Integration in Deutschland 4/2004, 20.Jg., 30. November 2004

STADTPORTRAIT

*) Dieser Beitrag wurde im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Pendeln zwischen "rauxa" und "seny"

Ein Besuch in Barcelona

Kaum eine andere Stadt verbindet südliches Savoir-vivre so gut mit nördlicher Effizienz. Das liegt auch daran, dass die quirlig-bunte und zugleich geschäftig-betriebsame katalanische Metropole zunehmend von Migranten geprägt wird. Anders als in Madrid, der eher spröden spanischen Hauptstadt, bereichern hier Lateinamerikaner und EU-Bürger stark das wirtschaftliche und kulturelle Leben.

 


Erfunden in Barcelona: Graffiti-Aufkleber

"Barcelona war immer ein Ort des Durchzugs und der Ablagerung", sagt der Musikjournalist Abili Roma. Schon immer waren es Migranten, die gerade in kulturellem Sinne die Stadt beeinflußt haben. Neben alteinsässigen Arbeitsmigranten aus ärmeren Regionen Spaniens und Nordafrikas sollen heute schätzungsweise 120.000 Dominikaner und noch mehr Kolumbianer hier leben. 2003 stellten Lateinamerikaner 44 % der ausländischen Bevölkerung der Stadt. 1999 waren es erst 26 %. Der Anteil der Unionsbürger sank in diesem Zeitraum von 24 auf 13 %, der der Afrikaner von 13 auf 9 %.

Die wichtigsten Migrantenviertel finden sich rund um die Altstadt am Meer, während die Wohlhabenden in den Hügeln am Stadtrand leben. Das reiche Bürgertum hat schon immer in ungewöhnliche Architektur und Institutionen der "Hochkultur" investiert. Die Migranten beleben dagegen die traditionelle und alternative Kulturszene. So bilden die Bewohner und Bauwerke der Stadt eine vielfältige und sehr lebendige Collage. Daher war es nur konsequent, "Kulturelle Vielfalt" als ein Hauptthema des Mammutfestivals "Forum der Kulturen" zu benennen, das hier vom 9. Mai bis 26. September 2004 stattfand (www.barcelona2004.org). Verabschiedet wurde eine "Cultural Agenda21", bei der die besondere Rolle von Städten für die kulturelle Entwicklung betont wurde. Kultur verstand sich in Barcelona freilich schon immer gerade in der Verbindung mit Bauwerken. Die Hafenstadt hat sich städtebauerisch mit spektakulären Neubauten zu dieser "Expo der Werte" wie schon 1888 und 1929 mit Weltausstellungen und 1992 mit der Olympiade erneuert. Letztere führte mit Investitionen in Höhe von rund 8 Mrd. Euro zum Verschwinden hässlicher Industriebrachen, öffnete die Stadt zum Meer hin und begründete deren aktuelles Image als mediterrane Trendmetropole. Die Stadt braucht offenbar immer wieder den Schub solcher Events, um ganze Stadtteile baulich aufzufrischen. 1888, 1929, 1992 und 2004 erlag sie rauschhaften Fieberanfällen, in denen mit exzentrischen Bauten Konventionen gesprengt, Tabus gebrochen und der Fantasie freien Lauf gelassen wurde. Diesmal wurde aus den schmutzigen Industriebrachen des Viertels Poble Nou unter anderem eines der größten europäischen Kongresszentren gezaubert.

Barcelona ist eine Stadt zwischen rauxa und seny - Rausch und Vernunft. Bis nachts um halb Drei sitzt mancher noch mit Freunden in Cafés und um 9 Uhr früh wieder am Schreibtisch. Längst ist die Stadt als solche eine Reise wert - nicht nur für einen Stopp auf dem Weg zu Spaniens Stränden. Die neben Moskau, Istanbul und Berlin zur Zeit wohl pulsierendste europäische Metropole hat nicht nur für jährlich 7,5 Millionen Touristen, sondern auch für Studenten eine große Anziehungskraft. Gerade jetzt im "Dali-Jahr". Auf den Spuren des Surrealisten, aber auch von Picasso, Miro und Tapies gibt es in 40 Museen viel Kunst zu entdecken.

"Clandestino-Pension" im Raval

Im Raval, der einstigen Vorstadt jenseits der Flaniermeile der Ramblas, begeben wir uns bei unserem Barcelona-Trip mit Ryan-Air auf Zimmersuche. An der Rezeption einer ausgebuchten Pension treffen wir auf Juan-Manuel. Bevor wir Extranjeros zu Clandestinos werden, sollten wir bei ihm im bleiben, schlägt der Argentinier vor. Im April 2003 hat er hier eine Wohnung angemietet, phantastisch im Gaudi-Stil umgestaltet und dekoriert, um tage- und wochenweise Zimmer zu vermieten - ohne Genehmigung freilich. Abends essen alle gemeinsam: Da ist Silja aus Norwegen, die nach Abschluss eines Projektes noch so lange bleiben will, wie das Geld reicht. Roham flirtet mit ihr. Der US-Amerikaner macht eine Europareise, danach will er den Iran, die Heimat seiner Eltern, besuchen. Gekocht hat heute Bruno aus Lyon. Es gibt Rotkohl, wir steuern Wein bei. Kim, ein Literaturlehrer, übernimmt das Spülen. Der Däne kam 2003 für einen Kurzurlaub, ein halbes Jahr später noch einmal - und blieb. Das Kinoplakat der "Auberge Espagnole" hängt über dem Tisch, tatsächlich ist die Atmosphäre wie im Film. Es begegnen sich Gleichgesinnte einer Generation, die offen für Kontakte sind und sich die Stadt über die Menschen aneignen wollen. Kim erzählt, dass der Musiker Manu Chao um die Ecke wohnen soll. Wir legen seine CD mit witzig-globalisierungskritischer Musik auf, danach Fado und haben gar keinen Bedarf, noch heute die Stadt zu erobern.

Salsa und Merengue

Dabei beginnt für viele der Abend jetzt erst richtig. Man könnte mit Touristen im "Marsella" um die Ecke einen Absinth trinken. "Scotty", ein Amerikaner, hat die uralte Bar übernommen, hinter der Theke steht eine Deutsche. Oder den Latinos in eine Disko folgen. Aber im "Sabor Cubano", dem "Bambaleo", dem "Antilla" und anderen Bars, in denen zur Zeit begeistert Salsa getanzt wird, ist vor 23 Uhr nichts los. Barcelona liebt Latino-Rhythmen. Einer ersten stürmischen Affäre mit Kubas Musik entsprang 1950 die Rumba Catalana. Jetzt bringen Salsa und Merengue die Stadt zum schwingen. In vielen "Salsotheken" spielen kubanische und dominikanische Musiker auf. Die Latinos tanzen samstags. Die Woche über waren sie Haushaltshilfen, Putzfrauen oder Altenpfleger. Jetzt wollen sie sich amüsieren.

Multikulturell war es schon immer in der Hafenstadt mit griechischen und römischen Wurzeln. In der Neuzeit wuchs Barcelona durch die Textilindustrie und den Amerikahandel. Aus dem Umland strömten Arbeiter in die schon damals größte Industriestadt Spaniens. Innerhalb von 200 Jahren verfünffachte sich die Einwohnerzahl. Um sich ausdehnen zu können wurde im Westen der Altstadt der Raval erschlossen, ein bis dato von Landwirtschaft, Klöstern, Hospizen und Schlachthöfen geprägter Vorort. Im Osten entstand das Poble Nou, das wegen der Textilindustrie bald das "katalanische Manchester" genannt wurde. Bis heute wandern Andalusier, Murcianos, Galizier und Aragonesen zu. Die Landflüchtigen leben hier schon in der 2. oder 3. Generation in den früheren Wohnungen des Bürgertums. Die Reichen sind schon vor 100 Jahren in die nördlich der Altstadt entstandene Neustadt Eixample umgezogen. Jenseits, in den Vororten der Peripherie, sind seit den 1960er-Jahren Schlafstädte mit preiswerteren Wohnungen entstanden. Sie ersetzten die illegalen Barackensiedlungen der Zuwanderer.

In der zu einem Großraum von drei Millionen Einwohnern gewachsenen Stadt ist der Kern noch immer extrem dicht bewohnt. Die meisten Häuser sind in schlechtem Zustand. Besonders im Raval. Das frühere Viertel der Arbeiter, Bohemiens, Mönche, Huren und Diebe wurde vor einem halben Jahrhundert auch zum Migrantenviertel. Sie kamen zunächst aus dem Süden Spaniens, dann aus den einstigen Kolonien, arabischen Ländern und Südostasien. Ihre Wohnprobleme führten dazu, dass sich die Stadtplaner mit den ungesunden Wohnverhältnissen beschäftigten. Seit 20 Jahren entstehen mit Abrissbaggern und Baukränen helle neue Plätze und moderne Museen. Ein Viertel der Kunst soll entstehen und die Sozialstruktur verändern. Kunstvolle Graffiti an leerstehenden Häusern zeugen von schwierigen Verdrängungsprozessen. Alles ist in Bewegung in diesem großen Laboratorium sozialer und kultureller Veränderungen. Das 1995 eröffnete Museum der Gegenwartskunst (MACBA) soll nun eine Vermittlerrolle zwischen dem geschichtsträchtigen Umfeld, der zeitgenössischen Kunst und der Alternativszene übernehmen. Im 1980 noch heruntergekommenen Quartier der kleinen Leute, Illegalen und Prostituierten drängeln sich nun Yuppies in Galerien und Szene-Bars. Der Ausländeranteil liegt gleichwohl noch immer bei 47 %.

Trotz dieses großen Angebots gibt es auch Leute, die ausgerechnet hier Ruhe suchen. Kim, der dänische Lehrer in unserer Clandestino-Pension, hat sich beurlauben lassen, schreibt seit Monaten an einem Buch und verweigert sich konsequent dem Trubel. Während spät abends aus der Gasse laute Wortfetzen von Wein und Bier betüddelter Touristen aufsteigen, klappert die Reiseschreibmaschine unverdrossen im Stakkato seiner Ideen, während in der Küche die dritte Kanne Tee dampft. Rauxy und seny im gesunden Gleichgewicht.


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

Literaturtipps:

  • Baumgartner, Barbara: Der karibische Dreh. In: Merian, 53. Jg, Nr.3: Barcelona, S. 82-85, Hamburg, März 2000
  • Dietrich, Angelika: Utopia in engen Gassen. In: Merian, 53. Jg, Nr.3: Barcelona, S. 48-60, Hamburg, März 2000
  • Montaner, Josep Maria: Barcelona. Dstadt und Architektur, Benedikt Taschen Verlag, Köln 1997
  • Pamies, Sergi: Der große Roman Barcelonas, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1999
  • Ramos Rioja, Isabel: Y tu, de donde vienes? La Vanguardia, 13.06.2003
  • Schwarzwälder, Barbara: Barcelona. Spaziergänge mit Dichtern, Rotbuch Verlag, Hamburg 2000
  • Zimmermann, Clemens: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung. Darin: Barcelona - Weltausstellung und "Modernismo", S. 141-170, Frankfurt/Main 1996

Zu empfehlen sind auch die Krimis von Manuel Vazques Montalban. Sein Detektiv Pepe Carvalho, eine schillernden Person - Ex-Kommunist und CIA-Agent - knackte bis heute über 20 Fälle.

[ Seitenanfang ]


Einwanderer besetzen Kathedrale

 

Barcelona. Fast 2.000 Einwanderer ohne gültige Aufenthaltspapiere ("sin papeles") haben Anfang Juni 2004 für etwa 12 Stunden die Kathedrale von Barcelona besetzt. Sie verlangten die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen. Bei der Räumung der Kirche kam es zu kleinen Rangeleien, jedoch nicht zu größeren Zwischenfällen. Die Mehrheit der Besetzer hatte die Kathedrale freiwillig vor dem eingreifen der Polizei verlassen. Eine Gruppe von 200 Migranten, die eine andere Kirche im Zentrum von Barcelona besetzt hatte, gab ebenfalls auf, berichtete die Deutsche Presseagentur (dpa vom 06.06.04). Die Besetzer stammten unter anderem aus Marokko, Indien, Bangladesh, Pakistan, Ecuador und Kolumbien. Sie hatten gefordert, dass alle illegal in Spanien lebenden Ausländer Aufenthaltsgenehmigungen erhalten. Vor drei Jahren hatten in einer ähnlichen Aktion in Barcelona Migranten mehrere Kirchen besetzt. Die Regierung leitete später ein Sonderverfahren zur "Regularisierung" illegaler Zuwanderer ein. Die meisten Antragsteller erhielten jedoch keine Aufenthaltsgenehmigungen, weil sie die Bedingungen nicht erfüllten. (esf)

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.