Integration in Deutschland 2/2005, 21.Jg., 15. Juni 2005

INTERVIEW

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


"Wer sein Kind nicht schlägt..."

Ahmet Toprak zur Erziehung in türkischen Migrantenfamilien

Dr. Ahmet Toprak ist Referent für Gewaltprävention bei der Aktion Jugendschutz Bayern e.V. und Lehrbeauftragter an den Universitäten Eichstätt und Passau. Toprak hat einige Studien zu Gewalt in türkischen Migrantenfamilien erarbeitet und ein Anti-Aggressions-Training für türkische Jungen entwickelt. 2004 veröffentlichte er ein Buch unter dem Titel "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen", in dem er elterliche Gewaltanwendung in türkischen Migrantenfamilien beschreibt.

AiD: Welche Erziehungs- und Bildungskonzepte, -stile und -praktiken herrschen bei seit längerer Zeit in Deutschland lebenden, "integrierten" türkischen Familien vor?

Toprak: Auf den ersten Blick wird man bei integrierten türkischen Migrantenfamilien einige Erziehungskonzepte feststellen können, die aus Sicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft als "rückschrittlich" bezeichnet werden können. Die Familien halten an einigen Erziehungskonzepten, wie zum Beispiel Respekt vor Autoritäten, fest. Nicht weil sie rückschrittlich sind, sondern weil sie dem Wert dieser Erziehungsziele große Bedeutung beimessen. Des weiteren kann hervorgehoben werden, dass der Wunsch nach guter Bildung - zum Beispiel ein Universitätsstudium - sehr hoch im Kurs steht. Die Eltern sind jedoch oft nicht in der Lage, ihre Kinder auf dem Weg dahin zu unterstützen, abgesehen von materiellen Anschaffungen.

Welche aus dem Heimatland tradierten Vorstellungen haben im aktuellen Erziehungsgeschehen Einfluss?

Traditionell wird die Erziehung des Kindes in der Regel der Mutter bzw. der älteren Schwester überlassen, weil dies im ländlich-bäuerlichen Kontext der Türkei so war bzw. ist. Dass die Mutter alleine mit den komplexen Erziehungsfragen eines hochmodernen Industrielandes überfordert ist, liegt auf der Hand. Außerdem übertragen die Eltern den Erziehungsauftrag der Kinder stellvertretend an externe Institutionen, wie Schule oder Kindergarten. Wenn eine Lehrkraft sich mit Disziplinarproblemen eines türkischen Kindes an die Eltern wendet, sind diese irritiert, weil die Lehrkraft als Experte für Erziehungsfragen gesehen wird. Wenn sie sich mit solchen Fragen an die Eltern wendet, verliert sie an Ansehen und Kompetenz, weil sie nicht in der Lage erscheint, ein Kind zu erziehen. Diese Haltung ist aus der Türkei übernommen worden.

Welche Formen von Gewalt existieren in türkischen Migrantenfamilien?

Alle üblichen Gewaltformen, sei es physische, psychische oder sexuelle Gewalt, werden je nach Kontext angewendet. Vor allem die sexualisierte Gewalt in Form von Beleidigung ist verbreiteter als angenommen. Die Mädchen, und vor allem aber die Ehefrauen, werden als Nutte (orospu) beschimpft, die Männer als schwul (ibne) bezeichnet. Ziel dieser sexualisierten Gewalt ist es, die Betroffen in ihrer Ehre zu kränken und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht wie Nutten oder wie schwule Männer verhalten. Darüber hinaus gibt jeder dritte Mann zu, seine Frau geschlagen zu haben.

Welche Erziehungsziele und Bestrafungsrituale gibt es?

Die wichtigsten Erziehungsziele in türkischen Migrantenfamilien können unter folgende Begriffe subsumiert werden: Respekt vor Autoritäten, Erziehung zur Ehrenhaftigkeit, Erziehung zur Zusammengehörigkeit und Erziehung zum Lernen und Leistungsstreben. Da die Erziehung zur türkischen und religiösen Identität dem persönlichen Fortkommen untergeordnet wird, haben diese Werte entgegen einiger Studien "nur" einen sekundären Charakter. Erziehungsziele wie Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein werden hingegen kaum gefördert. Bei der Bestrafung kann gesagt werden, dass einfache Ohrfeigen und Beleidigungen, die auf die Ehre des Jungen bzw. der Tochter zielen, ziemlich verbreitet sind. Dem Kind mit Schlägen oder mit einer Rückkehr in die Türkei zu drohen, sind weitere gängige Praktiken. Bei erhöhter Bildung der Eltern kann die Tendenz beobachtet werden, dass diese Eltern ihre Kinder mit Entzug des Taschengeldes oder Einschränkung des Fernsehkonsums bestrafen.

Sind sie dabei auch konsequent?

Nein. Allgemein kann festgehalten werden, dass die Erziehung und Bestrafung der Eltern meist inkonsequent ist. Die Eltern sprechen sich zum Beispiel nicht ab oder widersprechen sich gegenseitig im Beisein des Kindes. Weiterhin sprechen sie inflationär Drohungen aus, die sie später nicht umsetzen. Dadurch machen sich die Eltern unglaubwürdig.
Was besagt Ihr Buchtitel "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen"?
Das ist ein gängiges türkisches Sprichwort. In meinen Interviews haben es viele Eltern verwendet. Es deutet darauf hin, dass die Eltern legitimiert werden, ihre Kinder mit Hilfe von Schlägen zu disziplinieren, damit sie später loyal und gehorsam sind. Diese "legitimierte Gewaltanwendung" wird nicht als Gewalt angesehen.

Gibt es geschlechtsspezifische Bestrafungen?

Diese gibt es dahingehend, dass die Mutter ab einem bestimmten Alter - spätestens in der Pubertät - den Sohn nicht mehr bestraft. Das Mädchen kann allerdings sowohl vom Vater als auch von der Mutter bestraft werden. Dem Jungen steht auch zu, der Mutter zu widersprechen, was beim Mädchen strikt abgelehnt wird.

Welche Abweichungen zu den Erziehungsauffassungen in der Mehrheitsgesellschaft bestehen?

Die türkischen Eltern stellen in ihren Erziehungszielen nicht das Individuum in den Mittelpunkt, sondern die Gesellschaft. Die Kinder müssen in der Erziehung lernen, ihre Wünsche und Vorstellungen denen der Eltern, Familie etc. unterzuordnen. Nicht die Meinung des Einzelnen, des Kindes hat Priorität, sondern die der Gemeinschaft, des Älteren. Bei den mittelschichtorientierten deutschen Erziehungszielen steht das Individuum und das persönliche Motiv im Mittepunkt.

Wie reagieren Lehrer und Betreuer, wenn Sie dieser Unterschiede gewahr werden? Wie können sie mit den Eltern kommunizieren?

Man sollte nicht alle pädagogischen Fachkräfte über einen Kamm scheren. Aber viele sind der Meinung, dass diese Erziehungsziele oder Unterschiede rückschrittlich, gar falsch sind und korrigiert werden müssen. Sie werden abgewertet und die persönlichen Erziehungsziele als "besser" in den Vordergrund gestellt. Wenn man mit den Eltern kommuniziert, sollte man erst einmal wertfrei ins Gespräch gehen. Jede Familie kann unterschiedlich organisiert sein und muss individuell betrachtet werden. Deshalb sollten wir einfach erst einmal nur zuhören. Hintergrundwissen ist zwar sehr hilfreich, kann aber belasten, wenn man "in Schubladen denkt".

Was bedeutet das für die interkulturelle Elternarbeit?

Wichtig ist, dass man nicht nur methodisches Know-how besitzt, sondern auch interkulturell kompetent ist, um erfolgreich mit Eltern zu arbeiten. Methodische Vielfalt bedeutet, dass man Erfahrung in der Einzelberatung hat und in der Lage ist, Elternsabende in einer Schule oder einem Hort zu organisieren. Interkulturelle Kompetenz bedeutet kurz zusammengefasst: Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz - also Umgang mit Widersprüchen - und kommunikative Kompetenzen.

Was sind "Türöffner", welches "Stolpersteine" gibt es bei solchen Kontakten?

Klassische Stolpersteine sind: Direkt mit dem Problem zu beginnen bzw. konfrontativ zu arbeiten, Schuldzuweisungen, eine Verurteilung des Verhaltens des Kindes oder Vorurteile ins Spiel zu bringen. Einige Türöffner können sein: Gemeinsames Interesse, also das Wohl des Kindes betonen, Kompetenzen der Eltern anerkennen, die Eltern als Verbündete gewinnen oder Einbeziehung beider Elternteile.

Was müßte integrationspolitisch aus Ihren Untersuchungsergebnissen geschlossen werden?

Zunächst müssten die Kinder sowohl im Vorschulalter als auch in der Schule stärker gefördert werden, weil die meisten Eltern aufgrund der mangelnden Bildung oder aber unpünstiger Arbeitszeiten ihre Kinder nicht unterstützen können. Dies kann sowohl die Schule als auch die Jugendhilfe leisten. Vor allem der vorschulische Aspekt muss hervorgehoben werden, weil die Eltern diesen Abschnitt sehr vernachlässigen. Außerdem müssten die Eltern gezielt geschult werden, um die Erziehungsaufgaben der Kinder zu optimieren. Man sollte sich überlegen, den Besuch des Kindergartens zur Pflicht zu machen, damit die Kinder früher mit der deutschen Sprache konfrontiert werden. Weiterhin müssen die Eltern sensibel darüber aufgeklärt werden, dass sie selbst für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich sind, nicht die Schule oder der Kindergarten.


Das Gespräch führte Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

Ein Aufsatz von Ahmet Toprak zu Männlichkeitsritualen und der Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen findet sich nachfolgend.

Ahmet Toprak: "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen". Elterliche Gewaltanwendung in türkischen Migrantenfamilien und Konsequenzen für die Elternarbeit. Centaurus Verlag (Herbolzheim) 2004. 152 Seiten. ISBN 3-8255-0478-6. 18,50 Euro

Ders.: Jungen und Gewalt. Die Anwendung der Konfrontativen Pädagogik in der Beratungssituation mit türkischen Jugendlichen. Centaurus-Verlag (Herbolzheim) 2005, 110 Seiten, 15,90 Euro.

[ Seitenanfang ]


Männlichkeits-
rituale

Arbeit mit gewaltbereiten türkischen Jugendlichen

Gewalt und Delinquenz von Jugendlichen ausländischer Herkunft ist in den letzten Jahren ein sehr aktuelles Thema geworden. Insbesondere Politiker, Staatsanwälte und Medien warnen davor, dass die Ausländerkriminalität kontinuierlich zunimmt und verlangen ein härteres Durchgreifen, damit die Strafen abschreckend auf andere Jugendliche wirken. Auch in einigen wissenschaftlichen Abhandlungen wird darauf verwiesen, dass die Jugendkriminalität bei türkischen Jugendlichen sehr verbreitet ist, ohne die komplexen Ursachen dafür genauer zu beschreiben. Nach Pfeiffer und Wetzels ist klar belegt, dass schlagende Väter zu einem problematischen Vorbild werden. Die beiden Wissenschaftler gehen davon aus, dass Eltern, die ihre Kinder massiv schlagen, damit deren soziale Kompetenz und ihre Erfolgschancen in Schule und Beruf reduzieren.

Die gesellschaftlichen und institutionellen Diskriminierungserfahrungen, die auf das Leben der Migranten türkischer Herkunft Einfluss haben, finden dagegen wenig Beachtung. Dass u.a. auch die Benachteiligung von Migrantenfamilien bei der Vergabe von Kindergartenplätzen und die Tatsache, dass Einwandererkinder viel öfter als ihre deutschen Altersgenossen an eine Hauptschule empfohlen werden, die Berufs- und Ausbildungschancen verschlechtern, wird in diesen Erklärungsansätzen für Straffälligkeit nicht berücksichtigt.

Zu den komplexen Ursachen für eine erhöhte Strafanfälligkeit türkischer Jugendlicher in der dritten Migrantengeneration gehört aber auch der Werte- und Normenkodex, mit dem türkische Jungen aufwachsen und über den sie ihre Identität definieren. Im Folgenden sollen deshalb Eigenschaften, die in einem Anti-Aggressions-Training mit türkischen Jugendlichen häufig zur Beschreibung des Selbstbildes der Teilnehmer benutzt werden, vor ihrem sozio-kulturellen Hintergrund erklärt werden.

Die Ehre

Der Begriff Ehre klärt die Beziehung zwischen Mann und Frau sowie die Grenzen nach innen und außen. Ein Mann gilt als ehrlos, wenn seine Frau oder Freundin beleidigt oder belästigt wird und er nicht extrem und empfindlich darauf reagiert. Derjenige Mann gilt als ehrenhaft, der seine Frau verteidigen kann, Stärke und Selbstbewusstsein zeigt und die äußere Sicherheit seiner Familie garantiert. Eine Frau, die einen Ehebruch begeht, befleckt damit nicht nur die eigene Ehre, sondern auch die ihres Gatten, weil der Mann nicht genug Mann war, sie davon abzuhalten. Ein (ehrenhafter) Mann steht zu seinem Wort. Diese These bekräftigt ein Sprichwort aus dem Türkischen ("erkek adam sözünü tutar" = "ein Mann hält sein Wort"). Er muss klar und offen zu seinem Wort stehen, und er darf niemals mit "vielleicht" oder "kann sein" ausweichen, weil diese Antwort nur von einer Frau zu erwarten ist. Darüber hinaus muss ein ehrenhafter Mann in der Lage und willens sein zu kämpfen, wenn er hierzu herausgefordert wird. Die Eigenschaften eines ehrenhaften Mannes sind Virilität, Stärke und Härte. Er muss in der Lage sein, auf jede Herausforderung und Beleidigung, die seine Ehre betrifft, zu reagieren und darf sich nicht versöhnlich zeigen.

Die Männlichkeit

Ein anderer wichtiger Begriff, der von den türkischen Jugendlichen, die einen Anti-Aggressions-Kurs besuchen, oft artikuliert wird, ist Männlichkeit. Diese Jugendlichen werden zu Stärke (sowohl körperlicher als auch geistiger), Dominanz und selbstbewusstem Auftreten - im Hinblick auf Übernahme von männlichen Rollenmustern - erzogen. Wenn ein Jugendlicher diese Eigenschaften nicht zeigt, wird er als Frau und Schwächling bezeichnet.

Stärke

Das wichtigste Indiz für eine ausgeprägte Männlichkeit ist die geistige und körperliche Stärke eines Mannes. Bereits im Kindesalter werden die Jungen zum Ringen, Boxen und anderen Kampfsportarten ermutigt und gefördert, während bei den Mädchen dies kategorisch abgelehnt wird. Wenn sich die Jungen beim Spielen verletzen und dabei weinend zur Mutter gehen, werden sie unter Umständen bestraft, da das Weinen die weibliche Rolle, die Schwäche, impliziert. Darüber hinaus wird oft von Jugendlichen zum Ausdruck gebracht, dass zum richtigen und starken Mann-Werden Schläge zu bekommen zum Erziehungsauftrag der Eltern gehören muss.

Dominanz und selbstbewusstes Auftreten

Es wird von einem Jungen erwartet, dass er in der Lage sein muss, zu zeigen, was für die später gegründete Familie das "Richtige" und "Vorteilhafte" ist. Dies kann er u.a. dadurch unter Beweis stellen, indem er seine Position selbstbewusst verteidigt und auf Meinungen, die von außen an ihn herangetragen werden, keine Rücksicht nimmt. Sollte das jedoch nicht der Fall sein, kann es als Schwäche bezeichnet werden, was von "Frauen zu erwarten" ist. Auf der anderen Seite sind die beiden Begriffe ambivalent behaftet. D.h., das selbstbewusste Auftreten wird nur dahin gehend gefördert, wenn es sich um Übernahme von männlichen Rollenmustern handelt. Wenn sie z.B. mit 18 Jahren oder später den Wunsch äußern, das Elternhaus zu verlassen, ohne dass sie geheiratet haben, wird dies von den Eltern in der Regel missbilligt und nicht erlaubt.

Bedingungslose Solidarität mit dem Freund

Ich konnte in der Praxis eines Anti-Aggressions-Kurses beobachten, dass türkischstämmige Jugendliche aufgrund ihres Ehrbegriffes, eines Sich-falsch-verstanden-Fühlens sowie eines anderen Verständnisses von Freundschaft zu Straftätern werden. Sie setzen sich bedingungslos, auch auf die Gefahr hin, dass sie verletzt werden, für den Freund ein: Eine bedingungslose Solidarität heißt auch, dem Freund, ohne die Situation zu hinterfragen, Hilfe zu leisten. Sie ist eine tief verankerte Grundvoraussetzung, über die nicht nachgedacht und die auch nicht in Frage gestellt wird. Wenn die bedingungslose Solidarität nicht gewährleistet wird, ist nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Ehre und Männlichkeit des Jugendlichen in Frage gestellt.

Individualität versus Anpassung

In der Übergangsphase des Jugendalters müssen Kinder bzw. Jugendliche bestimmte Thematiken, wie z.B. einen Schulabschluss, Berufs- und Partnerwahl oder das Ablösen von den Eltern bewältigen. Diese Übergänge - oder Identitätsentwicklungen - vollziehen sich je nach Kultur, Tradition und Religion unterschiedlich und sind von einer Kontrollorientierung abhängig. Es gibt eine primäre und eine sekundäre Kontrollorientierung. Primäre Kontrolle ist ein Versuch, die gegebenen Realitäten so zu verändern und zu beeinflussen, dass sie mit den eigenen Zielen und Wünschen übereinstimmen. Sekundäre Kontrolle ist der Versuch, eigene Ziele und Wünsche den gegebenen Bedingungen anzupassen.

Bei primärer Kontrolle werden die Umweltgegebenheiten durch persönliche Aktivität, Dominanz und andere Einflussversuche geändert. Bei sekundärer Kontrolle werden hingegen eigene Ziele geändert; Individualität und Autonomie werden den Gegebenheiten der Umwelt untergeordnet. Bei Kulturen mit hoher Bewertung von Autonomie und Individualität lässt sich eher eine primäre Kontrolle und bei gruppen- und sozialorientierten Kulturen, die mehr Wert auf Gruppenharmonie und Anpassung an Gruppenziele legen, eher die sekundäre Kontrolle beobachten. Es ist davon auszugehen, dass bei türkischstämmigen Jugendlichen und Familien die sekundäre Kontrolle eine entscheidende Rolle spielt, weil die Erziehung der Kinder in der Regel im sozialen Umfeld der Familie und Peergroup erfolgt, und diese Rollen auf die Erlernung sozialer Rollen ausgerichtet ist: Übernahme von Geschlechts- und Familienrollen, soziale Normen sowie Vermittlung von Autoritätsbeziehungen.

Bei türkischen Jugendlichen, die im Bereich der Gewaltdelikte auffallen und den Anti-Aggressions-Kurs besuchen, kann die oben geschilderte sekundäre Kontrolle explizit beobachtet werden. Die ausgeprägten Diskriminierungserfahrungen, die sie von ihrer Umwelt erfahren, das Nicht-verstanden-Werden von der älteren Herkunftsgeneration sowie von der gleichaltrigen deutschen Peergroup führen dazu, dass viele türkische Jugendliche entweder untereinander bleiben oder sich an multikulturelle Gruppen anschließen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Enge Freundschaften werden mit deutschen Jugendlichen in der Regel nicht geschlossen. Türkische Jugendliche werfen deutschen Jugendlichen Egoismus sowie Individualismus und Ich-Bezogenheit vor. Diese Eigenschaften sind bei türkischen Jugendlichen wenig ausgeprägt und haben bei ihnen keinen großen Stellenwert. Türkische Jugendliche sagen, dass sie sich auf die deutschen Jugendlichen nicht verlassen können. Die würden sie im Ernstfall, wie z.B. bei der Polizei, im Stich lassen und lediglich ihre eigenen Interessen erfolgen.

Darüber hinaus haben die Migrantenjugendlichen türkischer Herkunft eine eigene Sprachkultur entwickelt, die sie als "Mischmasch" - Hin-und-her-Wandern zwischen deutscher und türkischer Sprache - bezeichnen und verkehren vorzugsweise mit solchen Jugendlichen, die diesen "Mischmasch" ebenso sprechen.

Das alles zeigt, dass der Zusammenhalt in der Gruppe und unter Freunden eine große und ganz zentrale Rolle spielt und dem Begriff der Freundschaft eine entscheidende Bedeutung zugesprochen wird. Für den Freund wird alles getan: es wird geteilt, was man hat, wie z.B. Geld, Essen, Kleidung. Massenschlägereien kommen deshalb zu Stande, weil der Freund nicht allein gelassen werden darf. Der Wert der Freundschaft spielt auch in der Gruppendynamik eine zentrale Rolle. Aus einer Dreier-Gruppe kann ganz schnell eine Großgruppe werden, wenn diese drei Jugendlichen Freunde haben, die sich mit ihnen solidarisieren.

Inhalte eines Anti-Aggressions-Kurses

Um diese Jugendlichen aufzufangen und gezielt an den genannten Problemen zu arbeiten, wird in den Anti-Aggressions-Kursen mit dieser Zielgruppe das Thema "Migration" sehr stark bearbeitet.

Auch in der dritten und vierten Generation unterscheiden sich die männlichen Migranten türkischer Herkunft in einigen Aspekten von ihren deutschen Altersgenossen. Dies betrifft u.a. auch die Gründe für ihre Straffälligkeit. Interkulturelle Kenntnisse und Kompetenzen sind für Leiter von Anti-Aggressions-Trainings und andere Fachkräfte, die mit dieser Zielgruppe arbeiten, von großer Bedeutung. Präventionsmaßnahmen für Minderheiten werden in Zukunft noch seltener finanziert als bisher. Sie werden in die Maßnahmen der Regeldienste integriert. Dies kann nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn die pädagogischen Fachkräfte die sozialen, rechtlichen und kulturellen Bedingungen der Zielgruppe kennen und sich darauf einlassen.


Autor: Ahmet Toprak, Aktion Jugendschutz Bayern e.V.

[ Seitenanfang ]


Antiaggressions-
kurse

 

Das große Interesse an den von ihm durchgeführten Anti-Aggressionskursen (vgl. AiD 2/2000 und 4/2001) hat den Dipl.-Pädagogen und Anti-Aggressivitäts-Trainer Dr. Ahmet Toprak dazu bewogen, die Theorie und Praxis eines Antiaggressions-Kurses mit türkischstämmigen Jugendlichen in München unter dem Titel "Ich bin eigentlich nicht aggressiv!" zu veröffentlichen. Das im Herbst 2001 beim Lambertus-Verlag erschienene Buch geht der Frage nach, wie aggressiv jugendliche türkischer Herkunft wirklich sind. Agieren sie in alltäglichen Interaktionen aggressiver als andere Jugendliche oder prägen Vorurteile und Stereotypen das Bild dieser Jugendlichen? Toprak, der nicht nur im Referat Migration der Arbeiterwohlfahrt München für Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft zuständig ist, sondern auch als Lehrbeauftragter an der Katholischen Universität Eichstätt arbeitet und in der Weiter- und Fortbildung für soziale Fachkräfte mit interkulturellem Ansatz tätig ist, geht diesen Fragen auf den Grund. Ferner erläutert er, wie sich ein Anti-Aggressions-Kurs mit türkischen Jugendlichen gestaltet und was die Begriffe Ehre, Männlichkeit und Freundschaft für sie in Bezug auf Gewalttätigkeit bedeuten. Im Vorwort zu der Publikation schreibt Jens Weidner: "Es ist das Spannende des vorliegenden Buches und das Verdienst Ahmet Topraks, dass er mit Unsicherheiten im kulturellen Umgang aufräumt, wenn Begriffe wie Ehre, Männlichkeit und Freundschaft kultur- und betroffenenperspektivisch präzisiert werden. Dies tut er ehrlich und kritisch. Und diese ungeschminkte Sicht auf aggressiv agierende junge Türken kann sich der Autor politically correct leisten, weil er selbst Deutscher türkischer Abstammung ist, sich in beiden Kulturen zu Hause fühlt und somit kaum in den Verdacht eines ausländerfeindlichen Habitus geraten dürfte." Für Pädagogen, Sozialarbeiter und Psychologen ist dieses Buch sicherlich eine sehr hilfreiche Quelle, denn die Vielzahl der Interview-Originalzitate erlaubt einen schnellen Zugang in die "Denke" beziehungsweise - fachlich gesprochen - die "kognitiven Hypothesen" der aggressiven Kids. (esf)

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.