Integration in Deutschland
2/2005, 21.Jg., 15. Juni 2005
STADTPORTRAIT |
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*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht! |
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MarseilleDie Stadt der anderen
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„Marseille ist kleiner als erwartet. Kein Getümmel in engen Gassen, keine fidelen Arbeiter, die durch die Gassen ziehen und aussehen wie räudige Zidanes, kein arabischer Basar und keine verrauchten Seemannskneipen“, schrieb der Schriftsteller Sven Lager 2004, die vermeintliche Kriminalität in seiner selbstironischen Auflistung enttäuschter Erwartungen vergessend. Auch die französischen Medien haben sich zuletzt über die außergewöhnliche Ruhe in Marseille gewundert: Zu Silvester keine angezündeten Autos in den Vorstädten, wie in Straßburg, keine Krawalle wie in den „Banlieues“ von Paris oder Lyon. Das entspricht nicht dem Klischee der Hafenstadt. Leben die arabischen und anderen afrikanischen Einwanderer hier nicht in ähnlich beklagenswerter Ausgrenzung am Stadtrand oder in stark sanierungsbedürftigen Altstadthäusern? Fallen die rassistischen Parolen der Front National (FN) hier nicht auf fruchtbaren Boden? Könnte es sein, fragte der Wissenschaftler Patrick Parodi 2002, dass einerseits das französische Modell der Integration gescheitert ist, andererseits ausgerechnet das übel beleumundete Marseille hier die Ausnahme bildet? Die drittgrößte europäische Hafenstadt besetzt in der französischen Psyche einen ähnlichen Platz wie Liverpool in der britischen: Ein Hafen, errichtet und ausgebaut in vielen Zuwanderungswellen. 600 v.Chr. kamen Griechen und fanden einen idealen Siedlungsort. Nach der Legende kam es zur Hochzeit zwiischen der Königstochter des Stammes der Saluvier und dem Anführer der Griechen. So entstand Massalia, das Haus („Mas“) der Saluvier. Das Fremde war der Stadt also von Anfang an eigentümlich – wie die berühmte Fischsuppe Bouillabaisse, die mit der Vielfalt ihrer Zutaten fast ein Symbol der Stadt sein könnte: ein echter „melting pot“. Der Hafen und die Einwanderung sind seitdem grundlegend für die Identität der Stadt geblieben. Transit-ZentrumNach den Griechen kamen vor allem
landflüchtige Bauern, Korsen und Italiener. Bis vor 50 Jahren waren bis zu
40 % der Bewohner italienischer Abstammung. Dazu kamen im 1. Weltkrieg die
ersten Flüchtlinge, u.a. Armenier aus der Türkei. Dann wurde Marseille
zwei Mal zu einem Transitzentrum großer Fluchtbewegungen. Zunächst kamen
1939/40 – wie Anna Seghers in ihrem Roman „Transit“ eindrücklich
schildert – Flüchtlinge aus Deutschland, später aus den faschistischen
Regime in Spanien oder Italien. Während der Entkolonisierung wanderten dann
Maghrebiner, Schwarzafrikaner und Indochinaflüchtlinge ein. Von 1954 bis
zur algerischen Unabhängigkeit 1962 kamen jährlich zum Teil
Hunderttausende über Marseille nach Frankreich. Insgesamt 1,5 Millionen
repatriierte Franzosen („Pieds Noirs“) und Algerier mit französischem
Pass mussten durch den Hafen und Aufnahmeeinrichtungen geschleust werden.
120.000 blieben mangels Alternativen im Umfeld des Hafens, lebten zum Teil
in Wellblechsiedlungen. Der Schock der Entkolonisierung traf die Stadt
insofern doppelt, als auch der Handel stark beeinträchtigt wurde. Die
Vielfalt der Bevölkerung ist ein Reflex auf diesen einmaligen
Bevölkerungszuwachs und die folgende Phase der Arbeitsmigration. Gemäß dem französischen Assimilations-Dogma gibt es keine ethnischen oder kulturellen Minderheiten. Die Eingliederung soll ein individueller Vorgang sein, ein Vertrag zwischen dem Einwanderer und der „Nation“. Der Neubürger respektiert die Werte der Republik, während diese sich für den sozialen Aufstieg zumindest seiner Kinder einsetzt. Im Bereich Arbeit und Bildung scheint dies zu gelingen, im Bereich Familie und Wertesystem zumindest im Ansatz, im Bereich Wohnen gibt es jedoch große Probleme. In den 1960er Jahren wurden überall in Frankreich große „cités HLM“ gebaut, Hochhaussiedlungen mit gutem Wohnstandard. Doch kam es in den 1970er Jahren zur Krise: Wer es sich leisten konnte, verließ die cités. Zurück blieben – wie in einer „Falle“ - vor allem arme und arbeitslose Familien, darunter viele maghrebinische und schwarzafrikanische. Auch in Marseille und hier besonders im Norden, wo die HLM in Bezirken gebaut worden waren, in denen schon hafennahe Industrie dominierte. Hier war der immense Protestschrei einer ganzen Generation 1983 erstmals zu hören, als sich der historische „Marsch der Beurs“ formierte: 50 Jugendliche aus Marseille, deren Eltern aus dem Maghreb gekommen waren, machten sich auf den Weg nach Paris, um Mitterrand zu zeigen, dass sie existierten und nicht nur Schattenexistenzen führen wie ihre Eltern. Fast 100.000 friedliche Jugendliche - nach dem Vorbild von Martin Luther King – erreichten schließlich die Hauptstadt. Viele von ihnen identifizieren sich stärker mit ihren Wohnvierteln als mit der Herkunft ihrer Eltern. Man sagt auch nicht, dass man aus der „Banlieue“ kommt. Es gibt nicht diesen Kontrast zwischen Innenstadt und Stadtrand. Die Innenstadt geht über in einen Flickenteppich aus HLM und dörflich gebliebenen Quartieren. Als Bewohner einer cité sagt man, man komme aus den „quartiers nord“, den nördlichen Vierteln. Sozial aufgestiegene Bewohner der Einfamilienhäuser sagen das nicht, selbst wenn sie im Norden leben. Sie fühlen sich eher dem reichen Süden mit seinen Stränden zugehörig. Die von den Jugendlichen frequentierten Orte sind jedoch die gleichen, egal welcher Herkunft sie sind. Sie treffen sich in den gleichen Cafés und Diskos, während anderswo – von Paris bis Bordeaux - Migrantenjugendliche und Einheimische ihre Freizeit niemals an den gleichen Orten verbringen. Dies ist, so Parodi in seiner Analyse, ein Charakteristikum von Marseille. Auch die Innenstadt wird nicht durch eine soziale Schicht dominiert. Hier ist eine Lokalkultur entstanden, in der es, anders als sonst in Frankreich, möglich wurde, dass Vertreter kultureller oder ethnischer Gruppen in lokalpolitischen und wirtschaftlichen Fragen intervenieren. So gibt es enge Beziehungen zwischen asiatischen und afrikanischen Communities. Die Asiaten beschäftigen viele afrikanische Arbeiter und Hilfskräfte im informellen Sektor rund um den Handel mit Afrika. Den Afrikanern – auch vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossenen jungen Maghrebinern – ermöglichen diese Jobs einen gewissen sozialen Aufstieg. So wird der soziale Friede gewahrt. Auch in der von einem starken Klientelsystem geprägten städtischen Politik werden die Gruppen anerkannt. Ihre Vertreter sind volksnah und können bei Spannungen schnell reagieren. Das System funktioniert auf der Basis religiöser Zugehörigkeit. 1990 wurde vom Bürgermeister - in Reaktion auf das Erstarken der FN – unter dem Namen „Marseille – Espérance“ ein entsprechendes Gremium gebildet. Es ist kein Ort des interreligiösen, sondern des laizistischen Dialogs aller religiöser Gruppen. Weil alle beteiligt sind, können hier in einer Politik der kleinen Schritte Probleme gelöst werden, wie sie durch die Krimis von Jean-Claude Izzo bekannt sind: strukturelle Arbeitslosigkeit, Gewalt, Kriminalität und Rassismus. Es scheint, als ob das Marseiller Modell erfolgreich sei. Die Pluralität der Gruppen, die sich gegenüberstehen und ergänzen, wird hier anerkannt. Individuen werden in ihrer Vielfalt akzeptiert und können dieser Ausdruck verleihen, hebt Parodi hervor. Cesari, Moreau und Schleyer-Lindemann bekräftigen in einer weiteren Studie von 2001, dass die Kraft von Marseille darin liege, einen stark integrativen lokalen Rahmen innerhalb eines eher assimilierenden nationalen Kontextes erschaffen zu haben. Diese Kraft liegt freilich in der Geschichte und Mentalität der Bewohner begründet – etwas, das sich anderswo nicht so leicht kopieren lässt. |
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Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan Literatur zu Migranten in Marseille
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Le Panier, Belsunce und andere MigrantenviertelMarseille ist die drittgrößte Stadt Frankreichs und mit über 950.000 Einwohnern eine Metropole am Mittelmeer. In Frankreich nennt man Marseille auch „la deuxième ville", nach Paris also die wichtigste Stadt des Landes. Die Stadt ist jedoch nicht nur kulturelles und wissenschaftliches Zentrum Südfrankreichs, sondern auch einer der wichtigsten europäischen Erdölhäfen und einer der bedeutendsten französischen Industriestandorte. Dennoch ist Marseille eine verkannte Schönheit. |
Wohl kaum ein Schriftsteller hat Marseille so liebevoll und zugleich schonungslos beschrieben, wie Jean-Claude Izzo in seiner Mitte der 1990er-Jahre entstandenen Krimitrilogie, die im Mai 2005 als Verfilmung mit Alain Delon in der Hauptrolle im ZDF gezeigt wurde. Le Panier, Izzos Viertel, Altstadt an der Nordseite des alten Hafens, einst eigentlich ein korsisches Viertel mitten in Marseille. Im 19. Jahrhundert galt es als Schande, hier zu wohnen, läßt Izzo im ersten Roman seinen Helden Fabio Montale sagen: „Das Viertel de Seeleute und Huren. Das Krebsgeschwür der Stadt. Das große Bordell.“ Sein italienischer Vater arbeitete hier als Kellner, seine spanische Mutter als Näherin. Hier lernte der Sohn seine Freunde kennen, deren späteres Schicksal im Hintergrund der - sich sehr realistisch, fast dokumentarisch, mit Ausgrenzung und Polizei-Rassismus gegenüber arabischstämmigen Jugendlichen sowie Verbechen aus Leidenschaft befassenden - Romane steht. Le Panier aber wurde 1943 von den Deutschen zum großen Teil gesprengt und evakuiert. Fast 25.000 Tote soll es gegeben haben. Auch schwarzafrikanischen Seeleute und Hafenarbeiter – die vor allem aus den Komoren stammten - lebten bis 1943 im Panier, zogen dann einige hundert Meter weiter in das Viertel Belsunce unterhalb des Bahnhofs, nach La Joliette und Saint Lazare. Sie lebten in „Hotels meublés“, stark sanierungsbedürftigen Pensionen mit günstigen Monatstarifen, die bis heute existieren, nun aber algerische oder tunesische Inhaber haben. Gelegen zwischen Hafen und Bahnhof ist Belsunce seit fast einem Jahrhundert ein Transitviertel, Wohnort für viele Menschen auf der Durchreise. In den frühen 1980er Jahren wurden die Schwarzafrikaner verdrängt von den Maghrebinern und zogen mit ihren Geschäften weiter südlich in die Umgebung der zentralen Prachtstraße Canebiere und in das nahe Noailles-Viertel. Während der nördliche Teil von Belsunce heute arabisch dominiert ist, wurde der Südteil saniert. Ein Großteil des ehemaligen „Petit Harlem africain“ wurde abgerissen, um Platz für den im April 2004 eingeweihten Bau der postmodernen Bibliothek „Alcazar“ zu schaffen. Doch in der kollektiven Erinnerung ist das Viertel noch nicht vergessen. Einerseits treffen sich die schwarzafrikanischen Seeleute und Hafenarbeiter hier noch heute vor den früher frequentierten Cafés und Bars, in denen sich heute Stoff- und Schuhgeschäte befinden. Andererseits interessieren sich Touristen für die Straßen rund um die Rue Thubaneau, spielt hier doch der Roman „Transit“ von Anna Seghers. Sie beschrieb, wie Flüchtlinge vor den Nationalsozialisten Ende der 1930er Jahre ein Leben zwischen Hoffen und Bangen führten. Wie in einem Alptraum war immer genau dann das Transitvisum für Spanien oder Gibraltar abgelaufen, wenn es einem endlich gelungen war, einen Fahrschein für eine Schiffsüberfahrt nach Amerika zu ergattern – und umgekehrt. Im Panier aber beginnt sich die Kulturschickeria aus Medienleuten und Dienstleistungsexperten anzusiedeln. „Euroméditerranée“ entsteht seit einigen Jahren nebenan, ein aus dem Hafenumbau hervorgehendes neues Areal – Symbol der EU-finanzierten Sanierung und „Europäisierung“ der ganzen Stadt. Eine Zukunft sah Jean-Claude Izzo zu Beginn der Arbeiten nicht: Marseille sei eine Stadt des Mittelmeers. „Und das Mittelmeer hat zwei Ufer. Nicht nur das unsere“. |
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Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan |
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Steigende Zuwanderung nach Frankreich |
Paris. Die legale Zuwanderung nach Frankreich ist im Zeitraum 1999 - 2002 um 36 % gestiegen, berichtete die Zeitung Le Figaro am 14. April 2004. Nach Zahlen der Direction de la population et des migrations (DPM) wurden 1999 noch 115.000 Zuwanderer registriert, 2002 waren es bereits 156.243. Der Anteil der EU-Bürger, der 1999 noch bei 27 % gelegen hat, sank diesen Angaben zufolge 2002 auf 20 %. Steigend ist vor allem die Zuwanderung aus Afrika, insbesondere den Maghreb-Staaten. Aus dem Maghreb kamen 2002 63 % der Neuankömmlinge. 2001 lag ihr Anteil noch bei gut 59 %. Insgesamt ist der Anteil der Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten in den vergangenen Jahren auf gut 50 % angestiegen. (esf) |
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