Integration in Deutschland 2/2005, 21.Jg., 15. Juni 2005

JUGENDLICHE

Auf der Seite der Verlierer?

Ursachen für abweichendes Verhalten

„Die Jugendlichen, mit denen wir es zu tun haben, fallen auf. Man sagt auch, »Sie sind auffällig«. Sie haben Kraft und wollen sie zeigen. Man sagt auch: »Sie sind gewaltbereit«. Sie haben Probleme. Man sagt auch: »Sie machen Probleme«. Sie werden ausgegrenzt. Man sagt auch: »Sie grenzen sich selber aus«. Meist stimmt beides.“ Trifft dieses Zitat[1] den Nagel auf den Kopf? Und gilt dies etwa in besonderer Weise für jugendliche Migranten? Wenn ja, warum?

Die Biografie Safers[2] steht stellvertretend für die vieler Migrantenjugendlicher: Safer, 17, ist arbeitslos. Er wurde in Nürnberg geboren. Seine Eltern stammen aus der Türkei und leben seit über 30 Jahren in dieser Stadt. Safer ist das jüngste Kind; seine Schwester ist 19 Jahre alt und flüchtete vor wenigen Monaten gegen den erbitterten Widerstand der Familie von zu Hause zu ihrem Freund. Der Vater besitzt eine kleine Werkstatt, die Mutter arbeitet in einer Fabrik. Seine Kindheit malt Safer in dunklen Farben. "Es gab nur Probleme". Safer musste oft mit ansehen, wie der Vater auf die Mutter einschlug. Die Sonderschule verließ er mit einem schlechten Zeugnis. Zahlreiche Bewerbungen für eine Stelle als Autolackierer blieben vergeblich. Nun verbringt er den ganzen Tag mit älteren Freunden, die er immer an der gleichen Stelle im Stadtteil treffen kann. Jugendliche wie Safer sind es, die in Deutschland das klassische Klischee von ausländischen Jugendlichen prägen: Sie gehen nicht zur Schule oder haben keine Arbeit. Sie hängen in der Stadt oder im Park rum, pöbeln Passanten an, sind gewaltbereit, haben eine geringe Frustrationstoleranz.

Schlechte Rahmenbedingungen führen zu Gewaltneigung

Doch trifft dieses Klischee zu? Inwiefern sind ausländische Jugendliche gewaltbereiter? Inwiefern ist ihr Lebensmittelpunkt eben nicht die Schule oder das Zuhause? Professor Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut in Niedersachsen (KFN) untersucht bereits seit mehreren Jahren die Gewaltneigung von jugendlichen Migranten und forscht nach deren Ursachen. Dazu führt das KFN seit 1998 Befragungen in Schulen durch. Ergebnis: Auf hundert türkische Jugendliche entfallen pro Jahr nach eigenen Angaben fast dreimal so viele Gewalttaten wie auf gleichaltrige Deutsche. Die Opferangaben hinsichtlich der ethnischen Zugehörigkeit der Täter bestätigen weitgehend diese Daten der selbstberichteten Delinquenz. Die Gründe hierfür?

Viele junge Ausländer und Aussiedler wachsen in Deutschland unter den Rahmenbedingungen sozialer Benachteiligung auf. Der Anstieg der Jugendgewalt ist laut Prof. Pfeiffer in hohem Maße durch wachsende soziale Gegensätze bedingt. "Die Lebenswelt der jungen Menschen wird immer mehr zu einer Winner-Loser-Kultur. Wer auf die Seite der enttäuschten Verlierer gerät, ist in Gefahr, seine Frustration in Gewalt umzusetzen...." Die Schülerbefragungen zeigen, dass zwei Belastungsfaktoren dabei erhebliche Bedeutung haben: zum einen die relative Armut, die daran gemessen wird, ob die Eltern arbeitslos sind; zum anderen schlechte Ausbildungsperspektiven der Jugendlichen, weil diese die Sonderschule, Hauptschule oder ein Berufsvorbereitungsjahr besuchen. Als privilegiert hingegen sind solche Jugendliche anzusehen, die nicht in relativer Armut leben und eine höhere Schule besuchen. Sozial stark benachteiligte Jugendliche sind drei- bis viermal so häufig Mehrfachtäter wie die privilegierten. Türkische Jugendliche sind zu 67 %, Jugendliche aus dem ehemaligen Jugoslawien und sonstige Ausländer zu 58 % zu den sehr Benachteiligten zu rechnen, hingegen nur 10 % bzw. 16 % zu den sehr Privilegierten. Im Gegensatz dazu: Junge einheimische Deutsche zählen zu 25 % zu den sehr Benachteiligten, 41 % zu den sehr Privilegierten.

Innerfamiliäre Gewalt

Darüber hinaus gibt es noch weitere Belastungsfaktoren. So gilt es als erwiesen, dass innerfamiliäre Gewalt prägenden Einfluss auf das Verhalten junger Menschen hat. Von den befragten Jugendlichen ist fast jeder fünfte Türke im Laufe des letzten Jahres misshandelt worden. Hingegen berichtet nur jeder 18. junge Deutsche von Misshandlungen durch seine Eltern. Darüber hinaus berichtet fast jeder dritte türkische Jugendliche und nur jeder elfte Deutsche, dass sich die Eltern untereinander schlagen. Anstelle von Liebe und Zuneigung erfahren viele ausländische Jugendliche Gewalt und Ablehnung. Geschlagene Kinder haben ein eineinhalb- bis dreimal höheres Risiko, selbst zu Gewalttätern zu werden als nicht geschlagene. Dies wird zusätzlich gesteigert, wenn die Jugendlichen Gewalt der Eltern untereinander beobachten. Da hierbei die Väter dominieren, entsteht für die männlichen Jugendlichen ein problematisches Rollenvorbild. Ein beachtlicher Teil türkischer Jugendlicher ist folglich stark durch ein traditionelles Männlichkeitskonzept geprägt, das sie in ihrer familiären und kulturellen Sozialisation erlernen und das ihre Gewaltbereitschaft deutlich erhöht. Die Vorherrschaft des Vaters, der den Gehorsam der Familienmitglieder notfalls mit Gewalt einfordern darf, wird in Deutschland zum Ausgangspunkt dafür, dass die Söhne in ihrer neuen Heimat in massive Gewaltkonflikte geraten.

Gewalterfahrungen in der Familie wirken sich negativ auf das Selbstwertgefühl der Jugendlichen aus. Die schulischen Leistungen der Betroffenen sinken. Die Fähigkeit der Jugendlichen, in Konflikten konstruktiv zu reagieren, verringert sich deutlich. Alles in allem ein Teufelskreis.

Darüber hinaus hängt die Gewaltneigung auch davon ab, inwieweit die Jugendlichen sich ausgegrenzt fühlen. Jene, die wenig erlebte Feindschaft artikulieren, sind zumeist auch schulisch gut integriert und wenig "auffällig". Insgesamt gibt es einen eindeutig statistischen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Bedingungen, Bildungschancen, sozialer Integration und Delinquenz.

Halt in der Clique

Wo suchen die Jugendlichen Halt? Im positiven Fall treffen sich die Jugendlichen in Jugendtreffs. Ein Ort, wo sie sich ungezwungen treffen können. Viele kommen, um im Internet zu surfen. An pädagogischen Betreuungsangeboten sind sie eher nicht interessiert. Es geht darum, "gemeinsam abzuhängen". Sie bleiben in der Regel unter sich. Wenn ein Jugendtreff von ausländischen Jugendlichen stark besucht wird, bleiben einheimische eher fern. Man geht sich aus dem Weg. Sie grenzen sich aus? Sie werden ausgegrenzt?

Im negativeren Fall - wie bei Safer - ist der Treffpunkt die Straße. Dort treten die Jugendlichen bevorzugt in Gruppen auf. "Wir wissen, dass die Clique für Jugendliche eine Bedeutung hat, die weit vor der Bedeutung von Schule, Familie oder anderen Sozialisationsinstanzen rangiert," sagt die Geschäftsführerin des Vereins Gangway. Auf Deutsche wirkt das Auftreten der Jugendlichen oftmals bedrohlich. Dass diese Jugendlichen es jedoch sind, deren Hilferuf aufgrund mangelnder Integration, Gewalterfahrungen in der Familie und schlechter Zukunftsperspektiven am lautesten ist, wollen viele nicht wahrhaben. Umso wichtiger ist es, den Zugang zu diesen Jugendliche zu finden: "Das Vertrauen von Jugendlichen zu bekommen, die von der Erwachsenenwelt enttäuscht sind, die ausgegrenzt werden oder sich selbst ausgrenzen, die manchmal kaum noch beziehungsfähig sind, die Gewalt erlebt haben und die selbst Gewalt als kostengünstiges, einfaches und ständig verfügbares Kommunikations- und Machtmittel einsetzen, ist alles andere als einfach, aber es ist möglich," sagen die Streetworker von Gangway.


Quellen: www.gangway.de [1]; Permien, Zink: Endstation Straße? Straßenkarrieren aus der Sicht von Jugendlichen, München 1998 [2]; C. Pfeiffer, P. Wetzels: Junge Türken als Täter und Opfer von Gewalt

Autorin: Vanessa Franz, isoplan

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