Integration in Deutschland 1/2006, 22.Jg., 31. März 2006

GESCHICHTE

*) Dieser Beitrag wurde im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Erinnerungskultur

„Was geht uns das an?“

Als eine Kroatin deutsche Staatsbürgerin wurde, haben ihre Freunde sie aufgezogen: „Jetzt musst du auch die ganze historische Schuld auf dich nehmen!“ „Was geht uns eure Geschichte an?“, ist die gängige Einstellung von Migranten, wenn es um die NS-Vergangenheit geht. Dafür fühlen sie sich nicht zuständig – und staunen, wenn sie eines schönen Tages im Ausland mit „Heil Hitler“ begrüßt werden, nur weil sie aus Deutschland kommen.

Wie unterrichtet man Geschichte in Klassen, die zur Hälfte aus Einwandererkindern bestehen? Nimmt Ayşe zwangsläufig die Perspektive der jüdischen Opfer ein, weil sie ebenfalls zu einer Minderheit gehört, während ihre deutsche Mitschülerin Svenja sich eher mit den Tätern bzw. Mitläufern identifiziert? Diese Fragen versuchte die Tagung „Erinnerung in der Einwanderungsgesellschaft“ der IDA NRW, des Landeszentrums für Zuwanderung sowie der Humanistischen Union und der Landeszentrale für politische Bildung zu beantworten.

Erziehungswissenschaftler der Uni Frankfurt haben Schulklassen im Unterricht und in Gedenkstätten beobachtet. Die Auseinandersetzung zwischen Ayşe und Svenja gab es in einer Geschichtsstunde tatsächlich, wobei die sonst schüchterne Ayşe heftig den Blickwinkel der jüdischen Zeitzeugin verteidigte. Dass ein Migrant mehr Einfühlungsvermögen für die Opfer zeigt, sei jedoch nicht immer gegeben, so Matthias Proske von der Uni Frankfurt, und eine Frage wie „Was denkst du als Migrantin über das Verhalten der Deutschen?“ wäre auch nicht angebracht. 

Die Vergangenheit wird von den Schülern gern genutzt, um Konflikte der Gegenwart zu schüren. Dann wirft die eine Gruppe der anderen vor: „Ihr seid alle Nazis!“. Diese kontert: „Schaut euch euren Genozid gegen die Armenier an!“ Die Jugendlichen wüssten genau, dass sie die moralisch aufgeladenen Begriffe provokativ einsetzen können, sagte Proske. Die Pädagogen ihrerseits trauten sich bei dem Thema nicht, aus dem fast ritualisierten Erinnerungsschema auszubrechen. Der Wissenschaftler empfiehlt, die Geschichte des Nationalsozialismus in die Geschichte der sonstigen Verbrechen gegen die Menschheit einzuordnen, wie die Vernichtung der Indianer bei der Eroberung Amerikas, den Sklavenhandel usw.

Die meisten Schüler meinten, die NS-Zeit sei ein rein deutsches Phänomen, beobachtete ein Berufsschullehrer: Für sie sei es überraschend zu erfahren, dass es in vielen europäischen Ländern Faschisten gab. In der Gedenkstätte Wannsee staunten die türkischstämmigen Jugendlichen immer, dass bei der Wannsee-Konferenz auch Zahlen über die Juden in der Türkei genannt wurden, erzählte eine Mitarbeiterin. „Was hat denn die Türkei hier zu suchen?“ wollten sie wissen. Wenn man sie dann über die historischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland aufklärte, fänden sie auch den Zugang zur deutschen Geschichte. Ein türkischstämmiger Historiker vom „Kölner Appell“ fängt die speziellen Gedenkstätten-Führungen für seine Landsleute immer damit an, dass deutsche Intellektuelle Asyl am Bosporus gefunden hätten. 

Ist nicht-ethnisierender Unterricht möglich? Der Gymnasiallehrer Kuno Rinke aus Troisdorf meint: ja. Als vor kurzem in Frankreich die Vororte brannten, ließ er seine Schüler die ausländische Presse zu den Ereignissen sichten. Diejenigen, die Zeitungen auf Türkisch oder Polnisch lesen konnten, meldeten sich freiwillig dazu. Jugendliche aus eingewanderten Familien führten die Kamera bei einem Filmprojekt mit Zeitzeugen der letzten Kriegstage und deutsche Jugendliche schrieben Reportagen über die Ausstellung „40 Jahre fremde Heimat“. „Der Vorschlag geht an alle, die Aufgaben werden nicht ethnisch sortiert“, sagt Rinke. „Wer Interesse hat, meldet sich“. Das sei nur in der heilen gymnasialen Welt möglich, beschwerten sich Kollegen aus anderen Schultypen. Außerdem waren sich die Pädagogen einig, dass ihnen inhaltlich die Hände gebunden sind: Die Lehrpläne seien sehr europa- bzw. deutschlandzentriert.


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

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Laschet fordert Migrations-
museum

 

Köln. Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Laschet hat am 9. Januar 2006 den Besuch der Ausstellung „Projekt Migration“, die vom Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiT) in Zusammenarbeit mit dem Kölnischen Kunstverein organisiert wurde, zum Anlass genommen, ein bundesweites Museum über die Migration in Deutschland zu fordern. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens einen Migrationshintergrund aufweise, sei es an der Zeit, den künftigen Generationen eine Dokumentation der Migrationsgeschichte zu hinterlassen, so Laschet. Der umfangreiche Katalog zur Ausstellung wurde kürzlich mit dem Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. (esf)

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Italiener berichten von der „Emigrazione“

 

Hunderttausende Italiener kamen in den Jahrzehnten nach dem deutsch-italienischen Anwerbeabkommen 1955 nach Deutschland. Die italienische Zeitung „Corriere d‘ Italia“ rief zum 40. Jahrestag der Vereinbarung 1995 ihre Leser dazu auf, ihre Ankunft zu beschreiben und die Texte einzusenden. Arbeiter schrieben, auch Kinder, die ihren Eltern gefolgt sind, sowie Rentner. Erst 2001 erschien auch eine deutsche Fassung dieser einmaligen Dokumente beim Lambertus Verlag. Unter dem Titel „Als ich nach Deutschland kam. Italiener berichten“ hat das deutsch-italienische Paar Mauro und Elke Montanari, einen exemplarischen Teil dieser Briefe auf 120 Seiten einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht. Sie erzählen von vielen guten Erfahrungen, aber auch von Demütigungen, Ablehnung und Geringschätzung. Sie berichten von beruflicher Förderung durch Betriebe und Betriebsräte, aber auch von Ausbeutung und unwürdiger Unterbringung. Die Menschen schildern sehr konkret, was es ihnen bedeutet, Heimat und Familie aus Not zu verlassen und dass die Hoffnung, einmal zurückzukehren, bei vielen noch immer wach ist. (esf)

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“Anellino” und “Francofortesi”

 

Ludwigshafen/Frankfurt a.M. Ein mit viel Liebe originalgetreu nachgebautes Zimmer einer “Gastarbeiter”-Unterkunft, Koffer, Dokumente, Fotos und Videos – so wurde "Anellino" im Stadtmuseum Ludwigshafen wieder lebendig. “Anellino”, so nennen viele Italiener noch heute die Stadt neben der Badischen Anilin- und Soda Fabrik (BASF). Eine Ausstellung zur Geschichte der italienischen Migranten in Ludwigshafen, die vom 15. Dezember 2005 bis zum 6. April 2006 im Stadtmuseum in Ludwigshafen zu sehen war, ließ die Anfangsjahre der Migration noch einmal lebendig werden. Organisiert hat sie – und ein umfangreiches Rahmenprogramm – Eleonore Hefner vom Verein “Kultur Rhein-Neckar" in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum. 

Anfang Februar 2006 wurde auch in Frankfurt/Main eine Ausstellung zur italienischen Migration eröffnet. Die Fotoausstellung „Francofortesi heute – Frankfurter oggi. Italienisch-deutsche Lebenswege“ in der Galerie Migration des Historischen Museums zeigt in Porträts des Fotografen Günter Klötzer und Interviews der Journalistin Paola Fabbri Lipsch zwölf exemplarische Lebensläufe italienischer Migranten. Die vielfältigen Lebenswege geben Anstöße zum Nachdenken und Nachfühlen, zeigen aber auch die Frische des italienischen Humors, ohne dabei Klischees zu bedienen. Die bis zum 30. April geöffnete Ausstellung kam aufgrund einer Idee des Coordinamento Donne Italiane zustande. (esf)

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"Grazie mille!"

Ist ein Leben ohne Espresso denkbar? Wo hätten sich Jugendliche in den letzten Jahrzehnten außerhalb von rustikalen Kneipen treffen können, gäbe es keine Eisdielen? Kann die deutsche Küche heute auf Knoblauch, Auberginen und Zucchini verzichten? Mit den Italienern kamen in den vergangenen 50 Jahren Pizza und Pasta, deutliche Gefühlsäußerungen ("schlecht wie Flasche leer") und la dolce vita, Latte Macchiato und Chianti, Vespa und Boccia et cetera. "Alles war gewöhnungsbedürftig. Erstaunlicherweise grenzten sich die Deutschen - langfristig - trotzdem nicht dagegen ab, vielmehr integrierten sie, was ihnen gefiel, in ihr Leben", schreibt Carola Rönneburg. Als der Herder Verlag fragte, ob die Berliner Journalistin Lust hätte, sich in Buchform dafür "endlich einmal ordentlich bei den Urhebern zu bedanken", willigte sie sofort ein. Pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens mit Italien im Dezember 2005 legte Rönneburg ein 160-seitiges Büchlein "Grazie mille! Wie die Italiener unser Leben verschönert haben" vor. In 30 sehr unkompliziert lesbaren und oft witzigen Kapiteln beschreiben sie und ein halbes Dutzend Co-Autoren die 115-jährige (!) Geschichte der Eisdielen nördlich der Alpen, die Leiden des jungen Teigfladens im Tiefkühlfach, Olivenölamateure und -profis, den Einfluss italienischen Schuh- und Möbeldesigns, wichtige Kapitel der deutsch-italienische Ferien- und Fußballfreundschaft, italienische Schulgründer in Wolfsburg und geben amüsante Lektionen in nonverbaler Kommunikation. Mit einem Preis von 6 Euro sagt auch der Verlag im Süden Deutschlands "Tausend Dank" für die bei weitem nicht nur kulinarische Horizonterweiterung des deutschen Lebens durch hunderttausende Arbeitsmigranten aus dem italienischen Süden. (esf)

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