen anderen Staaten (z.B. Großbritannien, Frankreich, USA) ist eine derartige Verfestigung von ethnischer Segregation in Deutschland verhältnismäßig selten festzustellen. Insgesamt besteht daher Anlass zu berechtigter Hoffnung, dass mit adäquat konzipierten Integrationsmaßnahmen seitens des Staates die fortschreitende Integration in Deutschland gelingt - das Bemühen und Zutun sowohl der Migranten als auch der inländischen Bevölkerung vorausgesetzt.


Autor: Hans-Jürgen Schmidt, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)

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