Integration in Deutschland 1/2006, 22.Jg., 31. März 2006

ORIENTIERUNGSKURSE


Identifikation als Ziel

Suchen und Finden in Deutschland

„Erklären Sie einmal Deutschland in 30 Stunden – das ist doch die Quadratur des Kreises!“ Wer sich mit Kursleitern unterhält, bekommt diese Einschätzung regelmäßig zu hören. Um den 30-stündigen Orientierungskurs, mit dem der Integrationskurs des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abschließt, ist schon trefflich gestritten worden.

Zum einen, weil der Anspruch hoch erscheint, den ganzen, in den Empfehlungen des BAMF skizzierten Themenkatalog – Geschichte Deutschlands nach 1945, die Deutsche Einheit, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, Europa, staatsbürgerliche Rechte und Pflichten, Grundprinzipien des Alltagslebens und vieles mehr – in einen Kurs zu packen. Zum anderen, weil die Fachdiskussion über Fragen der Fremdsprachendidaktik überlagert wird durch den politischen Diskurs um Integration, in dem bestimmte Anforderungen an Funktion und Inhalte von Orientierungskursen formuliert werden. Eine doppelte Herausforderung also, der sich Lehrende und Lernende stellen müssen.

Auf der fachlichen Ebene ist das Thema dabei keineswegs neu: Letztlich geht es um Landeskunde im Unterricht Deutsch als Fremdsprache und die Frage, wie sie in diesem neuen, durch den Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen am besten umgesetzt werden kann. Viele Elemente von Landeskunde sind auch schon integraler Bestandteil des 600-stündigen Sprachkurses und finden sich in allen Lehrwerken wieder. Der Gedanke, dass Orientierung in Deutschland erst und ausschließlich in den dreißig eigens dafür reservierten Stunden am Ende des Kurses stattfinden würde, greift damit ohnehin zu kurz.

Welche sind also die Fragen, die sich durch die Einführung der Orientierungskurse tatsächlich neu stellen? Im Wesentlichen sind es viel-leicht diese drei: Wie kann sichergestellt werden, dass im Orientierungskurs ein professioneller Umgang mit der Didaktik der Landeskunde stattfindet, damit er mehr ist als eine reine Tatsachenvermittlung? Also im Kern die Frage nach geeigneten Lehrwerken und Qualifizierung der Lehrkräfte. Letzteres ist viel-leicht besonders wichtig, wenn man bedenkt, wie viel sich im Fach Deutsch als Fremdsprache in den letzten Jahren verändert hat und wie sich gerade die Landeskundeansätze ausdifferenziert haben: von der faktischen über die kommunikative bis zur interkulturellen Landeskunde. Auch der Kulturbegriff hat in Deutschland einen erheblichen Wandel erlebt, all dies muss sich auch im Landeskundeunterricht widerspiegeln. Zweitens: Wie können die Teilnehmer in kurzer Zeit befähigt werden, sich eigenständig in Deutschland zu orientieren und das zu vertiefen, was im Kurs nur angedeutet werden kann? Hier geht es also um die Vermittlung von Methodenkompetenz und einen emanzipatorischen Ansatz, der die Teilnehmer darin unterstützt, in Deutschland möglichst schnell „auf eigenen Füßen zu stehen“. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie neue Materialien mit regionalem Bezug, die derzeit von vielen kommunalen Stellen entwickelt werden - Begrüßungsmappen, Handbücher zur Orientierung in der Stadt, mehrsprachige Informationsbroschüren – in den Unterricht eingebaut werden können, und so ein Zusammenhang mit dem Wohnort und ein unmittelbarer Zugang zu Institutionen und Beratungsstellen vor Ort hergestellt wird. Und drittens: Wie kann die implizite Grundwertediskussion so versachlicht werden, dass das Ziel einer Identifikation mit Deutschland über eine konstruktive Auseinandersetzung und in gegenseitiger Wertschätzung erreicht wird?

Im „Jahre eins“ nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes und vor dem Hintergrund der ersten Erfahrungen aus bereits abgeschlossenen Kursen eröffnet sich also eine spannende Diskussion, die alle Kernfragen von Integration, aber auch von Selbstverständnis und Identität der Deutschen berührt. Sie bildet die Folie, vor deren Hintergrund das BAMF derzeit das Rahmencurriculum entwickelt und die Kursleiter täglich neu über die Gestaltung ihres Unterrichts entscheiden müssen.

Eine andere Diskussion, nämlich die, ob ein Orientierungskurs besser am Ende oder am Anfang des Sprachkurses stehen soll – in diesem Fall mit Dolmetschern bzw. muttersprachlichen Lehrkräften -, ist ja durch das Zuwanderungsgesetz faktisch entschieden. Dennoch lohnt sich hier ein Blick über die Grenze. So hat Frankreich das Modell des Orientierungstages in den Herkunftssprachen der Zuwanderer flächendeckend eingeführt (vgl. Artikel S.9). Die Erfahrungen dort sind im Prinzip gut – allerdings hat die Praxis gezeigt, dass diese Orientierungstage nur mit Mühe zustande kommen, weil es durch die Vielfalt der Herkunftssprachen zu aufwändig wird, alle Zielgruppen abzudecken. Was in Großstädten einigermaßen funktioniert, erweist sich in der „Provinz“ als kaum mehr praktikabel. Das Wünschenswerte ist, wie so oft, nicht unbedingt das Machbare.


Autorin: Veronika Kabis

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Deutschland in 30 Stunden

 

Neben der Förderung von Sprachkenntnissen ist die Vermittlung von Basiswissen über Politik, Geschichte und Kultur in Deutschland fester Bestandteil von Integrationskursen. Was sich in der Theorie recht einfach anhört, stellt Kursleiter in der Praxis vor Probleme: „Für viele gleicht der Aufbau des deutschen Rechtsstaats mit Exekutive und Legislative böhmischen Dörfern“, sagt Christine Müller vom Bayerischen Roten Kreuz (BRK). Bei anderen mangele es schon an marktwirtschaftlichem Basiswissen. „Ihnen fehlt das Grundverständnis dafür, dass sie sich mit einer Bewerbung um einen Arbeitsplatz selbst vermarkten sollen“, nennt sie ein anderes Beispiel. Wie soll man das in den vorgesehenen 30 Unterrichtseinheiten mit einem heterogenen, sprachlich oft nicht sehr fortgeschrittenen Kurspublikum bewältigen? Im Juni 2006 erscheint im Hueber Verlag ein Buch mit praxis- und teilnehmerorientiertem Kursmaterial, das von den Richtlinien des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ausgeht. Das 60-seitige Buch „Zur Orientierung - Deutschland in 30 Stunden“ ist von Ulrike Gaidosch und Christine Müller aus ihrer Praxiserfahrung beim BRK entwickelt worden. Es kostet mit eingelegter CD 7,95 Euro.

Auch die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg hat in den letzten zwei Jahren Unterrichtsmaterialien für den Einsatz in Orientierungs- und Sprachkursen entwickelt, in rund 160 Kursen erprobt und evaluiert. Diese Lernmodule sind nun erhältlich unter dem Titel „miteinander leben“. Die 16 Lernmodule vermitteln Informationen und Zusammenhänge zu gesellschaftlichen, politischen und geschichtlichen Themen auf „elementarisierende“ Art und Weise. Sie sind an der Lebenswelt von Migranten ausgerichtet und ermöglichen es den Kursleitern, flexibel auf die Interessen, das Lerntempo und die jeweilige Sprachkompetenz der Kursteilnehmer zu reagieren. Nähere Informationen finden sich unter http://www.i-punkt-projekt.de. (esf)

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