Integration in Deutschland 2/2005, 21.Jg., 15. Juni 2005

EHE UND FAMILIE


Das Private ist politisch

Sexuelle Gewalt in Migrantenfamilien

Das Mädchenschutzhaus "Papatya" in Berlin besteht seit 1986 als Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen und hat eine geheime Adresse. Die ist nötig, denn 80 Prozent der Mädchen, die hier in der Regel für zwei bis drei Monate in geschützten Räumen leben, haben sexuelle Gewalt erfahren. Sie suchen Zuflucht vor den Nachstellungen ihrer Familienangehörigen, deren Beauftragten und anderen Verfolgern. Etwa 50 Prozent der Bewohnerinnen von "Papatya" entschieden sich, ihre Eltern dauerhaft zu verlassen. Doch Anzeige erstatten die Mädchen nach Erfahrung der Mitarbeiterinnen des Projekts selten: meist nur dann, wenn sie dadurch jüngere Geschwister schützen wollen.

Sexuelle Gewalt ist auch ein Problem für Erwachsene. Serpil Maglicoglu trennte sich von ihrem Ehemann. Problematisch waren seine Übergriffe aber auch danach noch, als er ein Besuchsrecht erhielt. Den Missbrauch ihrer Tochter hatte sie lange nicht erkannt. Allerdings: nicht die Mütter allein seien dafür zuständig, ihre Kinder zu schützen, sagt die Autorin ("Für Yasemin"), sondern die ganze Gesellschaft: "Es sind ja unsere Täter, keine Außerirdischen!" Wichtig gewesen sei für sie die Unterstützung in Beratungsstellen der AWO und der Diakonie. Aber auch eine Anzeige von Dritten hätte vielleicht geholfen.

"Wenn ich nicht mit 15 einen deutschen Sozialarbeiter getroffen hätte, säße ich jetzt nicht hier," meint Seyran Ates. Denn die wenigsten Mädchen würden so erzogen, dass sie von sich aus etwas erzählen. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung sei in der islamischen Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit, bedauert die Rechtsanwältin. Und verweist darauf, dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit einigen Jahren in Deutschland als Straftat gilt - ein Erfolg, der u.a. der Frauenbewegung zu verdanken sei: das Private wurde politisch. Menschenrechte hören hinter der Wohnungstür nicht auf.

Auch das seit 1.1.2002 gültige Gewaltschutzgesetz ist ein Beitrag zur Enttabuisierung von häuslicher Gewalt. Wer zu Hause gewalttätig wird (LebenspartnerInnen, aber z.B. auch Söhne), dem kann die Polizei für einen bestimmten Zeitraum das Betreten der Wohnung verbieten. Diese Zwischenzeit kann das Opfer für einen Antrag beim Gericht nutzen, um sich die Wohnung zuweisen zu lassen. Als Rechtsanwältin in Berlin erlebt Ates, dass das Anzeigeverhalten in der islamischen Gesellschaft viel geringer ist.

Interdisziplinäre Hilfe

Strafrechtliche Aspekte stellten jedoch nur ein "Grundgerüst" dar: Wirksame Hilfe für die Betroffenen, so die Juristin, käme erst durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Beratungsstellen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, Ärztinnen und Ärzten zustande. Inbesondere bei Opfern mit Migrationshintergrund müsse sie auch von denen geleistet werden, die sich im Kulturkreis auskennen. So würden Jungen manchmal eher Opfer sexueller Gewalt, um die Jungfräulichkeit von Mädchen zu schützen. Ates kritisiert, dass sich Sozialämter bei möglichen Interventionen gelegentlich "aus Übervorsicht" und "aus falschem Respekt vor der anderen Kultur" zurückhielten. Andererseits sei Hilfe von Deutschen deshalb besonders wichtig, weil Betroffene Verständnis aus dem eigenen Kulturkreis oft nicht erwarten (könnten).

Genau da setzt eine zweisprachige Broschüre von "Strohhalm e.V." an. Das "Projekt zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen" leistet Aufklärungsarbeit in Kindertagesstätten und Elterngruppen und erarbeitete die Broschüre gemeinsam mit dem Quartiersmanagement und einem türkischen Frauentreff im Rollbergviertel, einer überwiegend türkischsprachigen Nachbarschaft in Berlin.

Unter dem Titel "Wie können Mädchen und Jungen vor sexuellem Missbrauch geschützt werden?" wird u.a. darüber informiert, dass es seit dem vom Bundestag im September 2000 verabschiedeten "Recht auf gewaltfreie Erziehung" gesetzlich verboten ist, Kinder zu schlagen. Gelungene Zeichnungen zeigen übergriffige, aber auch widerständige Situationen aus dem Alltag von Kindern. "Sexueller Missbrauch ist verboten!", steht unter einem Bild, auf dem ein erwachsener Mann in Pantoffeln ein Mädchen zwingt, ihn zwischen den Beinen zu berühren. Dazu in beiden Sprachen die Erklärung, dass ein Drittel aller Fälle in der eigenen Wohnung und in der Familie passiert.

Was ist sexueller Missbrauch?

"Sexueller Missbrauch liegt vor, wenn Erwachsene oder ältere Jugendliche ein Mädchen an der Scheide, der Brust oder am Po, oder einen Jungen am Penis oder Po berühren oder die Kinder auffordern oder zwingen, sie selbst z.B. am Penis zu berühren. Es können auch andere Formen von sexuellen Handlungen an Kindern vorgenommen werden, indem sie sich von Kindern sexuell befriedigen lassen oder Kinder vergewaltigen."

Die Broschüre stellt auch dar, dass Missbraucher ihre Machtpositionen ausnutzen, wie z.B. Trainer oder Lehrer. Kinder sollen lernen, ihrem Gefühl zu vertrauen, und dürfen sich auch dann wehren, wenn etwa die zu Besuch kommende Großmutter einen Kuss erzwingen will. In Rollenspielen bei Fortbildungen nutzen die Mitarbeiterinnen von "Strohhalm e.V." kritische Situationen zwischen Onkel und Nichte oder Trainer und Junge. Spezielle "Migrantenkurse" gebe es zwar nicht, aber "man kann mit uns über Wangen- und Handküsse als Zeichen kultureller Bedeutung reden, auch über schlechte (z.B. Missbrauch) und gute Familiengeheimnisse (z.B. Illegale in der Verwandtschaft)," betont Dagmar Riedel-Breidenstein: "Sexuelle Gewalt ist ein Gewaltthema. Das erleichtert uns den Zugang zu den Eltern, denn sie haben ein hohes Bedürfnis nach dem Schutz ihrer Kinder."


Autorin: Marianne Lange

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Hilfe und Informationen für Betroffene

Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt gibt es in fast jeder Stadt. Darüber hinaus zu nennen sind:

Beratung

  • Hürriyet-Kampagne gegen häusliche Gewalt, Hotline in türkischer und deutscher Sprache: 01805 - 227706 (Montag: 10:00 - 13:00 Uhr, Mittwoch: 13:00 - 17:00 Uhr, Freitag: 16:00 - 20:00 Uhr)
    www.hurriyet.de/hurriyet/
    kampagnede/index.php?navi=ail
     
  • Papatya - Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen, c/o Jugendnotdienst, Mindener Str. 14, 10589 Berlin, Tel. 030-3499934, www.papatya.org
  • ROSA e.V. Stuttgart, Tel.: 0711/539825
  • SAADET / AWO, Nürnberg, Tel.: 0911/415888
  • Frauenrechtlerin Serap Cileli: über www.serap-cileli.de
  • Terre des Femmes, Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072 Tübingen, Tel. 07071/79 73-14, geschaeftsfuehrung@frauenrechte.de
  • Weißer Ring e. V., Bundesgeschäftsstelle, Weberstraße 16, 55130 Mainz, Tel.: 06131/83 03-0, Fax: -45 , info@weisser-ring.de, www.weisser-ring.de, Bundesweites Info-Telefon (24 Stunden): 01803 - 34 34 34 (0,09 Euro € pro Minute). Der Weiße Ring hat in Duisburg eine türkische Beraterin, die für ganz NRW zuständig ist.
  • Mädchennotdienst Wildwasser e.V. Berlin, Tel.: 030/21003999, www.wildwasser-berlin.de

Publikationen

  • BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Berlin 2004

  • Broschüre: "Wie können Mädchen und Jungen vor sexuellem Missbrauch geschützt werden?", Berlin 2004, Strohhalm e.V. Projekt zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen, www.strohhalm-ev.de

  • Necla Kelek: Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Kiepenheuer & Witsch 2005

  • Serap Cileli: Wir sind Eure Töchter, nicht Eure Ehre!, Neuthor-Verlag 2002

  • Serpil Maglicoglu: Für Yasemin. Eine Mutter entscheidet sich, Orlanda Verlag Berlin, 2002, ISBN 3-920823-94-2. Homepage der Autorin: www.von-der-seele-schreiben.de

  • Seyran Ates: Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin, Rowohlt 2003

  • Terres des Femmes (Hg.): Zwangsheirat - Lebenslänglich für die Ehre, Terre des Femmes Verlag, Tübingen 2002.

Weitere Infos:

Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, Projekt "Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung von (sexuellen) Gewalteinwirkungen", Prof. Dr. Dagmar Schultz, dschultz@asfh-berlin.de

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