Integration in Deutschland 4/2005, 21.Jg., 15. Dezember 2005

VORSCHULISCHE ERZIEHUNG

*) Dieser Beitrag wurde im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Das Sprachverhalten von Migrantenkindern

"Sismik" hilft bei der Förderung

"Sprachkompetenz ist eine der wichtigsten Grundlagen für die Schul- und Bildungschancen von Kindern - das haben viele Studien gezeigt", sagt Frau Dr. Michaela Ulich vom bayerischen Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP). Sogenannte Sprachstandserhebungen - Sprachtests schon ab dem Vorschulalter - sind in Politik und Fachwelt zurzeit in aller Munde. Die Münchener Wissenschaftlerin dagegen hat 2000-2002 mit Toni Mayr, ebenfalls vom IFP, einen Fragebogen entwickelt zur systematischen Beobachtung und Dokumentation des Sprachverhaltens von Migrantenkindern über einen längeren Zeitraum: "Sismik" wird mit gutem Erfolg angewandt.

Schon der Name des Bogens soll zeigen, wie vielschichtig Sprachstandserfassung und Sprachlernprozesse sind. "Sismik" steht für "Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen". Wenn sich ein Kind für Sprache und sprachbezogene Aktivitäten (z. B. Bilderbuchbetrachtung) interessiere und aktiv mitmache, dann habe es mehr Lernchancen und sprachbezogene Erfahrungen, meint Ulich. Der Bogen, den ErzieherInnen ausfüllen können, ist für Kinder von dreieinhalb Jahren bis zum Schuleintritt geeignet und ermöglicht so eine früh einsetzende, prozessorientierte Erfassung der Sprachkompetenz bis hin zum Übergang in die Schule. Der strukturierte Bogen mit festem Fragen- und Antwortraster wurde in einer bundesweiten Stichprobe erprobt. Vorrangiges Ziel ist es, ein differenziertes Bild der normalen Sprachentwicklung und sprachlichen Bildung des Kindes zu gewinnen. Das Verfahren zielt nicht primär auf eine Diagnostik von Sprachstörungen, sensibilisiert aber für negative Entwicklungstrends oder -risiken.

Sismik erfasst verschiedene Dimensionen von Sprache. Neben Sprachkompetenz im engeren Sinne (Satzbau, Grammatik usw.) zielt der Bogen auch auf den in Deutschland bisher vernachlässigten Bereich der Entwicklung von sogenannter "Literacy". "Das sind kindliche Interessen und Kompetenzen rund um Buch-, Erzähl-, Reim-, und Schriftkultur", erklärt Ulich, "diese gehören auch im Vorschulalter ganz wesentlich zur Sprachentwicklung". Und schließlich öffnet der Bogen auch ein Fenster zur Familiensprache und zum familiären Hintergrund des Kindes. Zum Beispiel müssen ErzieherInnen beurteilen, ob sich ein Kind vor allem bei anderen Kindern derselben Familiensprache aufhält, ob es bei Gesprächen in der Familiensprache zuhört oder sich aktiv an ihnen beteiligt. "Die verschiedenen Bereiche setzten sich zu einem Gesamtbild zusammen", erklärt Ulich und meint weiter: "Die Beobachtung bezieht sich direkt auf sprachförderliche Situationen. So bekommen ErzieherInnen im Gegensatz zu reinen Sprachstandstests sogleich konkrete Anhaltspunkte dafür, in welchem Bereich ein Kind innerhalb der Einrichtung besonders gefördert werden sollte". Sprachförderung kann so schon in diesem frühen Alter greifen.

Das kann auch Paula Zintl bestätigen. Sie ist eine von 50 interkulturellen ErzieherInnen der Stadt München und war schon bei der Erprobungsphase von Sismik dabei. "Nach der Beobachtung könnte man beispielsweise folgendes merken: Das Kind ist im Kontakt mit anderen Kindern offen, hat aber noch Probleme im Umgang mit Erwachsenen. Dann kann man es in diesem Bereich gleich besonders fördern, unter anderem durch Gespräche in Kleingruppen". Mit einer Kollegin zusammen habe sie nur zum Ausfüllen des Bogens pro Kind eine halbe Stunde gebraucht. "Vorher hatten wir das Kind schon beobachtet und uns Notizen gemacht", ergänzt die Erzieherin. Zwar müsse man anfangs etwas mehr Zeit für Sismik einplanen, werde mit entsprechender Übung aber immer schneller.

Mittlerweile wird der im Herder Verlag erschienene Bogen z.T. in den neuen Bildungsplänen verschiedener Bundesländer "offiziell" empfohlen (u.a. Bayern, Rheinland Pfalz, Berlin, Schleswig-Holstein). Auch in München wurde allen städtischen Kindergärten vom Träger ein Set zur Verfügung gestellt und entsprechende Fortbildungen angeboten. Paula Zintl und ihre Kolleginnen haben 2004/05 bei den Migrantenkindern, die ihr letztes Jahr im Kindergarten verbrachten, dreimal eine Beobachtung durchgeführt. Besonders gefällt Zintl, dass bei dem Bogen auch die Familiensprachen einen Platz haben.


Autorin: Gabriele Höfling, isoplan

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Sprachstands-
tests

 

Verbindliche Sprachstandstests als Bedingung für den Besuch der Grundschule haben viele Bundesländer eingeführt, darunter Hessen und Berlin. Solche Verfahren allein hält Michaela Ulich jedoch nicht immer für ausreichend, um herauszufinden, wie gut Migrantenkinder im Vorschulalter die deutsche Sprache schon beherrschen. "Erstens handelt es sich bei Tests um Momentaufnahmen, die sehr abhängig sind von der Motivation und auch der Tagesform des Kindes", meint sie. Auch seien einige Tests auf dem Markt, die wissenschaftlichen Gütekriterien nicht genügten oder die für einsprachige deutsche Kinder entwickelt wurden. Ihrer Meinung nach ist es aussagekräftiger, die Kinder anstelle oder ergänzend zu einem Test über längere Zeit in ihren Alltagssituationen systematisch zu beobachten. "Sprachtests sind für diese Zielgruppe (mehrsprachig aufwachsende Kinder) oft wenig aussagekräftig und zuverlässig", erklärt sie (gh).

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"Sprachen und Codes"

 

Michaela Ulich, Wissenschaftlerin am bayerischen Staatsinstitut für Frühpädagogik, zur Situation von Migrantenkindern im Vorschulbereich:

AiD: Wie hoch ist der Anteil von Migrantenkindern in vorschulischen Bildungseinrichtungen?

Michaela Ulich: Der Anteil schwankt in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren sehr stark. In einigen Bundesländern wie NRW ist er höher als beispielsweise in Bayern, in Ballungsgebieten und Großstädten leben viel mehr Migranten als in ländlichen Gebieten. In einzelnen Einrichtungen gibt es sogar 80 % oder mehr Migrantenkinder. Der Migrantenanteil kann auch vom Träger der Kindertagesstätte abhängen (so sind in kommunalen Einrichtungen häufig mehr Migrantenkinder als z. B. in katholischen Einrichtungen). Ein weiterer Faktor sind die Öffnungszeiten der Einrichtung. Ist eine Kita nur halbtags geöffnet, werden sie weniger Migrantenkinder besuchen, weil deren Eltern oft beide lange arbeiten.

Mit welchen Problemen sind sie im vorschulischen Bereich konfrontiert?

Migrantenkinder haben am schwierigen Übergang von zu Hause in den Kindergarten als erste fremde Institution im Vergleich zu einheimischen Kindern oft noch eine zusätzliche Aufgabe zu bewältigen: Sie müssen lernen, mit einem neuen sprachlichen und kulturellen Umfeld klar zu kommen. Hinzu kommt, dass möglicherweise ihre Eltern nicht so vertraut mit der Institution Kindergarten sind. Aber wenn die Kinder es schaffen, mit den verschiedenen Sprachen und Codes zurechtzukommen, dann haben sie später einen viel weiteren Horizont. Und eine Zweitsprache gelernt zu haben, wirkt sich auch positiv auf den späteren Erwerb von Fremdsprachen aus.

Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Kinder, die sprachlich gefördert werden müssen?

Das hängt natürlich vom Maßstab ab. Wenn alle Kinder beim Eintritt in die Grundschule perfekt Deutsch können sollen, dann ist das ein sehr strenger Maßstab. Beim Zweitspracherwerb gibt es riesige Unterschiede zwischen Kindern, weit mehr als beim Erstspracherwerb. Dies kann verschiedene Gründe haben. Je höher das Niveau der Erstsprache ist, desto leichter fällt es einem Kind auch, Deutsch auf einem hohen Niveau zu lernen. Darüber hinaus spielt beim Erwerb der Zweitsprache auch die Motivation des Kindes eine große Rolle: wie ist sein Interesse an der deutschen Sprache, will es mit deutschen Kindern spielen, fühlt es sich wohl in der Kita? Hinzu kommt der Input: die Quantität und Qualität der sprachlichen Anregungen, die das Kind bekommt. Wie weit geben Eltern und ErzieherInnen dem Kind viele Gelegenheiten, sprachlich aktiv zu werden? Diese drei Faktoren (Sprachvermögen des Kindes, Motivation des Kindes bezogen auf die Zweitsprache Deutsch, sprachliche Anregung) beeinflussen sich gegenseitig und wirken zusammen.

Wo sehen Sie konkreten Förderbedarf?

Förderbedarf ist grundsätzlich bei jedem Kind im Vorschulalter vorhanden, ob Migrant oder nicht. Sprachförderung und interkulturelle Erziehung sollte nicht einseitig erfolgen, sondern sich auch an deutsche Kinder wenden. Bei Migrantenkindern ist natürlich die Sprache besonders wichtig. Dabei sollte sich der Blick nicht nur auf "Deutsch lernen" fixieren, sprachliche Anregungen in beiden Sprachen sind wichtig.

Im Vorschulbereich können wichtige Weichen für die spätere Entwicklung gestellt werden. Deswegen sollten hier auch mehr Ressourcen aufgewendet werden. Finnland zum Beispiel, das in der PISA-Studie so gut abgeschnitten hat, gibt für den Elementar- und Primarbereich viel mehr aus als für die Sekundarstufe 2. In Deutschland ist es genau umgekehrt.


Das Gespräch führte Gabriele Höfling.

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Muttersprach-
licher Unterricht

 

Hannover. In jüngerer Vergangenheit sind immer mehr Bundesländer dazu übergegangen, die Mittel für den muttersprachlichen Unterricht zu kürzen, zum Teil mit dem Ziel, diesen nach und nach abzuschaffen. Zuletzt geschah das im Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen, wo es heißt: "Die Muttersprache in Deutschland ist Deutsch". Betont wird der Wille, dass alle Kinder "am Tag der Einschulung über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen". Ferner heißt es: Der muttersprachliche Unterricht wird in dem Maße entbehrlich, in dem es gelingt, durch frühkindliche Förderung die Sprachkompetenz zu entwickeln". Diese Vorgehensweise verstößt nach Auffassung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie gegen die Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1977 über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern (77/486/EWG). In Ausgabe 2/05 des mehrsprachigen Informationsdienstes "Dialog" wird betont, dass das Erlernen einer Zweitsprache (Deutsch) leichter gelingt, wenn eine systematische Grundlage in den Kenntnissen einer Herkunftssprache vorliegt. "Aus einer gut beherrschten Muttersprache heraus ist das Erlernen einer Zweitsprache leichter und rascher vollziehbar" - wird aus einer Webseite des Bayerischen Kultusministeriums zitiert. (esf)

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Sprache und Migration

 

Auf den Themenschwerpunkt "Sprache und Migration" setzt Heft 26 der IMIS-Beiträge des Instituts für Migrationsforschung und inzterkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Insgesamt sechs Einzelabhandlungen thematisieren Sprache aus Perspektive der Migrationsforschung und behandeln wichtige sprachwissenschaftliche Fragestellungen im Problemfeld von Migration und Integration. Die Beiträge der Wissenschaftler sind dabei nicht auf Deutschland begrenzt, sondern stehen in einem globalen Kontext.

Untersucht werden etwa die Sprachpolitik in Australien, Sprachgruppen in der niederländischen Stadt Utrecht und dänische Erfahrungen mit dem Zweitspracherwerb aus einem studienvorbereitenden Programm für Zuwanderer. Der abschließende Beitrag des Herausgebers Utz Maas stellt die Frage, wie verschiedene Disziplinen der Migrationsforschung sprachliche Problemstellungen konzeptualisieren und worin der spezifische Beitrag der Sprachwissenschaften, wenn sie sich mehr als bisher für entsprechende Probleme engagieren würde, liegen könnte. Als eine anstehende Aufgabe sieht der Autor das Problem der Lehrer, mit einer Vielzahl von Sprachen umgehen zu müssen - ihnen sollte ein geeignetes Steuerungsinstrument in die Hand gegeben werden, um die Probleme, die Mehrsprachigkeit in den Klassen mit sich bringt, angehen zu können. Das fachlich interessante Buch ist leider in sehr trockenem Stil geschrieben. (jk)

IMIS-Beiträge können als pdf-Datei auf www.imis.uni-osnabrueck heruntergeladen werden oder sind kostenlos als Druckfassung zu bestellen unter der E-Mail-Adresse: imis@uni-osnabrueck.de

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