Integration in Deutschland 1/2005, 21.Jg., 31. März 2005

INTERVIEW

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Unsichtbare Opfer

Necla Kelek zum Leben türkischer "Importbräute"

 

Zwangsheiraten - eine Systemkritik

Fatma B. mit ihrem 1999 erschienenen Buch "Hennamond", Serap Cileli mit dem im gleichen Jahr erschienenen Buch "Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre" und Anfang 2005 auch Necla Kelek mit "Die fremde Braut" haben in eindringlichen Schilderungen auf die Problematik von Eheschliessungen aufmerksam gemacht, die mehr oder weniger unter Zwang oder zumindest kulturell bedingter fehlender Mitentscheidungsmöglichkeit beider Ehepartner geschlossen wurden. Aber erst der Fall der am 7. Februar 2005 im Namen der "Familienehre" ermordeten 23-jährigen Berliner Türkin Hatun Sürücü ließ das Thema - als Spitze des dahinter verborgenen Eisberges - für die breite Öffentlichkeit interessant werden. Es war der sechste Ehrenmord in Berlin in fünf Monaten. Betroffen waren türkische und albanische Frauen.

Keleks Buch, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, ist zunächst ein sehr persönlicher Bericht über Tscherkessen im osmanischen Reich und der Türkei, über den Wandel der türkischen Gesellschaft in den letzten 765 Jahren und die Migrationsgeschichte aus weiblicher Sicht. Exemplarische Erfahrungsberichte von zwangsverheirateten Migrantinnen zeigen dann im zweiten Teil, dass es sich um ein seit Jahrhunderten tradiertes, die Selbstbestimmung von Frauen und Männern mißachtendes System handelt, das besonders in der türkischen Einwanderercommunity zu neuer Blüte kommt (vgl. nebenstehendes Interview). Kelek beschreibt dieses System als Kronzeugin, ist dabei manchmal pauschal und zuweilen auch undifferenziert, was aber angesichts der nötigen Klarheit und des dadurch erfolgten Tabubruchs legitim erscheint. Eine Übersetzung ins Türkische wäre für die Diskussion innerhalb der türkischen Community wünschenswert. (esf)

In ihrem Buch "Die fremde Braut" beschreibt Necla Kelek einen wenig bekannten Ausschnitt des Lebens türkischer Frauen in Deutschland: zum Teil unter Zwang arrangierte Ehen über die Landesgrenzen hinweg. AiD sprach mit der Autorin.

AiD: Seit 2001 wurden die Themen Dschihad, Sicherheit, Kopftuch und Segregation diskutiert. Nun, mit der Frage des EU-Beitritts der Türkei, geht es vor allem um Themen wie den Genozid an den Armeniern, "Importbräute" und Ehrenmorde. Bricht jetzt alles raus, was an Tabuthemen existiert?

Kelek: Das klingt wie ein Vorwurf an die, die darüber berichtet haben. Möchten Sie lieber positive Nachrichten aus den muslimischen Ländern hören? Die gibt es auch, aber ich habe mich mit einem für Sie unangenehmen Thema wie "arrangierte Ehen" und "Importbräute" beschäftigt. Übrigens seit 1995. Es gibt innerhalb der türkisch-muslimischen Migrantengesellschaft viele Probleme. Darüber muss endlich offen und ehrlich diskutiert werden, wenn diese Gesellschaft die Migranten ernst nimmt und sie als Bürger dieser Gesellschaft sieht.

Wie reagiert die türkische Community?

Ich erlebe fast nur positive Reaktionen. Die Probleme, die dort besprochen werden, sind vielen bekannt. Nur die AmtsträgerInnen haben Probleme, ihre bisherige Integrationspolitk zu verteidigen. Ich behaupte ja, dass die Integration - wenn sie überhaupt gewollt war - gescheitert ist. Es ist ein Nebeneinander und kein Miteinander.

Sie schätzen, dass die Hälfte aller Heiraten in türkischstämmigen Migrantenfamilien arrangiert werden. Werden hier traditionelle Rollen betoniert, statt aufgelöst zu werden?

Die meisten Familien, die sich in die Parallelgesellschaft zurückgezogen haben, verheiraten ihre Kinder mit Kindern, die aus ihrer Region in der Heimat stammen. Damit wird gewährleistet, dass die Tradition, die Normen und Werte des Herkunftslandes erhalten bleiben. Das heißt: Wenn ein Junge hier geboren ist, auch in der deutschen Schule sozialisiert wurde, heiratet er ein Mädchen, das im tiefsten Anatolien gelernt hat zu gehorchen und zu heiraten. Die Familie erwartet von diesem Mädchen, dass sie ihren Sohn an das Haus der Eltern bindet, sie bedient und ihnen gehorcht. Sie gehört der Familie. Das verheiratete Paar trägt keine Verantwortung für sich selbst. Die geborenen Kinder werden zu Hause anatolisch erzogen und die deutsche Gesellschaft muss das Kind in der Schule auf den Weg in die deutsche Gesellschaft begleiten. Wie soll das gehen?

Wie sieht ein typisches Schicksal aus?

Die typische Importbraut ist 18 Jahre alt, stammt aus einem Dorf und hat in vier oder sechs Jahren notdürftig lesen und schreiben gelernt. Sie wird von ihren Eltern mit einem ihr unbekannten, vielleicht verwandten Mann türkischer Herkunft aus Deutschland verheiratet. Sie kommt nach der Hochzeit in eine deutsche Stadt, in eine türkische Familie. Sie lebt ausschließlich in der Familie, hat keinen Kontakt zu Menschen außerhalb der türkischen Gemeinde. Sie kennt weder die Stadt, noch das Land, in dem sie lebt. Sie spricht kein Deutsch, kennt ihre Rechte nicht, noch weiß sie, an wen sie sich in ihrer Bedrängnis wenden könnte. In den ersten Monaten ist sie total abhängig von der Familie, denn sie hat keine eigenen Aufenthaltsrechte. Sie wird tun müssen, was ihr Mann und ihre Schwiegermutter verlangen. Wenn sie das nicht macht, kann sie von ihrem Ehemann in die Türkei zurückgeschickt werden - das würde ihren sozialen oder realen Tod bedeuten. Sie wird bald ein, zwei, drei Kinder bekommen. Ohne das gilt sie nichts und könnte verstoßen werden. Damit ist sie auf Jahre an das Haus gebunden. Sie wird hier leben, aber nie angekommen sein.

Wie erzieht sie ihre Kinder?

Da sie nichts von der deutschen Gesellschaft weiß und auch keine Gelegenheit hat, etwas zu erfahren, wenn es ihr niemand aus ihrer Familie gestattet, wird sie ihre Kinder so erziehen, wie sie es in der Türkei gesehen hat: sehr traditionell. Die meisten gehen in die Koranschule in der nächsten Moschee. Denn dahin kann sie das Kind begleiten, aber nicht in der Schule, denn sie hat meistens keine Schulausbildung und spricht kein Deutsch. Wenn das Kind in die Pubertät kommt, sorgt sie wieder dafür, dass eine neue Braut oder ein Bräutigam aus der Türkei kommt, damit sie als Schwiegermutter endlich Ansehen innerhalb der Großfamilie bekommt.

Haben sie Kontakte zur Welt außerhalb?

Kaum jemand spricht mit diesen Frauen, weil diese in der Öffentlichkeit meist gar nicht auftauchen. Sie sind in den Familien, in den Häusern versteckt, sie haben keinen Kontakt zu Menschen, die ihnen helfen könnten. Sie sind in unserer Gesellschaft unsichtbar. Die Umma, die muslimische Gemeinschaft, wird über die Rechte des Einzelnen gestellt.

Welche Bedeutung hat die Religion?

Ich spreche regelmäßig in der Moschee mit den Frauen und versuche, ihnen bei ihren Problemen zu helfen. Mit den Deutschen wollen sie in der Regel gar nichts zu tun haben. Sie sprechen deren Sprache nicht, sie verstehen deren Kultur nicht. Und die Lebensweise der Deutschen wird gerade von den überzeugt religiösen Musliminnen verachtet. Die offene Gesellschaft scheint für sie keine Alternative zu sein, sie wenden sich ab und den Traditionen zu. Der Islam ist und bleibt ihre Heimat, zuweilen wird er das hier, in der Fremde, eher noch mehr, als es für sie in der Türkei der Fall gewesen ist.

Wie kann ein Kontakt mit Deutschen zustande kommen?

Deutsche haben die Möglichkeit, in die Moschee zu gehen, die meisten sind ja als Kulturvereine zugelassen. Die Kommunen müssen Vorschläge machen, welche Art von Kursen und Begegnungen mit Deutschen angeboten werden können. Die Frauen und ihre Kinder, aber auch die Männer die sich hinter den Moscheemauern verschanzen, müssen so abgeholt werden.

Werden alle diese Ehen unglücklich?

Ich habe meine Interviews mit Frauen in Berlin, in einer Kleinstadt, die ich "Kaza" nenne, und in verschiedenen Stadtteilen Hamburgs durchgeführt. Es gibt glückliche, es gibt sehr tragische Beziehungen, aber es war nicht meine Absicht, nach glücklichen oder unglücklichen Ehen zu suchen. Ich wollte wissen wo und wie diese arrangiert verheirateten Kinder leben, und sie leben in einer Parallelgesellschaft.

Wie können sie unterstützt werden?

Die Schule ist die Schnittstelle. Der Staat muss sich dort selbstbewusst vertreten, es darf kein Kulturbonus verteilt werden, keine Akzeptanz der Befreiungen von Sport und Schwimmunterricht etc. Die Kinder müssen lernen, für sich selbst und für diese Gesellschaft Verantwortung zu tragen, dann würden sie sich auch nicht mehr verheiraten lassen. Für die Eltern kann man Elternarbeit anbieten und sie an die Schule binden. Auch das neue Integrationsgesetz ist eine Chance. Der Staat muß die neuen Bürger abholen, sie in die deutsche Gesellschaft begleiten: Mit Sprach- und Integrationskursen. Sie dürfen nicht ihrem Schicksal und der Willkür der Familien überlassen werden. Am ehesten trifft man diese Frauen in den Moscheen. Eine soziale Betreuung findet man hier nicht. Und doch sind es die einzigen Orte, zu denen sie ohne ihre Männer gehen können.

Haben die Deutschen aus falsch verstandener Toleranz und um keine Antipathien gegenüber Türken zu schüren diese Themen unter den Teppich gekehrt?

Die deutsche Gesellschaft hat bzw. hatte genug mit sich selbst zu tun, zum Beispiel die eigene Geschichte aufzuarbeiten. Dabei wollte man fremde Kulturen willkommen heißen, die Multikulturalität sollte als Beweis dafür dienen. Es war ein Fehler, unter dem Signum der Toleranz die jeweiligen "Eigenheiten" der türkisch-islamischen Gesellschaft in Deutschland zu verteidigen und damit nicht selten die Selbstausgrenzung der Migranten zu befördern. Der Integration wurde mit dieser eher folkloristischen Sichtweise ein Bärendienst erwiesen.


Das Gespräch führte Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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Das Schubladendenken aufbrechen

Ömer Erzeren thematisiert das Anderssein

Sein neuestes Buch heißt "Eisbein in Alanya" und thematisiert die Andersartigkeit als eine Chance in mehreren Gesellschaften, die oftmals das Handeln der Menschen in einen bestimmten Rahmen einzugrenzen versucht. Wir interviewten ihn daher über Themen wie Toleranz und Klischees.

AiD: Bitte stellen Sie sich unseren Lesern vor.

Erzeren: Ich bin in Ankara geboren. Als ich drei Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Deutschland. Doch sie wechselten ständig ihren Wohnort. Als ich zwölf Jahre alt war, ließen sie sich in der Türkei nieder. Nach drei Jahren zog sie nach Deutschland. Ich habe vielleicht zehn Schulen gewechselt bis ich das Abitur gemacht habe. In Göttingen studierte ich schliesslich Sozialwissenschaften und kehrte 1985 in die Türkei zurück, wo ich lange Zeit als Korrespondent für deutschsprachige Medien arbeitete. Seit einigen Jahren lebe ich abwechselnd in Berlin und Istanbul und arbeite als Autor.

Ihr Buch "Eisbein in Alanya" thematisiert die Andersartigkeit der Menschen. Wie kamen Sie dazu, so ein Buch heraus zu bringen?

Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass die Andersartigkeit häufig mit Ausgrenzung und Diskriminierung einhergeht. Ich erinnere mich an meine Kindheit in Deutschland in den sechziger Jahren, wo ich beispielsweise keinen Zutritt in die Wohnungen von Mitschülern hatte. Ich sprach perfekt Deutsch, war ein Musterschüler, kam aus einem gut bürgerlichen Elternhaus - mein Vater war Arzt - und es war einzig und allein meine dunkle Hautfarbe, weshalb ich in eine Sonderrolle gedrängt wurde. Die Menschen, die in dem Buch portraitiert werden, sind anders. Es sind Dicke, es sind Schwule und Lesben, es sind Behinderte, es sind Menschen, die aufgrund ihrer Ethnie oder ihres Glaubens anders sind. Die Parallelität der Erfahrung von Ausgrenzung, die ich nach den vielen Interviews gemacht habe, ist verblüffend. In dem Buch werden ja sowohl Menschen aus der Türkei als auch Menschen aus Deutschland portraitiert. Ein weiterer wichtiger Punkt war für mich, dass Menschen allzu schnell mit kollektiven Identitäten belegt werden. Du bist Türke, also bist du Moslem. Wo bleiben dann christliche oder jüdische Türken? Wo bleiben dann atheistische Türken?

Diejenigen, die sich bereit erklärten, aus ihrem Leben zu erzählen, wie hatten diese zuerst auf ihr Projekt reagiert?

Es ist natürlich nicht einfach aus dem Nähkästchen zu plaudern. Ganz Persönliches wird ja einem wildfremden - in diesem Fall mir als Autor - anvertraut. Viele hatten Bedenken. Es kommt sehr darauf an, welches Vertrauensverhältnis zu dem Gesprächspartner entwickelt wird. Die portraitierten Menschen haben mir vertraut. Und ich bin sehr sorgfältig mit dem umgegangen, was sie mir erzählt haben. Es geht darf nicht angeblich Sensationelles angepeilt werden, sondern die Gefühle, das Leiden und Freude müssen angemessen in Sprache gegossen werden. In vielen Fällen im Buch wurde die Form des Monologes gewählt. Aus den Gesprächen formulierte ich Monologe, die dann den Gesprächspartnern vor Veröffentlichung wieder vorgelegt wurden.

Was hat Sie selbst erstaunt, als Sie diese Menschen interviewt hatten?

Ich habe mich an meine Kindheit erinnert. Wenn etwa in Istanbul ein schwuler Dramaturg darüber berichtet, dass andere Menschen ihm nicht glauben wollen, das er Kurde ist. Er entspricht eben nicht dem Stereotypen des Kurden. Oder wenn ein türkische Lesbin aus Berlin erzählt, dass sich eine Frau, mit der sie in der Disco flirtet, sich genau in dem Augenblick von ihr abwendet, als sie erfährt, dass sie Türkin ist.

Die Andersartigkeit anderer Kulturen scheint viele zu überfordern. Was meinen Sie, vorher kommt diese Angst? Sind Klischees doch hartnäckig und die Fähigkeit zur Toleranz nur von kurzer Dauer?

Viele sind faul. Denkfaul. Sie möchten nicht mit Personen, die immer multiple Identitäten haben, kommunizieren, sondern den Anderen einer Schublade zuordnen. So wiegen sie sich in Sicherheit. Es ist die Sicherheit der Herde, wo nicht reflektiert wird. Der Herde treu lässt man sich auch ins Schlachthaus führen.

Glauben Sie selbst an eine multikulturelle Gesellschaft oder ist das friedliche Nebeneinander eher doch die Realität in Deutschland?

Ich weiß nicht, ob der Begriff der multikulturellen Gesellschaft treffend ist. Häufig wird ja der Eindruck erweckt, Multikulturalität sei ein Nebeneinander von verschiedenen Kulturen. Doch schon der Begriff einer homogenen, in sich geschlossenen Kultur ist problematisch. Es gibt "die" deutsche Kultur oder "die" türkische Kultur. Kulturen stehen sind einem beständigen Wechsel und sind vielfachen Einflüssen unterworfen. Ich halte auch nichts davon, dass im Namen der Toleranz die Devise ausgegeben wird man habe eine andere "Kultur" zu akzeptieren. Die homogene Kultur existiert nicht. Viel mehr müssen wir darüber nachdenken, welchen positiven Momente kulturelle Interaktion hervorbringen kann. Was können wir von denen, die wir als fremd empfinden, lernen? Und es muss eine rationale Debatte über das Gemeinwesen, unter welchem wir leben wollen, geführt werden. Doch genau das passiert zumeist nicht. Stattdessen wird ethnisiert oder das "Böse" einer Religion zugeschrieben. Ideologen bestimmen leider häufig die Politik.

Nun zum Land Türkei: Wie beurteilen Sie die Situation um die Aufnahmekriterien der Türkei in die EU?

Die EU hat der Türkei zugesagt Beitrittsverhandlungen zu beginnen, wenn die Kopenhagener Kriterien erfüllt sind. Die EU Kommission ist in ihrem Fortschrittsbericht zu dem Schluss gekommen, dass die Türkei die Kriterien erfüllt und Verhandlungen aufgenommen werden sollten. Was mich ungeheuer aufregt ist, dass in den vergangenen Monaten die Heuchler das Feld übernommen haben. Sie haben geschwiegen, als vor Jahren die EU beschloss Verhandlungen aufzunehmen, wenn die politischen Kriterien erfüllt werden. Offenbar haben sie nicht damit gerechnet, dass die Türkei ein solch zügigen Reformprozess durchläuft. Diejenigen, die statt Beitrittsverhandlungen plötzlich von einer privilegierten Partnerschaft reden, wollen das die EU ihr Wort bricht.

Zunehmend wird kulturalistisch argumentiert. Ein moslemisches Land gehöre nicht in die EU. Statt rationaler, politischer Kriterien also die Religion. Wenn solche Kräfte die EU dominieren sollten ist das der Abschied von Prinzipien, die einst die Europäer auf ihr Banner hissten. An der Türkei-Frage entscheidet sich die Zukunft der EU. Werden die Prinzipien, die als gemeinsame Werte anerkannt sind, in die Praxis umgesetzt oder verrät man sie. Wirft man die gemeinsamen Werte über Bord um die Türkei nicht aufzunehmen? Es wäre das Ende nicht nur das politische Ende der EU, sondern auch Vorbote unheilvoller Entwicklungen in der Weltpolitik.

Eine letzte Frage: Haben Sie sich selbst mal dabei ertappt, in einer Klischeekategorie gedacht und geurteilt zu haben und danach sich umso mehr darüber zu ärgern?

Ja, ich habe mich mehrfach dabei ertappt. Aber reden möchte ich im Interview darüber nicht. Ich will ja kein schlechtes Beispiel abgeben.


Das Gespräch führte Ali Sirin

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Türkische Frauen in Europa

 

Essen. Wenn über die Situation türkischstämmiger Frauen berichtet wird, stehen fast immer Probleme oder Schreckensmeldungen über Gewalt, Unterdrückung und Zwang im Vordergrund. Dabei weist die nun mehr als 30-jährige Geschichte der türkischen Frauen in Europa auch zahlreiche Erfolge auf. Darauf hat Prof. Dr. Faruk SSen, Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien, aus Anlass des Weltfrauentags am 8. März 2005 hingewiesen. So gibt es inzwischen in Europa zahlreiche türkischstämmige Unternehmerinnen, Schauspielerinnen und Politikerinnen. Viele türkischstämmige Frauen verfügen über eine gute Schul- und Berufsausbildung und meistern ihr Leben selbstbestimmt und selbstbewusst. "Dieser Erfolg wird jedoch häufig übersehen", so Prof. SSen.

In Europa leben rund 3,9 Millionen türkischstämmige Migranten, davon sind knapp die Hälfte Frauen. Kamen im Zuge der sogenannten Gastarbeiteranwerbung in der 1960er Jahren vorwiegend junge Männer nach Europa, so hat sich dies durch den Anwerbestopp geändert: Durch die Möglichkeit des Familiennachzugs stieg der Frauenanteil unter der türkischen Bevölkerung stetig an, derzeit liegt er bei 48%. "Heute", so betont Prof. SSen, "sind türkischstämmige Frauen in allen Lebensbereichen aktiv. Sie treten als Künstlerinnen und Politikerinnen in die Öffentlichkeit. Bereits 22% aller türkischstämmigen Selbständigen sind Frauen, aber auch die Zahl der Ärztinnen und Anwältinnen sowie der Angestellten wächst." Insbesondere in der dritten Generation steigt der Anteil der Abiturienten sowie der Universitätsabsolventen kontinuierlich, derzeit sind 39% aller türkischen Studierenden Frauen.

Doch trotz dieser positiven Entwicklung erschrecken auch immer wieder Meldungen über Zwangsheirat und familiäre Gewalt bis hin zu Ehrenmord die Öffentlichkeit. Nicht übersehen werden darf jedoch, dass 90% aller Migranten fordern, Gewalt gegen Frauen und Kinder sowohl gesellschaftlich als auch strafrechtlich stärker zu ächten. Ebenso viele setzen sich für gleiche Rechte für Männer und Frauen ein.

Besorgniserregend ist trotz der Erfolge der Migrantinnen der immer noch geringe Anteil der jungen Frauen, die nach ihrer Schulausbildung eine berufliche Ausbildung machen. Häufig verhindert eine frühe Familiengründung eine Ausbildung. Andererseits unterstützen 90% der Migranten die Ausbildung auch von Mädchen und jungen Frauen. "Gerade im Bereich der beruflichen Ausbildung und des Übergangs von der Schule in den Beruf müssen noch deutliche Anstrengungen unternommen werden. Hierbei dürfen jedoch die türkischen Familien nicht alleine gelassen werden, auch die verantwortlichen Politiker sind gefordert. Türkischstämmige Frauen müssen in die Lage gebracht werden, auf eigenen Beinen zu stehen und gleichberechtigt zu leben", so Prof. SSen. Notwendig sei, neue Projekte zur Einbindung der Frauen in den Arbeitsmarkt zu entwickeln, sowohl zur Erhöhung der Ausbildungsquote als auch zum Abbau der Arbeitslosigkeit unter den Frauen, von der türkische Frauen überproportional betroffen seien. Die Familien müssten in solche Projekte einbezogen werden, um die Wirkung zu verbessern.


Autor: Dr. Dirk Halm, ZfT

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