Integration in Deutschland 4/2005, 21.Jg., 15. Dezember 2005

FORSCHUNG


Können Einwanderer rechnen?

PISA 2003 - mehr Fragen als Antworten

Im Herbst 2005 ist der zweite PISA-Test - die große internationale Vergleichsstudie in 41 Ländern - Gegenstand der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Bereits der erste PISA-Test im Jahr 2000 hatte gezeigt, dass das deutsche Schulsystem bei der Förderung von Arbeiter-und Migrantenkindern erhebliche Defizite aufweist. Obwohl die Leistungen der 15-Jährigen drei Jahre später in Mathematik insgesamt deutlich besser ausgefallen sind, bestehen zwischen Angehörigen des oberen sozialen Viertels - dazu werden gutsituierte Akademiker und Führungskräfte gezählt - und ihren "Unterschicht"-Gleichaltrigen weit über 100 Punkte Unterschied in Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist, anders ausgedrückt, der Lernstoff von mehr als zwei Jahren. Wenn man beim Lesen die Kompetenzentwicklung teilweise dem Elternhaus zuschreiben kann, ist für diese Fächer eindeutig die Schule zuständig.

Die am 3.November veröffentlichte Studie des deutschen PISA-Konsortiums "PISA 2003. Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland - Was wissen und können Jugendliche?" zeigt unter anderem, wie sich der soziale Status und der Migrationshintergrund der Familie auf die Leistung auswirken. In den westlichen Bundesländern bilden 15-Jährige, bei denen mindestens ein Elternteil aus dem Ausland stammt, 17 bis 36 Prozent der Schülerschaft. In Ostdeutschland ist ihr Anteil so gering, dass PISA ihn außer Acht lässt. Nirgendwo erreicht diese Gruppe das Niveau der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Dabei gibt über die Hälfte der Migrantenkinder an, dass sie im Alltag überwiegend Deutsch sprechen. Zwar kommen die "deutschsprachigen" noch am besten mit den Aufgaben zurecht, aber der Unterschied zu den deutschen Jugendlichen bleibt und läßt sich nicht allein mit restlichen Sprachmängeln erklären.

Besonders signifikant ist, dass zugewanderte Neuntklässler bei PISA 2003 besser abgeschnitten haben als die in Deutschland geborene zweite Generation. Dafür bemühen die Forscher den Vergleich zwischen den Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion, die zu mehr als 40 Prozent Deutsch sprechen, und den Deutsch-Türken. Von denen sind fast drei Viertel in Deutschland geboren, aber weniger als ein Drittel spricht vorwiegend Deutsch. Die russlanddeutschen Quereinsteiger liegen zwar unter dem Landesdurchschnitt in Mathematik, aber nur knapp. Zusätzlich zieht das Konsortium die Testergebnisse in Problemlösen heran. Das Problemlösen ist kein Schulfach, zeigt jedoch, wie die Schüler Gelerntes alltagstauglich anwenden - und somit auf vorhandene Potenziale. Die Aussiedler erzielen in fast allen Ländern ziemlich gute Werte. Deshalb geben ihnen die Forscher eine relativ günstige Prognose.

Anders die Deutsch-Türken, die sich fast durchgängig auf den niedrigen Kompetenzstufen finden. Das bedeute, so die Forscher, eine so geringe Fertigkeit in Mathematik, dass die Chancen auf eine erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben sehr klein erschienen. In nur drei Bundesländern lägen ihre Fähigkeiten beim Problemlösen höher. Der alarmierende Zustand der türkischen Jugendlichen sei eine bedeutende gesellschaftliche Herausforderung, die mit pädagogischen Maßnahmen allein nicht zu bewältigen sei.

Einflussfaktor soziale Herkunft

Migrantenfamilien finden sich in Deutschland mehrheitlich unter den an- und ungelernten Arbeitern. Selbst Einwanderer, die im Herkunftsland einen höheren Schulabschluss erlangt haben, sind hier meist unterhalb ihrer Qualifikation beschäftigt. Auch unter den Arbeitslosen gibt es überproportional viele Migranten. PISA zeigt, dass der Status der Familie den Bildungsweg der Kinder stark beeinflusst. Derzeit sind abertausende Eltern von Viertklässlern in ganz Deutschland unterwegs, um Infoabende und Tage der offenen Tür zu besuchen. Manch eine begehrte weiterbildende Schule veranstaltet richtige Auswahlverfahren mit schriftlicher Bewerbung, Interview und Assessment Center. Für eingewanderte Eltern ist es ein Schock, festzustellen, dass schon die Zeugnisse der dritten Klasse ausschlaggebend für die Zukunft sind. Aus ihren Heimatländern kennen sie eine so frühe Selektion und oft auch das dreigliedrige System nicht. So vertrauen sie auf die Empfehlung der Lehrer. Grundsätzlich ist das nicht verkehrt, jedoch haben die Untersuchungen gezeigt, dass ein Professorenkind bis zu 7mal bessere Chancen hat, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen, als das Kind eines Arbeiters - bei gleicher Intelligenz. Auch setzen viele Pädagogen Migrant mit bildungsfern gleich, mangelnde Deutschkenntnisse mit mangelndem Lernvermögen, wollen - gut gemeint - die Kleinen vor Überforderung schützen. Besonders stark ausgeprägt ist die Chancenungleichheit in Bayern. Nirgendwo besuchen so wenig Arbeiter- und Migrantenkinder das Gymnasium und so viele die Hauptschule. Allerdings bringen die bayerischen Hauptschulen den Kindern im Vergleich zu den anderen Bundesländern am besten Lesen und Rechnen bei.

"Institutionelle Diskriminierung"

Experten reden von einer "institutionellen Diskriminierung", die schon in der Grundschulzeit mit häufigem Zurückstellen und Verweis auf die Sonderschule anfängt. Später findet sie ihren Ausdruck in der sehr ungleichen Verteilung auf die Schularten und der geringen Zahl der Abiturienten. Problematisch sind jedoch nicht durch die Bank alle Migrantenkinder, sondern vor allem die türkischer und italienischer Herkunft. Spanische und griechische Schüler haben sogar bessere Abschlüsse als der deutsche Durchschnitt. Auch diese Unterschiede werden an der Lernatmosphäre im Elternhaus bzw. am Engagement der ethnischen Vereine festgemacht. PISA konnte jedenfalls keinen Beweis finden, dass die Konzentration von Zuwanderern bzw. die regionalen Migrantenkulturen die Bildungskarrieren generell beeinträchtigen. Die Daten untermauern dagegen den Einfluss der regionalen Arbeitslosigkeit bzw. des Anteils an Sozialhilfeempfängern. Der Anstieg dieser Quoten um nur je 1 Prozentpunkt geht mit Leistungsunterschieden von 6 PISA-Punkten und mehr einher. Tröstlich: Die Schulen selbst haben durchaus Handlungsspielräume, mit einem schwierigen Umfeld ("belastete Schulen") trotzdem erfolgreich umzugehen. PISA unterscheidet zwischen aktiven und passiven Schulen: Aktive Schulen setzen auf Kooperation im Lehrerkollegium, auf Information und Zusammenarbeit mit den Eltern. Sie wenden regelmäßige Tests und Eigenevaluationen an - andere Schulen, die passiven, verzichten darauf. PISA weist nach, dass davon der Lernerfolg der Schüler ganz wesentlich abhängt. Es kommt also entscheidend auf das Engagement der Schulleitung und der Lehrer an - und auf die Bereitschaft, sich auf die Veränderungen im Umfeld der Schule einzustellen.


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

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Weitere Studien

 

Mehrere Untersuchungen versuchen in der letzten Zeit eine Wissenslücke zu schließen: Wie haben Migranten und ihre Familien die deutsche Schule erlebt? Zwei Kölner Doktorandinnen, Lisa Britz und Schahrzad Farrokhzad, interviewten solche Leute, die es aus heutiger Sicht "geschafft" haben. Britz beschäftigt sich mit jungen Frauen und Männern türkischer Herkunft, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Farrokhzad befragt Akademikerinnen, die aus der Türkei oder aus dem Iran stammen. Die Schule nehmen die Befragten meist als gottgegeben hin, so Britz: Sie ist wie sie ist, man kann sie nicht ändern und man kennt es auch nicht anders. Stattdessen gaben sie sich selbst die Schuld, zogen sich mehr und mehr zurück und fühlten sich als Versager. Oder sie meinten, einzelne "ausländerfeindliche" Lehrer hätten es auf sie abgesehen. Die eigenen Erfolge führten sie nicht auf die erbrachten Leistungen zurück, sondern darauf, die Laune des Prüfers richtig eingeschätzt oder sich schlau durchgemogelt zu haben. Oft heißt es einfach: "Glück gehabt".

Von sehr viel Glück sprechen auch die Akademikerinnen. In diesem Falle geht es um positive "Schlüsselfiguren", die sich im entscheidenden Moment für sie einsetzten. Mal ist es der ältere Bruder, der das Landesministerium überzeugt, das iranische Schulzeugnis seiner Schwester besser einzustufen. Mal ist es eine Sozialarbeiterin, die den türkischen Eltern empfiehlt, die Tochter auf die Gesamt- statt auf die Hauptschule zu schicken. Mal sind es engagierte Lehrer, die den Mädchen privat kostenlosen Deutschunterricht erteilen und gegen Mobbing durch Mitschüler in Schutz nehmen. Für die hochgesteckten Ziele mußten die Frauen auch mehrfachen Schulwechsel und andere Opfer auf sich nehmen. Eine der Interviewpartnerinnen Farrokhzads hat vier Jahre lang auf jegliche Freizeit verzichtet, um ihren Abschluß nachzumachen. Nach einem achtstündigen Arbeitstag ging sie auf das Abendgymnasium. Die Einwandererkinder von heute vergleicht Prof. Martina Weber von der Uni Flensburg mit den Frauen von früher, als sie zum ersten Mal nach Beruf und Karriere strebten. Das "katholische Mädchen vom Lande" hätte es vor einigen Jahrzehnten auch nicht leicht gehabt.

Um die Schule herum ist mittlerweile eine unüberschaubare Landschaft aus Unterstützungsprojekten gewachsen, die jedoch durch kurze Laufzeiten, knappe Budgets, schwierige Personalsituation und wechselnde Geldgeber gekennzeichnet sind, die durch immer neue Konzepte überzeugt werden müssen. Ohne diese Sondermaßnahmen wäre die Lage vermutlich noch schlimmer, aber sie können nicht das größte Manko des Bildungssystems ausgleichen: die Unfähigkeit, auf Kinder im Normalunterricht individuell einzugehen. Die Länder hätten sich in Folge von PISA 2003 bereits auf gemeinsame Vorhaben geeinigt, teilte die Kultusministerkonferenz (KMK) im November mit. Der Unterricht in Lesen, Geometrie und Stochastik soll besser werden. Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwierigen Verhältnissen sollen frühzeitig und gezielt unterstützt und die Lehrer für den Umgang mit Vielfalt und die individuelle Förderung ausgebildet werden. (mjd)

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