Integration in Deutschland 1/2005, 21.Jg., 31. März 2005

BESCHÄFTIGUNG


Vom Konjunkturpuffer zur Problemgruppe

 

Es gibt viele Beispiele beruflich gut integrierter türkischstämmiger Beschäftigter (vgl. Porträts S. 4-5). Die fehlende qualifikatorische Anpassung an den Strukturwandel hat aber auch große Problemgruppen entstehen lassen.

Die in den 1960er- und 1970er-Jahren gekommenen "Gastarbeiter" waren meist unqualifizierte oder wenig spezialisierte Facharbeiter. Diese erste Generation war kurzfristig orientiert: Meist direkt per Firmenanforderung vermittelt, rechneten sie mit einer Rückkehr nach ein bis drei Jahren. Doch es kam anders. Gegenläufig zu der stark absinkenden Kurve der Belegschaft insgesamt, stieg die Zahl der türkischen Beschäftigten vor allem im Bergbau deutlich an. 1974 waren 85 % der Ausländer bei der Ruhrkohle AG Türken (1990: 95 %). Sie stellten 16 % (1990: 19 %) aller Beschäftigten. Anteile von über 50 % der ausländischen Beschäftigten erreichten sie auch in den Branchen Schiffbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Gießerei, Textilverarbeitung sowie Reinigung und Körperpflege.

Bis in die 1980er-Jahre halfen sie, die hohe Nachfrage der Industrie nach Arbeitskräften zu befriedigen. In Wirtschaftskrisen waren sie jedoch als "Konjunkturpuffer" auch die ersten und am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffenen. Viele kehrten auch zurück. Insgesamt stieg ihre Zahl jedoch stetig von 15.000 Beschäftigten (1962) auf eine halbe Million (1972). Seit Mitte der 1970er-Jahre sind sie die mit Abstand größte ausländische Erwerbspersonengruppe in Deutschland geblieben. Ihre Zahl wuchs kontinuierlich auf 931.000 im Jahr 2003. In den 1990er-Jahren wurden jedoch insbesondere die Älteren zur Problemgruppe. Sie waren ihres Arbeitsplatzes nicht mehr sicher und hatten es bei Arbeitslosigkeit schwer, eine neue Anstellung zu finden. Heute sind sie im Ruhestand.

Ihre Kinder und Enkel haben ähnliche Schwierigkeiten. Deren schulische und berufliche Qualifikation ist im Durchschnitt niedriger als bei anderen Ausländern. Ohne Ausbildung und mit Sprachdefiziten haben sie bei zunehmender Konkurrenz heute kaum noch Chancen. Hinzu kommt, dass sie "traditionell" stärker in Branchen vertreten sind, die vom Strukturwandel und Stellenabbau betroffen sind. So sind heute nur noch 500.000 Türkinnen und Türken sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Gut 200.000 sind in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nur geringfügig und etwa 60.000 selbstständig oder als mithelfende Familienangehörige beschäftigt. Arbeitslos sind 168.000 - jeder vierte. Viele sind zudem auch rat- und hilflos.


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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Hoher Beratungsbedarf bei türkischen Erwerbspersonen

Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage

Im Rahmen flankierender Maßnahmen zur Mobilitätsberatung der Bundesagentur für Arbeit hat das isoplan-Institut eine Untersuchung des Beratungsbedarfs türkischer Erwerbspersonen in Deutschland durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie wurden jetzt vorgelegt.

In der ersten Stufe der Erhebung wurden 666 repräsentativ ausgewählte Personen türkischer Nationalität bzw. türkischstämmiger Herkunft über ihre familiäre und berufliche Situation, über ihre Zukunftsperspektive, ihr Informationsverhalten und ihren Beratungsbedarf befragt. In einer zweiten Stufe folgten 100 Vertiefungsinterviews innerhalb derselben Gruppe; dabei standen die individuellen Erfahrungen und Orientierungen im Vordergrund, unter anderem auch die Frage eine möglichen Rückkehroption in Richtung Türkei.

Die soziale Struktur der potenziell Ratsuchenden ist ausgesprochen heterogen. Sie umfasst alle Altersklassen (mehrheitlich die jungen und mittleren Stufen zwischen 20 und 40 Jahren), sowohl Personen mit sehr langer Aufenthaltsdauer in Deutschland als auch solche, die erst wenige Jahre in Deutschland leben. Was die berufliche Situation angeht, so haben die Arbeitslosen - darunter mehr als die Hälfte Langzeitarbeitslose (59 %) - naturgemäß höheren Beratungsbedarf als die abhängig Beschäftigten. Aber auch diese zeigen in hohem Maß Interesse an bestimmten sozialen und arbeitsmarktbezogenen Themen, ebenso ein Teil der meist kleinen Selbständigen, die zum Teil mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben.

Die Zufriedenheit mit der derzeitigen beruflichen Situation ist ein Schlüsselfaktor, der sich wesentlich auf die Zukunftserwartungen und das Empfinden sozialer Sicherheit auswirkt. Die Zufriedenheitsgrade sind bei den Befragten breit gestreut: Immerhin die Hälfte ist mit der beruflichen Situation mehr oder weniger zufrieden; die Gründe für Unzufriedenheit liegen darin, dass man nicht im erlernten Beruf arbeitet, in zu niedriger Bezahlung und - wer davon betroffen ist - natürlich in der Arbeitslosigkeit. Die Erwartungen an die berufliche Zukunft sind ähnlich verteilt: Während jeder dritte eher zur optimistischen Seite hin tendiert, sehen über 40 % ihrer beruflichen Zukunft eher negativ entgegen. Ein Viertel ist geteilter Meinung oder unentschieden.

Von zentraler Bedeutung für die inhaltliche Beratung von Ratsuchenden ist die Frage, ob sie in ihrer Zukunftsplanung eindeutig auf ein dauerhaftes Verbleiben in Deutschland orientiert sind oder ob sie sich eine mehr oder weniger klare Option für eine Rückkehr in die Türkei offen halten. Die isoplan-Untersuchung zeigt, dass immerhin jede fünfte türkische Erwerbsperson bereits ernsthaft daran gedacht hat, in die Türkei zurückzugehen, um dort beruflich tätig zu werden. Hinzu kommen 6%, die möglicherweise in der Türkei ihren Lebensabend verbringen wollen. Somit geben 26 % der Befragten an, dass die Rückkehroption in ihren Überlegungen eine gewisse Rolle spielt. Dabei sind es vor allem die jüngeren Altersklassen (unter 30 Jahre) und die Auszubildenden, die eine deutlich stärkere Rückkehrabsicht äußern. Aber auch nicht wenige Arbeitslose sehen in der Rückkehr eine mögliche Alternative, um ihre berufliche Situation zu verbessern.

Wer sich ernsthaft mit dem Gedanken an eine Rückkehr trägt, muss sich umfassend informieren, um seine beruflichen Chancen abschätzen zu können und um den entscheidenden Schritt für sich und zum Teil auch für Familienangehörige vorzubereiten. Hierbei stellt sich heraus, dass die meisten - soweit sie sich überhaupt schon um Informationen bemühen - Gespräche mit Freunden, Kollegen und Verwandten bevorzugen (22 %) und dass nur wenige (nämlich 1,5 %) sich professionell beraten lassen. Die Beratung durch die Arbeitsagenturen spielt in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle: Sie ist zu wenig unter den Ausländern bekannt, wie die Vertiefungsbefragung gezeigt hat.

Als wichtigste Themenbereiche einer potenziellen Beratung stellen sich für die auf Deutschland orientierten Personen folgende Schwerpunkte heraus:

  • soziale Sicherung und rechtliche Fragen (Arbeitsrecht, Sozialrecht, Hartz VI etc.),

  • Arbeitsplatzfindung (im eigenen Beruf) und Einkommen,

  • Weiterbildung und finanzielle Förderung.

Die an einer Rückkehroption Interessierten geben am häufigsten folgende Themenkomplexe an:

  • Existenzgründung und Investitionsmöglichkeiten,

  • Arbeitsplatzfindung (im eigenen Beruf) und Einkommen,

  • soziale Sicherung (vor allem Rentenfragen) und rechtliche Fragen.

Auch die weniger oft genannten Themen wie Weiterbildung und beruflicher Aufstieg, Schule und Studium sowie Berufsausbildung erreichen noch so viele Nennungen, dass sie durchaus als relevante Beratungsinhalte angesehen werden müssen.

Die Vertiefungsbefragung von 100 Personen, die sich zu einer genaueren Schilderung ihrer beruflichen Situation bereit erklärt hatten, ergab eine Vielzahl individueller Fallbeispiele, in denen zum Teil ein sehr differenzierter Informationsbedarf erkennbar wird. Die Interessenschwerpunkte liegen auch hier bei den Themen soziale Sicherung, Arbeitsplatzfindung und Einkommenssicherung (Verdienstmöglichkeiten); bei vielen "Rückkehr-Orientierten" spielten darüber hinaus die Option Existenzgründung eine wichtige Rolle. Eine wesentliche Erkenntnis aus dieser Befragungsaktion ist, dass am Thema Rückkehr keineswegs nur ein bestimmter Typus von Erwerbspersonen interessiert ist, sondern dass hier ganz unterschiedliche Personengruppen erscheinen: Frauen und Männer, Beschäftigte, Selbständige und Arbeitslose, Jüngere und Ältere, gewerbliche Berufe und vor allem auch Dienstleistungsberufe. Als Rückkehrmotiv erscheint relativ häufig das (gegenüber früheren Jahrzehnten) umgekehrte Push-&-Pull-Syndrom, das vereinfacht lautet: In Deutschland ist der Arbeitsmarkt schlecht, hier habe ich keine Chance - in der Türkei geht es wirtschaftlich aufwärts: dort ergeben sich für mich bessere Chancen. Einschränkend werden allerdings von vielen auch die noch vorhandenen Defizite in der Türkei gesehen: zum Beispiel im Lebensstandard, im Gesundheitswesen und in den sozialen Sicherungssystemen.

Im Ergebnis zeigt die Untersuchung, dass viele türkische Erwerbspersonen den Fragen zu Beschäftigung und beruflicher Zukunft, zu den Arbeitsmarktreformen und zur sozialen Sicherung mit großer Unsicherheit gegenüber stehen und dass sich von daher ein erheblicher Beratungsbedarf ergibt, dem die Mobilitätsberatung der Arbeitsagenturen gerecht werden muss.


Autor: Martin Zwick, isoplan

Download:
Die vollständige Studie ist hier als PDF-Dokument (497 KB) einsehbar.

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Guter Rat - nicht teuer, aber selten genutzt

Der Kölner würde sagen "Jeder Jeck is anders". In einem Punkt aber waren sich die türkischstämmigen Migranten in Köln einig: Arbeit bekomme man beim "Arbeitsamt" nicht vermittelt. So jedenfalls das nüchterne Fazit vieler Gesprächspartner, die Ende 2004 von isoplan im Auftrag der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung zu ihrer beruflichen Situation befragt wurden.


Beratung im SO 36 in Berlin-Kreuzberg

Umso erstaunlicher fanden es die türkischstämmigen Erwerbspersonen und Arbeitslosen, dass sich gerade die Arbeitsagentur für sie interessiert. Schließlich bieten sie - so ihre Erfahrung - auch selbst gefundene Stellen zuerst den Deutschen, dann den Unionsbürgern und dann erst ihnen an. Ängstlich oder auch misstrauisch fragten sich manche auch, ob die Befragung mit einer neuen Rückkehrpolitik zu tun hat. Denn es wurde auch gefragt, ob man die berufliche Zukunft in Deutschland oder in der Türkei sehe.

Bei Vertiefungsinterviews im Rahmen von persönlichen Besuchen waren viele Gesprächspartner auch deshalb verunsichert, weil sie dachten, das "Arbeitsamt" wolle sie im Zuge von Hartz IV und Arbeitslosengeld II "kontrollieren". Oft wurde die Frage gestellt, ob die Arbeitgeberanteile bei der Rente einbehalten werden, wenn man sich für eine definitive Rückkehr entscheide. Erstens kenne man solche Fälle und zweitens seien früher alle Ansprüche einfach entfallen, wenn man länger als sechs Monate im Ausland war.

Als Interviewerin wurde man in nicht selten zum Prügelknaben für die Arbeitsagentur: "Ich bin mit meinen 48 Jahren nur arbeitslos geworden, weil das Arbeitsamt meiner Weiterbeschäftigung nicht zugestimmt hat, obwohl mich mein Chef behalten wollte," sagte einer. Viele Ältere sind ratlos und auf sich selbst gestellt, wenn es um Probleme geht. Der Beratungsbedarf ist sehr groß. Nur wissen sie oft nicht, an wen sie sich wenden können. So kannten einige, obwohl schwer krank, die Möglichkeit der Frührente nicht. Andere versuchen bei solchen Fragen, über die Gewerkschaft oder den Betriebsrat Informationen einzuholen. Da ihre Sprachkenntnisse nicht ausreichen, sind viele auf Informationen von Kollegen oder Freunden angewiesen, die jedoch auch nur vom Hörensagen etwas erzählen.

Viele waren somit froh, im Rahmen des Interviews mit einer türkischsprachigen sachkundigen Person zu sprechen, von der sie sich eine Klärung schwieriger Lebensfragen erhofften. Die eigentlich dafür zuständigen Anlaufstellen der Wohlfahrtsverbände oder Institutionen wie die Ausländerbeiräte sind entweder nicht bekannt oder haben keinen guten Ruf. Viele wissen auch nicht, dass sie als Bürger ein Anrecht auf Beratung haben und diese kostenlos ist. Institutionen wie Verbraucherzentralen, Gesundheitszentren oder Einrichtungen der politischen Bildung kennen sie nicht. Wenn es um Beratung oder Hilfe geht, kennen die meisten türkischstämmigen Haushalte nur einen: den Anwalt. Eine Hilfe untereinander, sprich Weitergabe von Informationen, findet unter Türken nicht statt. Am nötigsten aber wäre für diese Gruppe ein türkischsprachiger Ansprechpartner vor Ort.

Andere Arbeitnehmer wenden sich weder an die Landesversicherungsanstalten, noch an die Arbeitsagenturen oder den Betriebsrat, weil sie fürchten, dass sie durch das soziale Netz fallen und ihren Arbeitsplatz verlieren könnten. Ein anderes Problem, das sowohl bei Beschäftigten als auch bei Erwerbslosen eine große Rolle spielt, ist das türkische Fernsehen. Bei sehr vielen Haushalten lief während des Gesprächs im Hintergrund der Fernseher: Ein Medium, über das sich viele informieren, wenn es um Deutschland und die neuen Gesetze oder Änderungen geht. Dass sie in dieser Form nicht wirklich aufgeklärt werden können, ist den Wenigsten bewusst. Hier zeigt sich auch ein Mangel an Differenzierungsvermögen und -willen, der oft mit einem niedrigen Bildungsniveau einhergeht.

Eine ernsthafte Alternative könnte die Türkei tatsächlich für die dritte Generation darstellen. Bevor sie hier wegen Sprachschwierigkeiten und fehlender Qualifikation keine Arbeit finden oder womöglich einen Ein-Euro-Job annehmen müssten, böte die Heimat der Eltern vielleicht bessere Perspektiven. Dort hätten sie nicht nur mehr Verdienstmöglichkeiten, sondern auch gesellschaftlichen Anschluss. Viele wünschen sich nicht nur in diesen Fragen seitens der Arbeitsagentur ein auf sie zugeschnittenes Informationsangebot. Dieses müßte allerdings kunden- und serviceorientiert sein. Insofern erhoffen sie sich einiges von der Ende 2004 unternommenen Etablierung lokaler Europa-Service-Einrichtungen der Bundesagentur für Arbeit (ES-BA).


Autorin: Semiran Kaya

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