Integration in Deutschland 2/2005, 21.Jg., 15. Juni 2005

AUSSIEDLER

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Putzen und reden, die Spritze geben und reden

Für „Julias“ Patienten ist das Gespräch genauso wichtig wie die Pflege

Michael Katz parkt den Wagen vor einem Kölner Seniorenhaus und holt zwei Kisten Mineralwasser und das Neujahrsgeschenk, eine Schachtel russische Pralinen, hervor. Dann klingelt er bei Serafima Mogilewskaja. Die ehemalige Professorin des Moskauer Konservatoriums wird bald 90 Jahre alt. Seit zehn Jahren lebt sie alleine in Köln und wird seit kurzem von „Julia“ versorgt.

Eine pflegebedürftige Person soll entsprechend ihrer individuellen Werte, kulturellen und religiösen Prägungen und Bedürfnisse leben können, heißt es im „Memorandum für kultursensible Altenhilfe“ der Wohlfahrtsverbände. Aber wegen Sprachbarrieren und getrennter Lebenswelten bleiben die Biografien der alten Migranten verschlossen. Die russischen Juden haben schon oft ihr 50. Lebensjahr überschritten, wenn sie nach Deutschland kommen. Noch gilt bei den Einwanderern allgemein die Pflege der Alten und Kranken als Sache der Familie. Die Angehörigen sind jedoch meist berufstätig, leben weit weg oder sind gar in der Heimat geblieben. Der Arzt Igor Kogan und der Koch Michael Katz, beide als „Kontingentflüchtlinge“ in Deutschland, kannten viele solche Fälle unter ihren Landsleuten und gründeten den ambulanten Pflegedienst „Julia“. Den gibt es in Berlin und seit Frühjahr 2004 auch in Köln. Seine Mitarbeiter stammen aus der ehemaligen Sowjetunion und kümmern sich vor allem um Aussiedler und russische Juden.

Serafima Mogilewskaja sieht viel jünger aus und hat sich schick zurecht gemacht. Bis vor kurzem schaffte sie ihren Haushalt alleine, aber das wird immer schwieriger, und auch das Notrufgerät hat mehrmals Alarm schlagen müssen. Irgendwann reichten die Zivis, die ihr die jüdische Gemeinde zum Einkaufen schickte, nicht mehr. Auf die ambulante Hilfe hat sie die Nachbarin hingewiesen. Dass es so etwas überhaupt gibt und ihr auch zustehen könnte, davon hatte die pensionierte Professorin nichts geahnt. Nun wartet sie, „mit Herzflattern“, darauf, dass der Arzt sie in eine Pflegestufe einordnet und damit die finanziellen Fragen gelöst sind. Den Vertrag mit „Julia“ hat sie bereits unterschrieben – ohne die vielen Seiten zu lesen. Den 28jährigen Michael Katz hatte sie nämlich schon beim ersten Gespräch ins Herz geschlossen.

Deutsch versteht die betagte Musikerin zwar gut, aber fürs Gespräch reicht es nicht. Außerdem: Mit wem reden? Aus der Wohnung wagt sie sich kaum, und die ebenfalls alten deutschen Nachbarn begnügen sich mit einem „Guten Tag“. Wenn auch der Körper gebrechlich ist, ihr Kopf ist noch klar und die Hände gleiten geschmeidig über die Klaviertasten. „Was, Mischa, Sie haben mich noch nie spielen hören?“ fragt die alte Dame kokett und macht den Deckel des schwarzen „Yamaha“ auf. Noten braucht sie nicht: Ihren Chopin kennt sie auswendig.

Eine ganze Wand voll Fotos lindert die Einsamkeit: die Enkel, die auch Musiker geworden sind und in Amerika leben, ehemalige Schüler. Sie haben Erfolg und denken an sie. Einige sind in Deutschland und laden sie zu Konzerten ein – das wärmt die Seele. Aber sie stehen mit beiden Beinen im Berufsleben: Was können sie schon für ihre Oma und Professorin tun? Deshalb sagt sie immer: Mir geht es gut, ich brauche nichts. Dennoch freut sie sich fast wie ein Kind über eine große Packung körnigen russischen Quark, die die Pflegerin mitgebracht hat: „Was für ein Genuss! So viele Jahre lebe ich hier, und keiner hat sich bisher erboten, für mich in einen russischen Laden zu fahren und mir so etwas zu kaufen“.

Michael Katz sieht derweil die Post durch. Ein Brief vom Sozialamt liegt da ungeöffnet, ein Termin für die Hartz IV-Umstellung. „Das ist wichtig“, mahnt Katz, „ja nicht vergessen!“ Auch Sozialberatung gehört zum russischsprachigen Pflegedienst, erklärt der „Julia“-Gründer. Vorgesehen ist das im straffen Punktekatalog, nach dem Pflegekasse und Sozialamt die Dienstleistungen abrechnen, natürlich nicht. „Fürs Reden werden wir nicht bezahlt“, sagt Katz, „aber man kann ja zwei Tätigkeiten gleichzeitig machen“. Z.B. putzen und reden, die Spritze geben und reden. Was er bisher bei den professionellen Pflegern gesehen habe, habe ihn erschreckt: „Ich verstehe: Zeitdruck und mit allem drum und dran, aber es ist einfach kein Gefühl da. Sie arbeiten wie Roboter. Also zack-zack, in fünf Minuten müssen die fertig sein“.

Der junge Mann hatte schon einige Berufe ausprobiert, studierte ein paar Semester Geschichte und ließ sich zum Koch ausbilden. Bis ihm klar wurde, dass er mit Leuten arbeiten will. Seinen eingewanderten Patienten ist die Kommunikation noch einen Tick wichtiger als gleichaltrigen Deutschen, die sich zumindest untereinander unterhalten können, wenn schon keine Angehörigen da sind. Die Mitarbeiter von „Julia“ müsse man nicht speziell zum Gespräch anhalten, versichert er: Das machten sie schon von selbst.

Der nächste Besuch ist gleich um die Ecke: Ida Slawina wohnt im selben Seniorenhaus. Aber die 82-jährige geht ebenso wenig vor die Tür. Mit der Welt verbindet sie ein Computer. Auf dem Bildschirm ein großes Symbol für die elektronische Post: „Damit ich nur drauf zu klicken brauche und sonst nichts mehr“. Sie schreibt an ihren Sohn in Frankreich, an ihre ehemaligen Schüler, die über die ganze Welt verstreut sind. Und auch an die anderen Mitglieder von „Memorial“, der Organisation für das Gedenken an die Zwangsarbeiter und die Opfer des Stalinistischen Regimes, zu denen ihre Eltern als Juden und Intellektuellen auch gehörten. Freudig nimmt sie die Gratulation entgegen: „Memorial“ wurde gerade mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

Vor ein paar Monaten hatte Frau Slawina sich bei einem Unfall auf der Straße einige Rippen gebrochen. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, gab ihr der russischsprachige Hausarzt ein Faltblatt von „Julia“ mit. Glück im Unglück, sagt die ehemalige Lehrerin aus St. Petersburg: Pflegerin Lydia, in der alten Heimat Krankenschwester, habe sie massiert und die Reha-Gymnastik gemacht. Jetzt ist die linke Seite wieder beweglich. Und dann führt sie das Wunder der Technik vor, das sie seit neuestem besitzt: einen Lift, mit dem sie sicher in die Badewanne ein- und aussteigen kann. Beim Waschen und Duschen ist sie jedoch auf Hilfe angewiesen. Immerhin ist es leichter, sie von Landsleuten anzunehmen: „Ich war zu Anfang auch sehr schüchtern. Es war mir unangenehm, dass fremde Leute mir bei so intimen Dingen helfen sollten. Und das auch noch in einer Fremdsprache …“

Waschen, Putzen und Bügeln müssen aber wegen eines dringenden Termins verschoben werden: Verdacht auf Hautkrebs. Der Besuch beim Arzt war gar nicht geplant, aber Michael Katz findet noch die Zeit, sie hinzubegleiten. Die alte Dame ist beruhigt: „Es ist auch sehr wichtig, dass ich jetzt zu einem Facharzt gehen kann, der kein Russisch spricht. Es ist das Gefühl, jemanden im Rücken zu haben, einen Schutz“.


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

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Aussiedlerzuzug weiter rückläufig

 

Berlin. Von Anfang Januar bis Ende April 2005 wurden 12.851 neu eingereiste Spätaussiedler und Angehörige in Friedland registriert, dies sind über 3.500 weniger als im selben Zeitraum des Vorjahres. Auch die Zahl der neuen Aufnahmeanträge ging weiter zurück, nämlich um rund 4.000 gegenüber dem vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres. Insgesamt wurden bis zum 30. April 2005 nur noch 7.572 Anträge beim Bundesverwaltungsamt gestellt. Dies teilte das Bundesministerium des Innern Mitte Mai 2005 mit. Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Hans-Peter Kemper, begrüßt diese Entwicklung: „Die konsequente Hilfepolitik der Bundesregierung in den Herkunftsländern zeigt nachhaltige Wirkung. Immer mehr Angehörige der deutschen Minderheiten sehen für sich und ihre Familien Lebensperspektiven in ihrer Heimat. All denjenigen, die sich dennoch entschließen, nach Deutschland überzusiedeln, steht im Rahmen der Aufnahmebedingungen die Tür auch weiterhin offen.“

Kemper weist darauf hin, dass mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes seit dem 01. Januar 2005 auch alle mit einreisenden Familienangehörigen des Spätaussiedlers über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügen müssen. Diese gesetzliche Änderung sei „nicht als Gängelei zu verstehen“, sondern liege im Interesse der Betroffenen. Ohne Sprachkenntnisse hätten sie in Deutschland kaum eine realistische Chance, Fuß zu fassen. Zudem biete der deutsche Staat genügend Möglichkeiten, die Sprache in den Herkunftsgebieten zu erlernen. In Russland und Kasachstan werden aktuell 2.789 vom Bundesinnenministerium geförderte Sprachkurse an 721 Orten flächendeckend durchgeführt. Die Anzahl der Sprachkurse wird ständig dem tatsächlichen Bedarf angepasst. Die Maßnahmen sind in erster Linie zur Wiederbelebung der deutschen Kultur in den Herkunftsgebieten konzipiert; sie verbessern aber im Fall einer Ausreise auch die Startbedingungen für Spätaussiedler in Deutschland entscheidend, so Kemper. (esf/BMI)

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Deutsche in Russland

 

Die 1970 in Kasachstan geborene Eleonora Hummel zog als 10-jährige mit ihren Eltern in den Nordkaukasus und kam schon zwei Jahre später als Spätaussiedlerin nach Dresden. Die Schriftstellerin, die schon einige Preise gewonnen hat und 2001 das Stipendium des fünften Klagenfurter Literaturkurses erhielt, hat Anfang 2005 einen autobiografischen Roman vorgelegt. „Die Fische von Berlin“, erschienen im Steidl Verlag Göttingen, beschreibt vordergründig das Leben der Familie seit dem ersten Umzug. Neben Brüdern, Schwestern und Eltern ist für die Romanhauptfigur Alina jedoch vor allem der Großvater wichtig. Wenn sie ihn besucht, hört der Rentner – eine Zigarette nach der anderen rauchend – einen verbotenen Sender: Die Stimme Amerikas. Sie verbringen eine schöne Zeit, während der Großvater der Enkelin von früher erzählt: von Deportation und langen Jahren in sibirischen Arbeitslagern. Seine Geschichte unter Stalin und die gegenwärtigen Ausreisehoffnungen der Jüngeren werden ineinander verschränkt geschildert. Entstanden ist „ein floskelloser und anrührender, ein kleiner gelungener Roman“, so Eberhard Rathgeb (F.A.Z vom 19.04.05). Der 223-seitige Roman kostet 18 Euro. (esf)

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